Sonntag, 1. August 2021

Vergehende Welten: Feldforschung in Braunkohlekulturen

Über Jahrhunderte haben sich die Menschen in der unwirtlichen Gegend den Umweltbedingungen angepasst.

Forschende des An-Institutes für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung untersuchen bedrohtes Kulturerbe. Mit Fördermitteln aus dem Braunkohletopf werden wissenschaftliche Projekte in Sachsen und in der abgelegenen Lausitz angeschoben. 

In Sachsen und in der abgelegenen Lausitz haben sich Menschen über Jahrhunderte an ihre Umwelt angepasst und ihre Lebensgrundlagen darauf ausgerichtet. Durch diese Koexistenz mit der Natur sind einzigartige Kulturlandschaften entstanden, die teilweise sogar von der Unesco als Welterbestätten gelistet sind. In zwei wissenschaftlichen Projekten untersuchen nun Forschende des An-Institutes für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung um den aus Borna stammenden Social Engineer Jens Plotze zusammen mit lokalen Institutionen, wie sich diese Landschaften besser schützen lassen. Der Energieausstiegsfond des Bundes fördert diese Vorhaben mit mehreren Millionen Euro. Gesucht wird vor allem nach neuen Strategien, die alten Strukturen auch unter neuen Umfeldumständen zu erhalten.

Der Mensch in Sachsen im Mittelpunkt

Ausgangspunkt, beschreibt Plotze, sei die Überlegung gewesen, dass der häufig missverstandene Mensch in Sachsen und insbesondere auch in der Lausitz im Lauf von vielen Jahrhunderten gelernt habe, wie er auch unwirtliche, trockene und felsige Umgebungen für sich nutzbar machen kann. Er errichtete Steinterrassen, um Feldbau betreiben zu können, schuf sich ausgeklügelte Bewässerungssysteme und er pflanzte schattenspendende Bäume. "Die vom Volk der Sachsen im Elbsandsteingebirge gehegten Wälder sind ein interessantes Beispiel dafür, wie Menschen und Natur in einem sich verändernden und herausfordernden Kontext koexistieren", erklärt der Forschungsleitende.

Lokale Veränderungen und die Zukunft der Kulturlandschaften in den Feldforschungsgebieten wollen er und seine Forschendenkolleg*Innen anhand von Vor-Ort-Untersuchungen dokumentieren. Besonderes Augenmerk legt der Wissenschaftler dabei auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen in den von der Unesco nicht gelisteten Kohlelandschaften. "In beiden Landschaften haben viele Generationen von Menschen gelebt, indigenes Wissen und Institutionen haben Schutz- und Erhaltungspraktiken für die Natur und die Lebensgrundlagen der Menschen ermöglicht", sagt der Leiter des Forschungsteams "Vergehende Welten - Zeitgenössische Fragen. Endemische Kulturen in Zeit und Raum". 

 Sterbende Landschaften

Die Forschenden sehen das Umfeld der Braunkohleförderstätten als sterbende Landschaften, die durch sozioökonomische, kulturelle, ökologische und politische Faktoren weiterhin geformt und verändert werden. Zentrale Frage des Forschungsprojektes ist, wie diese Veränderungen von den Ausstiegsanstrengungen und ihrem Bestreben, den Schutz von Kulturlandschaften von globaler Bedeutung zu unterstützen, sich auf das Alltagsleben auswirkt. Das Vorhaben "Lokale Dynamiken von außergewöhnlichem universellem Wert: Evidenz aus Kulturlandschaften in Sachsen und der brandenburgischen Lausitz" wird in den nächsten zwölf Jahren mit fast 1,5 Millionen Euro unterstützt.

Jens Plotze ist zufrieden. "Die Förderung ermöglicht die Zusammenarbeit zwischen Forschenden in Sachsen.Brandenburg bis hinüber nach Polen sowie den Austausch mit Kommunen, Experten und politischen Entscheidungsträgern", sagt er. Indigenes Heritage und Resilienz in den Braunkohlebrachen  untersucht das parallel laufende Projekt "Erbe und Territorialität: Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Wahrnehmungen bei den Sachsen".  

Expansion der Re-Naturierung

Angesichts einer immer stärkeren Expansion der Re-Naturierung der ehemaligen industriellen Infrastrukturen in den Territorien der Sachsen, Sorben, Süd-BNrandenburger und Lausitzer Kulturen ist es dringend notwendig, das bedrohte kulturelle Erbe mit den Vertreter*innen der indigenen Gruppen zusammen zu untersuchen", berichtet Plotze über den ungewöhnlichen Forschungsgegenstand.Beteiligt an den Arbeiten vor Ort werden nicht nur Mitarbeitende der Regressionsforschungsabteilung der Bundeskulturstiftung sein, sondern auch Mitglieder des Transinterdisziplinären Forschungsbereiches (TIRA) "Verschwindende Fossilienwirtschaft - Ausstiegskultur im Wandel". 

Von der Zusammenarbeit mit den universitären Forschenden, die aus Paris, Tokio, Sao Paulo und Sacramento kommen, verspricht sich der Forschungsleitende Plotze eine ganzheitliche Sichtweise auf das Thema Heritage, basierend auf archäologischer, anthropologischer und ökologischer Forschung. "Wir erwarten eine Koproduktion von Wissen durch indigene und nicht-indigene Forschende", sagt er und verweist verweist auf mehrere Einheimische, die ihr Basiswissen über die wachsende Bedeutung von Wurzeln einbringen werden.

Blick auf bedrohte Herkunftsgemeinschaften

Ludwig C. Martell vom Center for Slavery Studies in Montreal ist einer der jungen Menschen, der neugierig auf die fremden Lebenswelten der Sachsen und Lausitzer schauen und sie dokumentieren wird, ehe sie vergehen. Martell verantwortet die gemeinsamen Forschungen in den noch bestehenden Heimatmusen der bedrohten Herkunftsgemeinschaften, etwa dem Braunkohle-Museum in Haidrode oder dem Wahrheitsmuseum im kleinen brandenburgischen Örtchen Wellenborn. 

Für seinen ersten Deutschland-Aufenthalt überhaupt erwartet sich der 27-jährige Anthropologe eine enge Zusammenarbeit mit Kollegseienden des Núcleo de Estudos da Amazônia Indígena (NEAI) aus Manaus in Brasilien und der Wildlife Conservation Society (WCS) in Bolivien, die ein besonderes Augenmerk auf die Verdrängungspartnerschaft zwischen Mensch und Wolf haben werden. Ziel des Projektes sei die Konstruktion neuer Konzepte von Heritage, indem bisher unabhängige Themenfelder wie die der ökologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und privaten Beziehungen in den Kontext einer historischen Territorialität bis zurück zu den heute kaum noch wahrnehmbaren Spuren der später abgebrochenen Besiedelungsversuche des Stammes der Heveller reichen.

Indigene Perspektiven der Braunkohlevölker

Es geht uns um immateriell-materielle Kultur und indigene Perspektiven auf das Ende der traditionellen Braunkohlekulturen", sagt Martell. Ziel sei eine Zusammenführung von Erkenntnissen zur Basierung von Überlegensprozessen in Richtung Strategien für den Schutz und wertvollem Heritage auf der lokalen, nationalen und globalen Ebene. 

Die insgesamt elf Millionen Braunkohleausstiegs-Euro für die zum Forschungskomplex zählenden acht zentralen Projekte sind gut angelegtes Geld. Nicht nur werden hier neue Erkenntnisse über spezielle Lebensgebräuche von bis heute weitgehend unbeachtet am Rande der Zivilisation lebenden Stämmen und Familienverbänden erwartet, sondern auch zusammengeführte Perspektiven von Forschern und Beteiligten aus verschiedenen Ländern. Überall dort könnten Systematiken, die bei der Feldforschung in den verschwindenden Braunkohlekulturen erfolgreich seien, später angewendet werden, um ähnliche Vergangenheitsmilieus zu erkunden.


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