Dass der Bundeskanzlerin Kränze gewunden, Bilder gemalt und auch anderen Aktivisten im öffentlichen Meinungskampf mit Medaillen und Orden gedankt wird, scheint heutzutage vollkommen schon normal. Lübcke-Preis, Relotius-Preis, Max-Zimmerring-Preis, Bundesverdienstkreuz und Tazenkreuz am Bande - vom Virologen über zahlreiche Reporterer und Reporterinnen bis hin zu Politikern dürfen sich alljährlich im Herbst Menschen überall im Lande über rare und zugleich begehrte Preise freuen, die zum Teil vom Bundespräsidenten, zum Teil aber auch stellvertretend mit der Post vergeben werden.
Außergewöhnlicher sind die Fälle, in denen Künstler ohne Auftrag darangehen, aus eigenem Antrieb Danke zu sagen für Speis und Trank und den Frieden in der EU, für die umsichtigsten Corona-Maßnahmen weltweit, die klügste Energiepolitik, die höchsten Strompreise und das entschlossene Aussetzen der Insolvenzpflicht. Kanzlerin Angela Merkel darf sich dieser Dankbarkeit erfreuen, doch auch andere zu Lebzeiten beliebte Politiker, Schauspieler und Singende wurden so schon geehrt. Tagesgeschäft in einer Gesellschaft, die von sorgsam inszenierten medialen Ereignissen lebt und aus selbstorganisierter Selbstbestätigung ihren Lebenssinn zieht.
Geheimnisvolle Hymne aus dem Archiv
Richtig ungewöhnlich dagegen scheint der geheimnisvolle Fall eines Songs, der in einem Hamburger Tonstudiokeller unten einem Berg von Schallplatten, Tonbändern und Memorabilia entdeckt wurde, die manische Sammler seltener Tonkunst auf Flohmärkten zusammengekauft hatten. Auf einem mit Bleistift beschrifteten Tonband der DDR-Marke "Orwo" fand sich ein Song einer - laut Aufschrift - "Charlie Keller", in dem die Künstlerin im typischen Stil einer heute bereits vergessenen Zeit eine Hymne an Sigmund Jähn sind, den ersten deutschen im Weltall.
Obschon es sich inzwischen ausgegrabenen spärlichen Hinweisen und dem Text des Songs zufolge bei Charlie Keller eine Künstlerin aus der DDR handeln muss, klingen die Aufnahmen, die nach Jähns Raummission mit Sojus 31/Sojus 29, also wohl Ende der 70er entstanden, noch heute frisch und dynamisch. Jähn wird hier nicht überhöht, sondern freundlich als mutiger Jagdflieder und Generalmajor der NVA gefeiert. Ein Un-Ideologe, für den die wissenschaftliche Leistung im Mittelpunkt stand.
Charlie Keller, vermutlich ein Pseudonym, der richtige Name der Frau mit der samtweichen Stimme ist bisher nicht bekannt, singt hier aber auch über einen Mann aus einem anderen Land. Entgegen dem ersten Anschein stammt die Singende nämlich aus den alten Bundesländern: Keller soll am 11. November 1950 in Wattenscheid geboren worden sein, als überzeugte Kommunistin siedelte sie erst im Alter von 18 Jahren und nach ernüchternden Erfahrungen mit dem kapitalistischen System in die DDR über, die sie als das bessere Deutschland begriff.
Der Arbeiter- und Bauernstaat revanchierte sich und enttäuschte nicht. Keller genoss eine kostenlose musikalische Ausbildung an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, für die die Arbeiter und Genossenschaftsbauern gern zahlten. Dennoch fiel es der zwar talentierten, aber auch sehr impulsiven und durch die Sozialisation in Westdeutschland immer wieder von Egoismus geplagten jungen Frau schwer, sich dem Kollektiv unterzuordnen. Schon an der Hochschule bereitete ihr das Probleme, so dass sie ihr Studium bereits nach kurzer Zeit wegen zahlreicher disziplinarischer Verstöße beenden musste. Trotz der Exmatrikulation wurde es Keller augenscheinlich jedoch gestattet, weiterhin künstlerisch tätig zu sein. Womöglich hielt ein hoher Funktionär seine schützende Hand über die hübsche junge Frau.
Die nun zufällig wiedergefundenen Aufnahmen legen Zeugnis davon ab, was hätte aus Keller werden können: Eine Helene Fischer, ein Spatz von Weimar. Der DDR-Staat wollte sich die einmalige Chance, eine hübsche, talentierte und vor allem westliche Kommunistin ins popkulturelle Schaufenster zu stellen, zwar im Kalten Kulturkrieg nicht nehmen lassen.
Kein neuer Roter Cowboy
Doch die mangelnde Anpassungsbereitschaft Charlie Kellers verhinderte, dass sich der Erfolg des „Roten Cowboys“ Dean Reed wiederholen ließ. Vermutlich, weil sie ihr Temperament einfach nicht unter Kontrolle bringen konnte - angebliche Zeitzeugen sprechen auch von Alkohol, wahllosen Männergeschichten und hasserfüllter Systemkritik - scheiterte der Versuch, ihre per se nicht systemkritische Musik zu veröffentlichen.
Charlie Keller, die damals Zuflucht im ländlichen Weimar gesucht hatte, verschwand aus dem öffentlichen Leben. Frustriert ob der verhinderten Karriere und nicht Willens, einer anderen gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit nachzugehen, wurde Keller für ihr Gastland immer mehr zu Last. Die Mittdreißigerin galt bald als ideologisch unzuverlässig und als Gefahr, die Staatssicherheit hatte ein Auge auf den Sicherheitsvorgang "Kehle", mehrere IMs waren auf Keller angesetzt.
Angeblich wurde die enttäuschte und vom Scheitern ihrer Karrierepläne frustrierte Künstlerin kurz vor dem Mauerfall aus der DDR ausgebürgert. Sie soll seitdem unter ihrem bürgerlichen Namen irgendwo in Westdeutschland leben. Ein Schicksal, das an viele erinnert, die in den jahren der deutschen Teilung zerrieben wurden.
Sigmund Jähn, dem kommunistischen Kosmonauten, wurde im Altteil des Vaterlandes stets jede Anerkennung versagt, Charlie Keller geschah dasselbe, ihre Kunst wurde unterdrückt, ignoriert und vergessen. Zu Ehren des im vergangenen Jahr verstorbenen Kosmonauten und seiner jungen Verehrerin - Keller soll Jähn allerdings nie persönlich getroffen haben - findet sich oben das bemerkenswerte Lied "Ich, Sigmund Jähn". Es sollte laut gehört werden, denn die sorgsam restaurierte Version hat es einfach verdient.
2 Kommentare:
Wer ist Sigmund Jähn?
https://www.youtube.com/watch?v=XfoK30ohXTI
Charlie Keller - Ich, Sigmund Jähn (?) - Tapefund
+++Mithilfe erbeten!++++ Wer hat Informationen über die Sängerin "Charlie Keller"?+++
Ab 2009 veröffentlichten wir auf unserem Schwesterlabel Bureau B die inzwischen vergriffene Compilations „Funky Fräuleins" Vol. 1 und 2 sowie "Beat Fräuleins". Zu diesem Zweck trugen wir auf Flohmärkten etc. kartonweise Schallplatten und Memorabilia zusammen. Dabei fielen uns Tonbänder der Marke "Orwo" in die Hände. Mangels Abspielmöglichkeit lagerte das Band jahrelang ungehört bei uns im Büro. Jetzt kamen wir dazu es abzuhören. Es befindet sich ziemlich tolle Musik drauf, wohl gesungen von "Charlie Keller" Den spärlichen Hinweisen und den Texten zufolge muss es sich um eine Künstlerin aus der DDR handeln, die Aufnahmen sind wohl Ende der 70er entstanden. Leider findet man nichts über "Charlie Keller" im Internet noch sonst irgendwo, die Aufnahmen sind zu mit 99%iger Sicherheit bisher unveröffentlicht. Ein Lied auf dem Band heisst "Ich, Sigmund Jähn". Wir würden diesen Song gerne zum Todestag des ersten Deutschen im All am 21.09.20 veröffentlichen. Daher unsere Bitte: Sollte jemand Informationen über Charlie Keller haben bitten wir um eine Nachricht an info@tapeterecords.de Bitte teilt unsere Anfrage auch mit euren Musikfreundinnen und Musikfreunden. Jeder auch noch so kleine Hinweis ist willkommen.
Vielen Dank!
Wir hatten gerade in Drewitz in Fronarbeit als servi publicani für eine Fla-Raketen-Stellung gerodet, immerhin - 2/3 Liter Bier pro Tag und Nase wie auf der Gorch Fock -
war ein Stunde eingegrunzt - wurde hochgepelzt. Dann hockte ich mit wehem Schädel
gut eine Stunde neben unserem Mädschor für Alligation und Popoganda, und aus seiner offenen Aktentasche grinste mich Jähns Ersatzmann als Farbfoto an, zuzüglich der erste Fliegerkosmonaut der Tätäräh - die Versuchung war groß. Die Vernunft war stärker.
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