Merkels 23-Minuten-Rede in der Wortwolke: Ein Bingo aus Gemeinplätzen, in dem weder Corona noch Flüchtlinge eine Rolle spielten. |
Es waren 23 Minuten der Hoffnung, des Glücks und der fast vollständigen Verzückung. Als Ralph Sina im ARD-Studio Brüssel den Fernseher einschaltete, um sich die wegweisende Rede der Bundeskanzlerin vor dem EU-Parlament anzuhören, lag ganz viel Seligkeit in der Luft. "Klare Kante, klare Worte", würde Sina später nach Hamburg kabeln und begeistert analysieren, wie die deutsche Kanzlerin Merkel zum Start der EU-Ratspräsidentschaft "ein leidenschaftliches Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit gehalten" und "eindringlich, drängend, kritisch die Leitlinien für die kommenden Monate gesetzt" habe.
Gleichermaßen verzückt und euphorisiert reagierte auch die Berliner Tageszeitung Taz: „Dieses Europa ist zu Großem fähig“, habe die Bundeskanzlerin in Brüssel "ungewöhnlich leidenschaftlich" gesagt. Gerade in Zeiten eines angekündigten "Wiederaufbaus" (Merkel) eine Überraschung: Nicht nur neue Töne habe Merkel angeschlagen, so die Taz, sondern "sie setzte auch andere Akzente als bisher".
Der dritte neue Aufbruch seit 2018
Eine recht überraschende Deutung, handelt es sich doch bei dem von Merkel ausgerufenen "neuen Aufbruch für Europa" bereits um den dritten innerhalb der vergangenen drei Jahre. Schon der Koalitionsvertrag, von CDU, CSU und SPD hatte diesen "neuen Aufbruch" angekündigt und sich dabei auf ein Grundsatzpapier der Grünen aus dem Jahr 2017 bezogen. Das wiederum war inspiriert worden von einer Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der angesichts der gewaltigen Erfolge Europas klargemacht hatte, dass um ein Neugründung Europas kein Weg herumführe.
Nun ist es soweit. Mit Merkels kapitaler Rede werden Neugründung, Aufbruch und Wiederaufbau eins. PPQ hat die politische Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech gebeten, die fundamentalste Ansprache einer deutschen Kanzlerin, die je in dem von Corona ganz besonders verheerten Belgien gehalten wurde, auf Papillarspuren von Strategie, Taktik und Konzeption zu analysieren. Hahnwech hat sich dabei auf eine Substantivanalyse gestützt - und sie ist auf erstaunliche Schwerpunktsetzungen gestoßen.
Europa kreist nur um Europa
Ganze 66 Mal erwähnte Angela Merkel "Europa", den Gegenstand aller Mühe auch dieser ihrer ersten Auslandsreise seit Beginn der Pandemie. Neunzehnmal kam "europäisch" hinzu, sechsmal EU und EU-Abgeordnete - allerdings nicht ein einziges Mal der Begriff "EU" oder auch nur "Europäische Union". Merkel wusste genau, auf welcher Bühne sie in Brüssel auftrat und was dort zu sagen ist, um das Publikum einzufangen: Die Menschen, die hier von der EU leben, repräsentieren nur den kleineren Teil der Europäer. Leben aber in der Vorstellung, sie allein und nur sie seien Europa.
In diesen Kreisen, in denen "EU" synonym für einen ganzen Kontinent steht, geht es weniger um "Menschen", die von Angela Merkel entsprechend nur elfmal als Gegenstand notwendiger Bemutterung erwähnt werden, sondern um die ominöse deutsche "Ratspräsidentschaft", von der seit Tagen zumindest in deutschen Medien so viel die Rede ist als habe es eine solche zuvor niemals und nirgendwo gegeben.
Während der große "Merkel speech" in Irland wie in Italien im Grund in etwa so zur Kenntnis genommen wurde, wie deutsche Medien die zurückliegenden Ratspräsidentenschaften von Malta und Kroatien begleiteten, entfaltet die Merkel-Rede eine besondere Magie auf professionelle Zuhörer. Mit neun Erwähnungen der "Grundrechte", die Merkels Regierung zuletzt selbst ausgesetzt hatte, und neun Beschwörungen der "Krise", die dafür verantwortlich war, appelliert Merkel achtmal an den "Zusammenhalt", sieben Mal an die "Demokratie" und fünfmal an die "Verwantwortung" der
"Mitgliedstaaten" (6) - Corona oder Covid-19 dagegen kommt in ihrer Rede nur am Rande vor.
Ein bunter Strauß an Funktionärsluftballons
Stattdessen spricht Merkel anonymisierend sechsmal von der "Pandemie", der die "Union" (6) mit den "Bürgern" (5) und der "Kommission" (ebenfalls 5) in dieser "Zeit" (5) der "Angst" (4) begegnen müsse. Ein Bingo aus Plattitüden, das mit viermal "Deutschland" und viermal "Digitalisierung", viermal "Klimaschutz" und viermal "Parlament" einen sehr soliden Mittelbau aus "Themen" (4) hat, die nie falsch sind. Wie einen bunten Strauß an Luftballons lässt die Kanzlerin, auf die sich alle Hoffnungen der professionellen Europäer richten, die Schlagworte fallen: Der "Schutz" (4) ist da und die "Unterstützung" (4), die "Wirtschaft" (4) und die "Aufgabe/n" (7), die "Freiheit" kommt zumindest dreimal vor, ebenso oft wie die "Solidarität", der "Wandel" und die "Zukunft".
Auffallend aber ist, was nahezu vollständig fehlt: Merkel erwähnt keine Kreditpakete und keine Flüchtlinge, keine europäischen Lösungen für das Grenzregime, nicht die USA, nicht Russland, sie vermeidet jeden Hinweis auf das Gesundheitssystem und die geplanten neuen CO2-Zölle an den Außengrenzen. Schengen kommt überhaupt nicht vor, genauso wenig wie der Brexit, das Mittelmeer oder die gemeinsame europäische Lösung zur Flüchtlingsverteilung, deren Abschluss Merkel vor zwei Jahren für "die nächsten 14 Tage" angekündigt hatte.
Kein Was, Warum und Wozu
Stattdessen konzentriert sich die deutsche Kanzlerin darauf, eine Rede zu halten, die den Funktionären schmeichelt. Die "Bürgerrechte" von 440 Millionen EU-Bürgern (2) sind bei ihr ebenso oft präsent wie die "EU-Ratspräsidentschaft", der "Euro" und die "Kommissionspräsidentin". Es geht je zweimal um "Vertiefung", "Veränderung" und "Vielfalt". Aber keinmal darum was und wie und wohin das alles.
Irgendwie "Gesundheit", "Gleichberechtigung", "Hoffnung" und "Milliarden" (je 2), dazu eine Prise "Nachhaltigkeit", "Ordnung" und "Prinzipien" (ebenfalls je 2) , und schon läuft der Laden und eine "Vision" (2) wird erkennbar: "Wer geglaubt hatte, Merkel werde um das Thema Rechtsstaatlichkeit einen großen Bogen machen, um die Zustimmung der osteuropäischen Länder zum Corona-Wiederaufbaufonds nicht zu gefährden, der sah sich getäuscht", hat ARD-Korrespondent Ralph Signa schon Minuten nach dem Verhallen des letzten Applauses zusammengefasst. Die Kanzlerin habe stattdessen "unmissverständlich" klargemacht, dass es zum "milliardenschweren Aufbaufonds, den sie gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron konzipiert hatte, keine Alternativen gibt."
Genaugenommen schaffte sie das sogar, ohne den Begriff "Alternativen" überhaupt zu verwenden.
4 Kommentare:
Die taz auf Linie mit der Regierung, das zeigt, dass die eine Seite so verrottet wie die andere Seite überflüssig ist.
Sehr schön gesagt, gratuliere!
Sehr schön gesagt!
OT noch ein neuer Aufbruch. Bald geht's ja um UEFA-Geld.
Der Relotius-Sportexperte sak/dpa schreibt bezüglich der Phase nach den Achtelfinalrückspielen:
"Viertelfinale und Halbfinale werden dabei jeweils in einem Spiel ausgetragen."
Wie muß man sich das praktisch vorstellen? 88 Leute auf'm Platz und alle 25 Minuten lichten sich die reihen?
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