Es war ein langer Weg vom verfassungswidrigen Wahlrecht zu einem neuen mutmaßlich ebenfalls verfassungswidrigen Wahlrecht. |
Was ist schlimmer? Das Wahlrecht fünf Wochen vor der Bundestagswahl in den Papierkorb zu stopfen? Oder es, trotz ernster Zweifel an seiner Verfassungstreue, in Kraft zu belassen? Und damit einen Bundestag zu wählen, der anschließend womöglich Vorwürfe zu hören bekommen wird, er sei widerrechtlich zustande gekommen? Der aber dessenungeachtet das Parlament wäre, das ein neues Wahlrecht beschließen müsste. Das dann wiederum den Makel mit sich trüge, in sich vielleicht grundgesetzkonform zu sein, für Deutschland eine Premiere seit mehr als einem ganzen Jahrzehnt. Aber eben beschlossen von einem Parlament, dessen Legitimität aufgrund seiner rechtswidrigen Wahl infragestünde.
Schmerzen im Bundestag
Die Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe, in länger zurückliegender Vergangenheit nicht immer die folgsamen Stützen der politischen Gesellschaft, die sie heute darstellen, haben sich entschieden, es darauf ankommen zu lassen. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls, geführt von Monika Herrmanns, einer früheren Mitarbeiterin des saarländischen Justizministeriums, lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aufhebung des nach fast einem Jahrzehnt hingezögerter Verhandlungen unter großen Schmerzen im Bundestag beschlossenen Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes ab, die 216 Abgeordnete von Bündnis90/Die Grünen, Linkspartei und FDP beantragt hatten.
Einer womöglich verfassungswidrigen Wahl des 20. Deutschen Bundestag steht damit nichts mehr im Wege, allerdings schätzten die Richter, den Schaden einer beschädigten Wahl eben kleiner ein als den einer Wahl ganz ohne gültiges Wahlrecht. Denn das, was vor dem 25. Änderungsgesetz gegolten hatte, war in Karlsruhe bereits vor zehn Jahren verworfen worden: Das aktuelle Wahlrecht blähe den Bundestag verfassungswidrig auf, hatten die Richter entschieden. Sie setzten der Politik ein Ultimatum, nach dem das Wahlgesetz so geändert werden müsse, dass Überhang- und Ausgleichsmandate nicht dazu führen, dass der Bundestag schneller wächst als die gemeinsame Schuldenlast der EU-Staaten.
Platz 2 hinter dem chinesischen Volkskongress
Alle Parteien nahmen den Hinweis sehr ernst. So schön es ist, dass Deutschland weltweit über das größte demokratisch gewählte Parlament verfügt, so traurig wäre es doch, als nicht-demokratisch gewählte Volksvertretung auf Platz 2 hinter den chinesischen Volkskongress zurückzufallen - und den Atem des EU-Parlament mit seinen nur vier Mitgliedern weniger im Nacken zu spüren. Es musste also etwas geschehen, sehr schnell, da waren sich alle einig. Und so geschah: Nichts.
Neun Jahre lang schoben die Partei- und Fraktionsführungen Ereigniskarten und Stellenpläne hin- und her. Das Ultimatum verstrich. Der Bundestag wurde noch einmal größer. 500 Abgeordnete sind genug, war der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert sicher. Andere schlossen sich an. Die Entschlossenheit war groß genug, gemeinsam ein Schulbeispiel für die hohe Kunst des schnellen Verzögerns vorzuführen: Je öfter sich die Darsteller gegenseitig aufforderten und mahnten, jetzt zu handeln, desto zuverlässiger blieb es beim Mahnen und umso sicherer blieb jedes Handeln aus. Vor die Wahl gestellt, die Verfassung zu schützen oder die Parlamentssitze von Dutzenden Parteisoldaten, obsiegte Mal um Mal das Bedürfnis, die Genossen und Gefolgsleute bei Laune zu halten.
Respekt aus Karlsruhe
Eine Entscheidung, dem nun auch das Bundesverfassungsgericht seinen Respekt erwiesen hat, indem es die kurz vor knapp zusammengeschusterte symbolische 25. Änderung des Wahlgesetzes, die unter Rücksichtnahme auf die Interessen von SPD und CDU auf jede Änderung des bestehenden verfassungswidrigen Zustandes verzichtete, als vorübergehend tauglich einstufte. Ob die Regelung zur Streichung einer halben Handvoll Überhangmandate wirklich grundgesetzwidrig sei, müsse jetzt nicht geklärt werden, obwohl den Richtern die Anzeichen dafür unübersehbar zu sein scheinen.
Der Normenkontrollantrag sei "weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet", heißt es im Beschluss. Zudem erscheine es nicht "von vornherein ausgeschlossen, dass insbesondere die vorgesehenen Neuregelungen in § 6 BWahlG gegen das Bestimmtheitsgebot und das Gebot der Normenklarheit verstoßen". Doch bei der Folgenabwägung überwögen "die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe nicht in ausreichendem Umfang, um den damit verbundenen Eingriff in die Zuständigkeit des Gesetzgebers zu rechtfertigen".
Wohl verfassungswidrig
Was später wird, wenn das "Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlen zum Deutschen Bundestag" sich wirklich als verfassungswidrig herausstellen, führt das Gericht theoretisch aus. "Die Wahl des Deutschen Bundestages wäre mit einem Wahlfehler behaftet und die Legitimationsfunktion der Wahl dadurch beeinträchtigt." Dem käme angesichts der herausragenden Bedeutung der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien ein erhebliches Gewicht zu, "welches dadurch verstärkt würde, dass die Zuteilung ausgleichsloser Überhangmandate bei der Anwendung des § 6 BWahlG in der neuen Fassung faktisch die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse beeinflussen könnte".
Bei jeder Neuregelung oder auch der Anweisung, zur verfassungswidrigen bisherigen Regelung zurückzukehren, drohen "Auswirkungen auf die Bildung parlamentarischer Mehrheiten" aus, so dass es egal ist, ob nun noch mal nach dem verfassungswidrigen Wahlrecht von vor der jüngsten Änderung oder nach dem mutmaßlich ebenso verfassungswidrigen nach der 25. Änderung gewählt wird.
Eine Wahl zwischen falsch und verkehrt
Party in der Bananenrepublik, aber auf den Tischen wird nicht getanzt. Komme es ganz schlimm und der neue Bundestag finde sich tatsächlich auf der Basis von Verfassungsverstößen zusammen, könne das ja "im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde festgestellt werden". Dann komme "die Anordnung einer Neuwahl in Betracht", schreibt dass Bundesverfassungsgericht. Immer noch besser als die andere falsche Wahl, die alte Fassung des Bundeswahlgesetzes wieder inkraftzusetzen. Denn dies könne eine erneute relative Vergrößerung des Bundestages zur Folge haben, mit denselben Wirkungen, wenn auch ohne hohe Wahrscheinlichkeit "einer Zunahme der Sitze des Deutschen Bundestages bis hin zu seiner tatsächlichen Funktionsunfähigkeit".
Bei der Wahl zwischen falsch und völlig verkehrt, vor die die demokratischen Parteien ihre handverlesenen Verfassungsrichter gestellt haben, entscheiden die sich für den kleineren Schaden, der außerdem in jedem Fall später eintritt.
Das Volk wählt so in fünf Wochen unter rechtlichem Vorbehalt. Eine Wahl hat es nicht.
2 Kommentare:
Das angebliche Verfassungsgericht wird ein Wahlergebnis, das Teilhabe, Gerechtigkeit, Genderei und Klima nicht für die nächsten 100 Jahre ausreichend sicherstellt, ohnehin für ungültig erklären. Niedergeschriebenes Recht ist bekanntlich nicht mehr so ausschlaggebend.
Doch, das Volk hätte durchaus noch eine andere Möglichkeit der Wahl!
Und zwar in Form des Art.20 Abs. GG, wonach sowieso alle politische Macht von ihm ausgeht und somit per Volksabstimmung entschieden wird, ob kurzfristig - ähnlich einer "Corona-Notverordnung - ein Erlass in Kraft tritt, welcher eine Ausweitung über den status quo unter allen Umständen ausschließt.
Das wäre doch im absoluten Sinn des demokratischen Rechtsstaates die Lösung. ;-)
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