Beim letzten Mal, als Armenier von einem aggressiven Nachbarn ermordet wurden, schaute Deutschland nur zu. Diesmal schaut es weg. |
Ein Land beginnt einen Krieg, oder besser: Es erweckt ihn von den Toten auf. Ringsum herrschen Entsetzen, Empörung und Ratlosigkeit. Berlin aber reagiert routiniert: Heiko Maas, Deutschlands welterfahrener Außenminister, kommt zum Twittereinsatz. Er äußert Besorgnis, er fordert einen sofortigen stopp des Waffengangs. Und droht für den Fall, dass der Angreifer sich nicht umgehend mäßigt, mit harten und entschiedenen Sanktionen nicht nur Deutschlands, sondern der gesamten Wertegemeinschaft EU.
Saarländer im Widerstand
Der normale Gang der Dinge, denn Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt. Wer immer Grenzen zu verschieben sucht, gerade in Europa und erst recht mit Waffengewalt, darf sich des Widerstandes des Saarländers gewiss sein, der einstmals wegen des Holocausts überhaupt beschloss, Politiker zu werden. Maas hat Russland die Übernahme der Krim nie verziehen, bis heute hält die EU ihre Sanktionen gegen das kriegerische Kreml-Regime aufrecht. Zwar sind andere, weiter zurückliegende Grenzneuziehungen mittlerweile weitgehend und stillschweigend akzeptiert. Doch wo es hart auf hart zugeht wie im Fall des russischen Regimekritikers Nawalny oder beim herbeigefälschten Wahlsieg des weißrussischen Diktators Lukaschenko, ist die Sanktionskarte immer die erste, die sticht.
Nur eben jetzt gerade nicht. Als aserbaidschanische Truppen unter dem Oberbefehl des dortigen Diktators İlham Əliyev Ende September begannen, die bis dahin vom verfeindeten Nachbarn Armenien besetzte Region Berg Karabach anzugreifen, schaffte Heiko Maas nur einen leisen Aufruf zur Waffenruhe. Auch als er später noch einmal nachlegte, gab es im "Konflikt" (Maas) wie überall in deutschen Medien auf gar wundersame Weise keinen Angreifer und keinen Angegriffenen.
Von Zauberhand entbrannt
Sondern nur einen ei der Daus wie von Zauberhand "entbrannten" (Maas) "heißen Krieg", in dem der "Einsatz von Raketen und auch schwerem Kampfgerät" zu sehen und von "Gefallenenzahlen" zu hören war, "die jeden Tag steigen" (alle Zitate Heiko Maas). Traurig, dass "wie immer im Krieg auch die Zivilbevölkerung ganz besonders leidet". Traurig, wie "die Kämpfe Brücken, Dörfer, Straßen zerstören". Höre das nicht bald auf, so Heiko Maas, müsse die EU den Druck erhöhen.
Müssen" ist nun traditionell ein zentrales Moment des politischen Lebens innerhalb von EU-Europa. Alle müssen ständig müssen, vor allem die anderen und vor allem dann, wenn sie nicht können. Maasens Müssen aber ist noch einmal von einem ganz anderen Kaliber: Wo der kleingewachsene Weltdiplomat sonst jedes Problem im Sozialleben der Staaten reflexartig mit einer Forderung nach sofortigen und umfassenden Sanktionen zu beantworten pflegt, zu verhängen, bis der Täter sein verdammenswertes Verhalten geändert habe, reagierte der Sozialdemokrat im Fall des aserbaidschanischen Angriffes auf armenische Truppen mit milder Strenge.
Dem letzten Völkermord an den Armeniern schaute Deutschland noch tatenlos zu. Diesmal schaut es engagiert weg.
Keine Rede von Sanktionen
Von Sanktionen war nicht die Rede, der "Druck" der EU war ein ausschließlich verbaler. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich "alarmiert". Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich eigentlich immer und zu allerlei zu Wort meldet, um ihr Vorhandensein nachzuweisen, sagte ausnahmsweise mal gar nicht.
Alliew und Erdogan schoben sich in Bergkarabach so schnell die Bälle zu und sie mordeten in einem solchen Tempo, dass es aussaht wie die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die Berufskollegen aus Spanien beim Kicken zuschaut. Kaum hier, schon weg. Und da knallt auch schon wieder.
Von Sanktionen, vielleicht sogar von EU-Sanktionen gegen einen Staat, der die Lähmung des Westens durch Corona und die Wahlen in den USA nutzt, um mit Hilfe des deutschen Nato-Partners Türkei verlorenes Terrain wiedergutzumachen, war nie und nirgendwo die Rede. Amerika war abgelenkt, ohnehin ist der Weltpolizist unter Donald Trump kaum noch interessiert an friedensschaffenden Kriegen auf fernen Kontinenten. Und Europa ist mit dem üblichen Müssen beschäftigt, dass keine Kraft blieb, das kleine Armenien wenigstens symbolisch in Schutz zu nehmen.
Deutschlands Öllieferant
Wie sollten auch Sanktionen aussehen gegen einen Staat, der Deutschland sechstgrößter Öllieferant ist? Wie bestraft man einen Partner, von dem man mehr abhängig ist als der von einem selbst? Einem "Partner von wachsender Bedeutung" (Angela Merkel) mag niemand dumm kommen. Man spricht dann eben für eine Verhandlungslösung aus, hofft auf noch "intensivere Wirtschaftsbeziehungen" und ein "Voranbringen der Diversifizierung der europäischen Energieversorgung durch den südlichen Korridor".
Aserbaidschan hat Öl, Armenien nicht. Aserbaidschan ist wichtig, Armenien ist es nicht. Und Moral ist immer so gut, dass es noch besser ist, wenn man zwei davon hat.
3 Kommentare:
Außenminister
Maas warnt vor international aktiven Rechtsextremen
Gewaltbereit und international vernetzt: Das Außenministerium warnt vor den Entwicklungen in der rechtsextremen Szene – und kündigt Konsequenzen an.
-----
Von wegen zwei Moralen, als ob es kein Drittes gäbe. Die richtige Moral ist gefragt.
Heiko:
Auch die Europäische Union kann und wird dabei eine wichtige Rolle spielen.
Nein, Heiko. Und warum nicht? Antwort gleich im nächsten Satz:
Schließlich verfügt sie mit ihrem Sonderbeauftragten für den Südkaukasus und der Östlichen Partnerschaft über Instrumente, um politische Verhandlungen und später auch den wirtschaftlichen Wiederaufbau sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan zu flankieren.
Darum nicht.
Geleakter Auszug aus der ersten Fassung der Rede:
...bitten wir unsere armenischen Freunde um Verständnis dafür, dass kein Hahn nach deutscher Außenpolitik kräht außer wenn Zahltag ist, und dass wir darum zur Tagesordnung übergehen und dann mal schauen, was und wer am Ende noch steht. Das buttern wir dann mit frisch gedrucktem Geld zu, und falls sie Probleme mit muslimischen Kämpfern haben, können wir die gerne übernehmen...
Wieso zwei? Da wollen wir doch nicht kleinlich sein. Wir haben so viele Moralen in der Schublade, wie gerade gebraucht werden.
Kommentar veröffentlichen