Montag, 5. Oktober 2020

Plötzlich Nazi: Die Verwandlung des Hagen Menzel

Als Hagen Menzel eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Naziwesen verwandelt. Er lag auf seinem braunen Laken mit einer Reichskriegsflaggendecke und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von propagandistischen Blähungen gewölbten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Ärmchen hielten die Decke verzweifelt. Der Fernseher an der Wand, der gerade angegangen war wie immer, flimmerte ihm hilflos vor den Augen.

"Was ist mit mir geschehen?" dachte er. Es war kein Traum, sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Schlafzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden, über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Nachrichtenmagazinen, Zeitungen und Zeitschriften höchster Informationsgüte ausgebreitet war - Menzel war ein politisch stets interessierter Bürger -, hing ein Bild, das er sich nicht erinnern konnte, jemals aufgehängt und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht zu haben. Es stellte einen Mann dar, der, in Uniform und Offiziersmütze mit einem schmalen Bart versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Blick dem Beschauer entgegenhob.

Über Nacht verwandelt


Hagens Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter - man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen - machte ihn ganz melancholisch. "Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße", dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der linken Seite zu schlafen, doch in seinem gegenwärtigen Zustand drängte es ihn fortwährend, sich auf rechts zu legen. Mit welcher Kraft er sich auch hinüberwarf, immer wieder schaukelte er in die Rechtsauslage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen, um die wackelnden Zimmerwände und den böse blickenden Mann nicht sehen zu müssen und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.

"Ach Gott", dachte er, "was für ein anstrengendes Leben ist mir beschieden!" Tag aus, Tag ein auf der Suche nach Informationen, dann beim Check, ob sie richtig sind und ob man gut daran tut, sie zu glauben. Dazu die Arbeit, die geschäftlichen Aufregungen, das Privatleben, die Sorgen um die Hygieneregeln, die Abstandshaltung, das ständige Anwachsen der rechten Gefahr nun schon seit 75 Jahren, die immer schneller wechselnden, nie endenden und immer größer werdenden Warnungen vor rechter Unterwanderung, geheimen Netzwerken und Chatgruppen.

Der Teufel soll das alles holen! Menzel fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen braunen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand. Er wollte mit dem Arm die Stelle betasten, zog ihn aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer, die wie aus einer dunklen Gruft der Vergangenheit kamen.

Zum Zweifeln geboren


Hagen Menzel glitt wieder in seine frühere Lage zurück. "Dies frühzeitige Aufstehen", dachte er, "macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben." Andere, die er kannte, lebten ohne Zweifel und voller Freude, sie gingen in Wirtshäuser, in Kinos und nahmen reichlich Frühstück zu sich, ohne je darüber nachzudenken, was sie dachten. Er aber war zum Zweifeln geboren, ihn befiel nie das Gefühl, genug zu wissen, um etwas abschließend beurteilen zu können.

Hagen Menzel haderte. Lange hatte er gehofft, andere wüssten besser als er selbst, was gut für ihn wäre. Das Morgenmagazin. Der "Spiegel". Das Deutschlandradio. Er hatte versucht, ihnen zu glauben, immer wieder. Doch immer wieder aber überkam ihn dann auch eine Bockbeinigkeit, die er selbst nicht erklären konnte. Widerworte verließen seinen Mund, er musste an sich halten, um nicht vor dem Radio zu stehen und seine Meinung von Grund des Herzens her zu sagen. Hätte ihn jemand gehört. Abgeholt hätten sie ihn.

Hagen Menzel wusste im tiefsten Inneren seines Herzens, dass allein schon dieser Gedanke nicht zulässig war. Wer so dachte, war ein Feind, ein Zweifler, ein Hundsfott, der es nicht wert war, die deutsche Sozialdemokratie wählen zu dürfen. Eine Absicht, die Menzel früher schon nicht gehegt hatte, er neigte eher den Christdemokraten zu, die er realistischer gefunden hatte, schon damals, als er noch der Menzel gewesen war, den frühere Mitschüler auf der Straße erkannt hätten. Zu jener Zeit hatte nie die Hoffnung aufgegeben; einmal doch das Geld beisammen zu haben, um das Joch des Alltags, der Erwerbsarbeit und des Nachdenkens darüber, was richtig und was falsch ist, eines Tages abschütteln zu dürfen. Er hatte gespart, angestrengt. Langsam war es vorangegangen, bis es keine Zinsen mehr gab und der Wirecard-Konzern, mit dem er reich zu werden gehofft hatte, restlos zusammenbrach. Da wurde ein großer Schnitt gemacht, der seine Zukunftszuversicht zerstörte. "Jetzt muss ich aufstehen, denn es muss weitergehen,  man darf nie aufgeben", sagte sich Menzel und er versuchte, sich aufzurichten.

Heilige Scheiße


Dabei sah er zum Digitalwecker hinüber, der lautlos tickte. "Himmlischer Vater", dachte er, obwohl er nicht gläubig war. Manchmal sagte er auch leise "heilige Scheiße" zu sich oder "verdammte Axt". Er wusste nicht, wieso, wie er so vieles nicht wusste, ja, wenn er ehrlich, das meiste nicht. Es war halb sieben Uhr, und die Sekunden klappten ruhig weg, nun war es sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, dass er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiss hatte er auch geklingelt oder es versucht.

Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber war dabei geschehen? Und was sollte er jetzt tun? Wenn es zu spät ist, ist es zu spät und man kann die Zeit nicht einholen. Hagen Menzel fühlte sich gestrig, ein Mann aus einer anderen Zeit. Um die seine einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Zähne waren noch nicht einmal geputzt. Auch fühlte er sich gar nicht wie jemand, der einfach aufstehen und weitermachen konnte, wo er gestern aufgehört hatte.

Jetzt, wo er braun war, außen sichtbar der, der er innen schon länger hatte sein mögen, wie er ahnte, schien es ihm unmöglich, sich der Welt zu stellen. Jeder würde ihn erkennen. Jeder. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das war so außergewöhnlich nicht in diesen Zeiten, vielleicht würde eine Quarantäne ihn heilen und wieder zu einem normalen Menschen machen können? Das war aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Menzel war während seines Erwachsenenlebens noch nicht einmal krank gewesen.

Pünktlich sein und ordentlich


Aber wenn es nicht geht, geht es nicht, dachte er und erkannte in sich widerstreitende Gedanken. Als der Nazi, der er nun war, musste er pünktlich sein, fleißig, mit kurzem Haar und harter Hand auch sich selbst gegenüber. Doch so, wie er sich anschaute, glich er dem faulen Sohn, dem die Eltern zu rechts Vorwürfe machen, weil er Ende 30 ist und immer noch nicht stubenrein.

Und für ihn als Rechtsausleger konnte es nun ja überhaupt nur ganz gesunde oder aber arbeitsscheue Menschen geben. Bin ich das eine oder das andere, sinnierte er. Menzel fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.

Als er dies alles in größter Eile überlegte, ohne sich entschließen zu können, das Bett zu verlassen - gerade schlug der Wecker dreiviertel sieben - sprach es im Fernseher von neuen Chatgruppen, die entdeckt worden seien. Menzel stutzte besorgt. Hatte er je gechattet? War er Mitglied irgendwo, so dass man ihm einen Strick drehen konnte? Es klopfte nun vorsichtig an die Tür am Kopfende seines Bettes. "Hagen", rief es - es war die Mutter -, "es ist dreiviertel sieben, du musst aufstehen". Musste er das? Musste er überhaupt etwas? Nun, wo er der war, der er nie hatte werden wollen, würde die Gesellschaft ihn nicht ohnehin abstoßen? Als anders brandmarken? Ihn wegen seines Denkens isolieren? Um sich vor einer Verbreitung seines Gedankengutes zu schützen? nein, Menzel wollte sich der Welt in seiner wahren Gestalt nicht zeigen, nicht die Reißzähne sehen lassen, die er im Munde spürte, nicht die Grausamkeit hören lassen, die in seiner Stimme lauern würde.

Reißzähne und rollendes R


Menzel erschrak, als er plötzlich seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht zu unterdrückendes rollendes R mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, dass man nicht wusste, ob er gerade eine Sportpalastrede hielt. Ihm fiel auf, dass er hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen, herauskam aber nur ein "Ja, ja, danke Mutterrrrrrrrrr, ich stehe schon auf."

Infolge der Holztür war die faschistische Veränderung in Menzels Stimme draußen wohl nicht zu merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Erklärung und schlurfte davon. Aber durch das kleine Gespräch waren die anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam geworden, dass der gute Sohn wider Erwarten noch zu Hause war, und schon klopfte an der einen Seitentür der Vater, schwach, aber schon mit der Faust. "Hagen, Hagen", rief er, "was ist denn?" Und nach einer kleinen Weile mahnte er nochmals mit tieferer Stimme: "Hagen, Hagen!" Und drüben an der Seitentür klagte leise die Schwester: "Hagen? Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?"

Nach beiden Seiten hin antwortete der Befragte so diplomatisch es ihm möglich war. "Bin schon fertig", und bemühte sich dabei, durch die sorgfältigste Aussprache und durch Einschaltung von langen Pausen zwischen den einzelnen Worten seiner Stimme alles Auffallende zu nehmen. Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, die Schwester aber flüsterte misstrauisch: "Hagen, mach auf, ich beschwöre dich." Hagen Menzel aber dachte gar nicht daran, sondern beglückwünschte sich zur Entscheidung, auch zu Hause alle Türen während der Nacht immer zu versperren. Das Land, so wenigstens glaubte er trotz der beständig sinkenden Verbrechenszahlen, war doch unsicherer geworden.

Verräterische Gedanken


Zunächst wollte er ruhig und ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. Dass die Veränderung der Stimme nichts anderes war, als ein Symptom seiner Verwandlung in einen Nazi, daran zweifelte er immer noch. "Ich bin doch kein Nazi", sagte er sich, "ich war immer ein ganz normaler Bürger." 

Tief im Inneren aber war ihm klar, dass schon der Gedanke, man könne kein Nazi sein, weil man von sich selbst glaube, keiner sein zu können, an die Grenzen der Unendlichkeitsaspekte der Konfliktheorie rührte. Freisprechen können einen nur die anderen, die aber werden es nicht tun, wenn sie mich sehen in diesem braunen Nazileib und meine grollende Führrrerrrrstimme hören, da war sich Menzel sicher.

Er musste raus. Die Decke abzuwerfen war ganz verblüffend einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von selbst. Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil er sich beim Aufrichten im Spiegel sah und nicht leugnen konnte, dass er ganz stiernackig, braun und ungehobelt aussah. Er nutze Arme und Hände, um sich an dem Anblick vorbeizuschieben und ignorierte den Drang, den rechten Arm straff in die Luft zu strecken. Fast hätte er ihn nicht beherrschen können, doch es gelang, indem er ihn einknickte. So waren die strammen Stiefelbeine mit den ledernen Knobelbechern, die an seinem neuen Nazikörper klebten, das erste, was den Boden berührte; und gelang es ihm endlich, mit diesen Beinen das auszuführen, was er wollte. Der Arm flog nun doch nach oben, wie freigelassen, in höchster Gespanntheit.

Kein Problem. Niemand sah ihm zu. Hagen Menzel war mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett hinausgekommen, nun folgte der blasig aufgeworfene bierbauchhafte Oberteil, von dem er sich auch keine rechte Vorstellung machen konnte. Auch er erwies sich als schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärtsstieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug mit dem Kopf an den unteren Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass der Kopfteil seiner Person immer noch der empfindlichste war.

Er versuchte es daher, mit erhobenem Haupt zu stehen und drehte vorsichtig den Kopf dem Fernseher zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere konnte er so die neuen Berichte über die Verleihung eines neuen Zivilcouragepreises sehen, der bei einer Gala gefeiert wurde, aber mit Corona-Regeln. Dem überaus interessiert lauschenden Kopf, der Begriffe wie "Vielfalt" und "Buntheit" offenbar problemlos zu verarbeiten wusste, folgte schließlich die Körpermasse. Aber als er den Kopf schließlich zurück zum Flachbildfernseher wendete, überkam ihn die Hoffnung, eine weitere Konfrontation mit diesen mutmachenden Nachrichten könne ihn baldigst zurückverwandeln. Wenn er sich einfach in die all die good news fallen ließe, musste nur noch ein Wunder geschehen und er würde wieder Hagen sein, der ganz normale Hagen.

Stämmige Stiefelbeine

Nur als der könnte er aufstehen und hinausgehen, das war ihm nun klar. Damit war es entschieden. Als Hagen Menzel sich aufseufzend wieder niederlegte wie früher, und wieder auf seinen Bauch schaute, den gestreckten Arm und die stämmigen Stiefelbeine, fand er keine Ruhe und Ordnung, sich erneut in Schlafstimmung zu bringen. Es befiel ihn stattdessen erneut der Gedanke, dass er unmöglich im Bett bleiben könne und dass es das Vernünftigste sei, alles zu opfern, wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, sich dadurch vom Bett zu befreien. Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, dass viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei.

Der würde er nun Zeit geben. Bis alles wieder besser würde.

Nach Motiven von "Die Verwandlung", Franz Kafka, gemeinfrei


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

das Gefühl kennt Sepp auch . Man denkt an Frühstücksfernsehen und verbotene Zettel und mutiert plötzlich zum Nazi .

einfach so - Spontannazifizierung nennt das die Wissenschaft ; oder auch Tourettenazifizismus.



Anonym hat gesagt…

Ich hoffe, Hagen wurde inzwischen zur Klärung des Sachverhalts ins örtliche Kahane-Büro verbracht.

Sepp habe ich auch gleich gemeldet. So geht es nicht!