Montag, 10. Mai 2021

Vor dem Wohlfahrtsausschuss: Der schwarze Fleck

Der engagierte Gemeinsinnjournalist Mario Sixtus denkt mit Wohlgefallen an frühere Zeiten zurück.

Es war der frühere Vorsitzende der früheren Arbeiterpartei SPD, der die historische Einordnung vornahm, noch ehe das Geschehen bereits Fahrt aufgenommen hatte. Sigmar Gabriel, weniger Historiker als Praktiker, beschrieb die Tage im Jahr 2017, ehe er seinen Anspruch aufgeben musste, Bundeskanzler zu werden, mit einem Bild aus der französischen Revolution. Bevor er damals zu seinem Konkurrenten und innerparteilichen Gegner Martin Schulz gegangen sei, um dem von sich selbst berauschten Europaparlamentarier die Kanzlerkandidatenschaft der deutschen Sozialdemokratie anzubieten, habe er gewusst, dass ihm kein anderer Ausweg bleibe. "Die Stimmung in der Partei war so", sagte er bei einem Auftritt als Welterklärer in der Talkshow "Sandra Maischberger". Und wenn die Stimmung so sei, dann gebe es in der SPD die Tradition: "Dann rufen wir mal den Wohlfahrtsausschuss und dann muss einer auf die Guillotine."  

Unter die Guillotine

Gabriel, der Milde und Einsicht ein Leben lang eher weniger verdächtig, beschreibt einen Zeitgeist, der sich längst auch außerhalb der SPD ausgebreitet hat. War  die in den USA erfundene cancel culture hierzulande anfangs noch ein unbestätigtes Gerücht, das nicht anhand von Beispielen diagnostiziert, sondern von einem aufgeregten Heer an hochrangigen Autoren immer wieder neu als Gespenst enttarnt wurde, mit dem Rechtsextreme, Rechtspopulisten und Konservative den Kampf gegen eine bunte, aber aufgeräumte Gesellschaft führen, wurde die Ausnahme bald zur Regel. 

Wer sich im Ton vergriff, unter Verdacht geriet, Anlass zur Besorgnis gab oder gar brüsk darauf beharrte, es sei ihm immer noch gestattet, eine eigene Meinung auch zu Fragen zu haben, die vom Corona-Kabinett bereits abschließend beantwortet waren, brauchte ein dickes Fell und gute Freunde, um unbeschadet durch die unweigerlich losbrechenden Scheißestürme zu segeln.

Durch Scheißestürme

Der Grüne Boris Palmer etwa entwickelte über die Jahre ein großes Talent darin, dem Wohlfahrtsausschuss zu entkommen. Als Realist in einer Partei, die die Traumtänzerei zur Basis ihrer Vorstellung von der Welt erklärt hat, fiel der Oberbürgermeister von Tübingen immer wieder dadurch auf, dass er das Wolkenkuckucksheim der grünen Visionen von Kobalt, Speichernetz und deutschen Klimavorbild durch geerdete Zwischenrufe störte. Seit langer Zeit schon möchte die ehemals so meinungsvielfältige Partei den Störenfried loswerden, der Einheit und Geschlossenheit gefährdet, Applaus von der Falschenseite bekommt und als Stachel im veganen Fleischersatz einer grünen Zukunft aus gutgelaunter Entsagung und Verzicht mahnt, man müsse immer auch die Folgen bedenken.

Der Wunsch bei Bündnis90/Die Grünen, wie die Grünen unbekannterweise immer noch heißen, war groß, Palmer loszuwerden, und sei es auf einem Weg, wie die kommunistische DDR sich einst des kommunistischen Querdenkers Wolf Biermann entledigte. Gott aber hat Humor, er machte ausgerechnet Palmer zu einem der erfolgreichsten Politiker der Grünen, einen Mann, der selbst für Christdemokraten wählbar war, unideologisch, pragmatisch und so unterhaltsam, wie es die vor gespieltem Gutsein strotzende Grünenführung um Baerbock, Habeck, Kellner und die Vorstandsauffüller Jamila Schaefer, Ricarda Land und Marc Urbatsch nie sein wird.

Gott und Jens Lehmann

Gut, dass es Jens Lehmann gibt, den Fußball-Nationaltorwart aus Zeiten, als die deutsche Fußballnationalelf noch kein Designerprodukt namens "Die Mannschaft" war, in der diplomatisch geschulte Talente spielten, sondern ein Haufen egozentrischer Haudegen, die stritten und zankten und in Fraktionen zerfielen und einander nicht grün waren und Titel auf viel interessante Weise nicht gewannen als ihre Nachfolger.

Gott hat Humor und trieb die Geschichte also ein weiteres Mal auf die Spitze: Erst ließ er jenen Lehmann, seit Jahren engagiert in der Anti-Rassismus-Initiative Kick it Out, dazu, den ehemaligen Kurzzeit-Kollegen Dennis Aogo in einer Whatsapp-Nachricht als "Quotenschwarzen"  zu bezeichnen - angelehnt offenbar an die erfolgreiche Kampamgne "Ich bin eine Quotenfrau", mit der sich Qutenfrauen wie Manuela Schwesig von der SPD und Ursula von der Leyen von der CDU für das Konzept der Quote ausgesprochen hatten.Dann geriet Lehmann die Nachricht auch noch in den falschen Kanal, sie direkt an Aogo. Der sah seine Chance, mal wieder öffentlich vorzukommen. Vergaß aber dabei, dass ihm gerade das Wort "Vergasen" über die Lippen gekommen war.

Untaugliches Drehbuch

Als Drehbuch untauglich, weil nicht einmal der Gemeinsinnproduzent Degeto ein derart unglaubwürdiges Skript verfilmen würde. Deshalb folgte der apperçu: Mitten in die Tagung der Wohlfahrtsausschüsse zur Frage, ob Lehmanns Rausschmiss bei Hertha BSC genug Buße sei und Aogo trotzdem Opfer bleiben könne, obwohl er die Täterschaft für die Vergasung-Floskel nicht bestritten hatte, tauchte Boris Palmer auf der Bühne auf, um aus der konkreten Verhandlung um die Verbalvergehen zweier Prominenter einen Prozess um Grundfragen zu machen. 

Soll hauptberuflich empfindliche Twitterer, professionell empörte Kommentatoren und taktisch erregte Missbraucher fremder Fehltritte auch wieder wie damals im Frankreich der Jahre 1793 und 1794 unbeschränkte Vollmachten zugebilligt bekommen, um als Organ einer neuen jakobinischen Schreckensherrschaft für porentiefe Sauberkeit in öffentlichen Debatten  zu sorgen?

Letzte Warnung für alle

Ja, ja, ja, schallt es aus der grünen Wahlkampfbaracke. Dieser "letzte Tabubruch" komme "zur Unzeit", attestieren die Wahlkampfberater vom Deutschlandfunk, der "Anstand" hindere die Berichterstatter daran, ihr Publikum überhaupt  "wortwörtlich zu wiederholen, was Boris Palmer (Grüne) da geschrieben hat - so obszön und schamlos ist der Satz", urteilt der SWR. Palmer hatte "das N-Wort ausgeschrieben". "Ein Wort, das ich in der Bedeutung zuletzt von pubertierenden Teenagern und raissistischen Hetzrednern gehört habe, und das ich hier wiederhole, weil man anders, scheint mir, nicht mehr vermitteln kann, wie gewollt OB Palmer hier provoziert hat", (Schreibweise im Original) zittert Sandra Müller vom SWR vor Hetzern, Provokateuren, Saboteuren und Rädelsführern, die die Harmonie des anstehenden Wahlkampfes stören könnten.

Nein, es ist genug, dieser Mann ist "nicht mehr zu halten".  

Nicht nur sauber, sondern rein soll sie sein, die Debatte, wenn sie sich schon nicht vermeiden lässt.


5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein ungetrübtes Vergnügen, das können die gerne treiben bis zur https://de.wikipedia.org/wiki/Kohlevergasung

Anonym hat gesagt…

Der jakobinische Geist wurde schon früher aus der Flasche gelassen. Das Kampflied der Terrorherrschaft „Ah! Ça ira“ heißt im übertragenen Sinn: „wir schaffen das!“
https://de.wikipedia.org/wiki/Ah!_%C3%87a_ira
https://de.wikipedia.org/wiki/Wir_schaffen_das

Jodel hat gesagt…

Diesmal werden sie ihn wohl loswerden, den alten Störenfried Palmer. Als OB in Tübingen würde er aber wohl trotzdem wieder gewählt werden, falls er denn will.

Bei eher fähigen Köpfen wie Palmer, Metzger, Sarrazin, Merk usw. fragt man sich schon, warum die sich so lange an ihre nicht mehr zu ihren Ansichten passenden Parteien klammern. Die auf linke Konformität getrimmten Parteivölkchen versuchen solche Störenfriede mit allen Mitteln loszuwerden. Doch statt sich einzugestehen, dass man mit seinen Ansichten in den jeweiligen woken Haufen einfach nicht mehr reinpasst und besser mit Anstand gehen sollte, verteidigt man seine Mitgliedschaft mit Zähnen und Klauen. Was soll das bringen? Glauben die wirklich, das sie in ihrer Partei auch nur ein Jota verändern oder überfällige Diskussionen anstoßen könnten? Wieso will ich bei einem Verein dabei sein, wo mich gefühlte 90 % der anderen Mitglieder abgrundtief hassen? Zumindest die in den Kommandopositionen.

Wenn solche querdenkenden Leute nur einmal den Wahl-O-Mat befragen würden, käme sicherlich die Nähe zu einer gewissen Schwefelpartei ans Licht. Das möchte man sich aber wohl, bei aller Dissidenz, dann doch nicht eingestehen. Bei einem solchen Übertritt wäre der bisher erfolgte Shitstorm erwartbar nur ein laues Lüftchen gewesen. Kurz gesagt, lieber Dissident spielen als die Bude angezündet bekommen. So weit ist es mit unserer Buntheit, Toleranz und politischen Kultur gekommen. Bravo

Ausschussware hat gesagt…

Ehre, wem Ehre gebührt, denn allein der Schießbefehl an einer Mauer, die eigentlich gar nicht existierte, weil ja niemand sie bauen wollte, nahm die heutige oft blutrote Buntheit bereits prophetisch vorweg. Kein Wunder also, dass so viele heutige schlichte Gemüter dem Sog des Sozialismusparadieses nicht widerstehen können.

Gib dem Pöbel Knarren in die Hand, und er führt sich sofort auf wie ein erbarmungsloser Herrscher über Leben und Tod.

Egal, was wir auch schreiben oder erklären mögen, die Dummkopfmasse wird sich in ihrer fäkalen Nutzviehsuhle wälzen und ihr penetrantes Schlammbad als erstrebenswert erfrischend und reinigend genießen.

Der schwarze Fleck ist längst ein Schwarzes Loch, das alles unwiederbringbar verschlingt, sobald der Ereignishorizont überschritten wird. Und sie scheinen nichts eiligeres zu tun zu haben, als genau darauf wie irre zuzurennen.

Anonym hat gesagt…

Gib dem Pöbel Knarren in die Hand ...

Karl Kraus: Dem Knecht ist Gewalt gegeben. Das wird seine Natur nicht vertragen.