Viele Jahre galt dieses Bundesland im alten Westen als ein Musterbeispiel für die geglückte Wiedervereinigung. Hessen, wie stolz das klang! Heimat jüdischer Vermächtnisse, Zuhause einer rechtslastigen CDU. Offenbach, Frankfurt und Wiesbaden hatten zahlreiche Ostdeutsche aufgenommen, dort hatten die sich zum Teil beispielhaft integriert. Sie tranken Appelwoi und schauten wie ihre urhessischen Nachbarn mit Misstrauen auf von ferneren Gestaden zugezogene Mitbürger. Gewalt aber gab es kaum, auch rechtsnazistische Bewegungen wie Pegida konnten im gutbürgerlichen Milieu der alten Gewerkschafts- und Bankenhochburgen nicht punkten.
Doch die glänzende Fassade zerfällt: Die Justiz in Hessen versagt, die Polizei ist auf dem rechten Auge blind und von Nazis unterwandert, und die Politik schaut tatenlos zu. Neben
Niedersachsen, das während der Edathy-Affäre als Schurkenstaat von sich reden machte, kippt nun ein zweites altes Bundesland aus dem Konsens der Demokraten.
Eine dringend notwendige Abrechnung mit Hessen, einem Bundesland, dessen Einwohner nicht nur den Mord an Walter Lübcke geschehen ließen, ohne aus Protest auf die Straße zu gehen, sondern auch den Fall Wächtersbach und die Nazi-Chats bei der Frankfurter Polizei zu verantworten haben.
Über zwei Jahrzehnte lang galt Deutschlands zentrales westliches Bundesland als Leuchtturm, dessen glänzende Entwicklung zu beweisen schien, dass sich die Anstrengungen der Wiedervereinigung gelohnt haben: Kaum Skandale, stabile Beschäftigung,
beste Wirtschaftsdaten,
sinkende Schulden. Selbst die SPD kam hier noch auf
Stimmanteile wie aus einer anderen Zeit.
Frankfurt entwickelte sich dank kluger Lobbyarbeit zum finanziellen Herzen Europas, das karolingische Kloster Lorsch mit seiner berühmten Torhalle, das Obere Mittelrheintal von Rüdesheim/Bingen bis Koblenz und die verfallenen Reste des obergermanisch-raetischer Limes waren ebenso wie der Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel Touristenmagnete mit Weltniveau. All das und noch viel mehr ließen das am 9. September 1945 unter dem Namen Groß-Hessen gegründete Land der Chatten den alten Glanz der Konradiner und der Ludowinger Grafen Heinrich Raspe I., Heinrich Raspe II., Heinrich Raspe III. und Konrad Raspe, dem späteren Hochmeister des Deutschen Ordens, zurück.
Doch nun hat Deutschland Grund zur Sorge sich um das kleine Bundesland am äußersten rechten Rand der alten Republik. Denn das Postkarten-Image des selbsternannten Weinlandes ist nicht mehr so makellos wie ein Fläschle Berbach Grauburgunder trocken. Es erweist sich als angekratzt, schadhaft, zerbrechlich. "Die Ereignisse der letzten Wochen haben das Bild Hessens schon beschädigt", sagt
Hans Achtelbuscher, der am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung lehrt, ursprünglich aber aus dem kleinen Dietzhölztal im Lahn-Dill-Kreis stammt. Auch die Bitterfelder Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech, die ihre ersten Gehversuche als
Gestenentschlüsselerin im hessischen Ginsheim-Gustavsburg machte, urteilt harsch: "Es gibt gewisse Dinge, von denen man glaubt, dass sie in Hessen nicht geschehen."
Die "gewissen Dinge" waren zuletzt aber so zahlreich, da vergisst man leicht das eine oder andere. Hier die Höhepunkte eines einzigen Monats: Ein Mann in Hessen erschießt einen Politiker. Ein anderer Mann schießt auf einen Mitbürger. In Hessen ist
der Hass zuhause,
hilflos schaue n selbst renommierte Medien zu, wie wiedereinmal nichts bemerkt wurde. Ein
SEK-Einsatz deutet auf ganze rechte Netzwerke.
Noch nie hat ein Bundesland die Republik mit so einer Serie beunruhigender und skandalöser Vorfälle in Atem gehalten. Dabei galt bisher das landschaftlich ehe
unauffällige kleine Sachsen,
das mit fünf Prozent der Bevölkerung rund acht Prozent der Gewalt gegen
Flüchtlingsheime produzierte, medial immer wieder als Zentrum des Bösen. Die
Sachse des Bösen, sie wurde von der FAZ geschmiert, von der taz beklagt und von "Spiegel", Stern und dem restlichen
Meute beklatscht, als hätten nicht dieselben Edelfedern einst zumindest im Geiste in Mittweida gestanden und der armen, armen Rebecca K. die Ärmchen verbunden.
Sachsen galt als beispielhaftes Problemland, Heim eines "ängstlichen Mobs
minderbemittelter Dörfler" (Turi 2) wie aus dem Bilderbuch des braunen Unmenschen, ein Schandfleck (Morgenpost) auf
Deutschlands weißer Hilfeweste.
Obwohl auch das benachbarte Thüringen –
rot-rot regiert - mit 71 Straftaten auf 2,1 Millionen Menschen eine
mehr als doppelt
so hohe Quote bringt und das noch zwergenhaftere
Saarland es mit nur einem Prozent der Einwohner Deutschlands im Jahr 2015 auf knapp 4,5 Prozent
aller Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte brachte, konzentrierte sich vieles auf die Sachsen, einen deutschen Volksstamm und mitteldeutschen Menschenschlag, der "goofen"
statt kaufen, "Gobb" statt Kopf sagt und einst dennoch "90 Prozent aller
Partei- und Staatsfunktionäre der DDR" (alle Zitate "Spiegel") stellte.
Unter der "konsonantenschwachen Mundart" der ostzonalen Führer litten Millionen, aber es
litt damals auch die innere Einheit. Denn die Diskreditierung alles
Sächsischen in Westdeutschland war, so attestierte der "Spiegel", schon
"so weit fortgeschritten, dass die Befürchtung, dies könne "zu einer
Verfemung und Verketzerung des obersächsischen Stammes unseres deutschen
Volkes führen", selbst in Hamburg nicht mehr von der Hand zu weisen
war.
Erst jetzt eilt Hessen helfend herbei und die dortige Wohnbevölkerung macht deutlich, dass es nicht nur bei Pegida an der Elbe besorgte Bürger gibt, sondern auch in Wiesbaden und Darmstadt, Fulda und Rodgau, jenen Traumidyllen der alten Bundesrepublik, über die die vergessene Band Rodgau Monotones einst sang "Erbarmen, die Hessen kommen".
Nun sind sie da, ein Gespenst aus den Anschlussgebieten, hinter deren üblem Treiben selbst die Nachbarn aus dem
Schurkenstaat Niedersachsen hilflos zurückbleiben wie an der Bahnsteigkante zurückgelassene Kinder. Hessen gilt nun als der Hort des Bösen schlechthin, ein unterschätzter, über die Maßen von Äppelwoi und Babbelsprache weggetarnter Landstrich, der sich plötzlich als Ausgeburt des Fürchterlichen entpuppt.
Vor 20 Jahren wurde Roland Koch zum "König" des stets im Schatten des benachbarten Freistaats Bayern stehenden kleinen Landes gewählt. Bis 2010 regierte die CDU ohne Unterbrechung. Nur die SPD und die Nassauer waren in Wiesbaden länger an der Macht. Die CDU hat das Land geprägt und zweifelsohne zu beachtlichen Erfolgen geführt. "Die Kehrseite davon ist: Was nicht zu dieser Erfolgsgeschichte passt, wird verdrängt", sagt Hans Achtelbuscher. Als Koch am 30. August 2010 in einer Feier mit militärischer
Serenade aus dem Amt schied, weil seine extremen Positionen in der zusehends nach links rückenden Partei nicht mehr vermittelbar waren, übernahm mit Volker Bouffier ein nur drei Jahre jüngerer Haudegen, der schon bei Walter Wallmann in den 80er Jahren Staatssekretär gewesen war.
Die Ereignisse in Wächtershausen, die Verquickungen mit dem NSU, die
Polizei-Chats und
brennende Flüchtlingsheime haben ein Muster offengelegt, das in der hessischen Politik schon seit vielen Jahren eifrig praktiziert wird: leugnen, verdrängen, aber auf gar keinen Fall Konsequenzen ziehen. Bislang galt der "Sachsensumpf" als schillerndstes Beispiel dafür, doch schon die Ermittlungen im Fall der als angebliches Erbe deutscher Juden getarnten illegalen Parteispenden zeigten, dass Hessen brutalstmöglich auf Augenhöhe agierte. Verträge wurden rückdatiert, Wahlkämpfe mit Schwarzgeld finanziert und Millionen unterschlagen. Der Rechtstaat war suspendiert, Journalisten liefen gegen Mauern, die Opfer ins Leere und Urteile gab es nicht.
Das Vertrauen in die Polizei und die Justiz Hessens wurde nicht erst durch das Versagen in diesem Fall schwer beschädigt. Auch beim NSU-Komplex verliefen die Ermittlungen der hessischen Behörden seltsam schleppend. Böse Zungen sagen, weil der Verfassungsschutz des Landes einen V-Mann direkt an der Untergrundgruppe platziert hatte.
Dass es nun Jahre später zu einem Wiederaufleben des rechten Terrors in Hessen kommt, verwundert kaum. Die weitverbreitete These, dass Ostdeutsche für Rechtsextremismus und Mneschenfeindlichkeit anfällig, Westdeutsche hingegen immun seien, ist hinfällig. Heute widerspricht auch Frauke Hahnwech, die als externe Beobachterin stets neugierig nach Hessen schaut: "Das Rechtsextremismusproblem in Hessen ist größer als in anderen Ländern." Schlafende Hunde und einsame Wölfe hielten sich nicht die CDU an die ausgegebenen Parole, dass Offensichtliche konsequent zu leugnen. Ein brauner Faden durchwirkt die hessische Landespolitik.
Frankfurt,
Darmstadt,
Butzbach und
Gießen, Wetzlar und Kassel-Nord-Holland. Auf jeden Anschlag folgt die Beteuerung: Mit Hessen hat das nichts zu tun. Anschlag-Leugnen-Anschlag-Leugnen. Der hessische Refrain.
Das Ende vom Lied: Bezogen auf die Bevölkerung werden in Hessen mehr
Hassstraftaten registriert als im Saarland. Alltag im Heimatland des Hasses, wo
Nazi-Netzwerke "extrem verborgen" agieren, wie der "Spiegel" enthüllt. Aber auch öffentlich: Erst kürzlich marschierte die Kleinstpartei die Rechte durch Kassel, mitten in der Stadt versammeln sie sich. Es ist Samstag, 15 Uhr. Die Neonazis haben den prominentesten Platz der Stadt für sich reserviert. Bei der Besetzung des öffentlichen Raumes genießen rechtsextreme Gruppen in Hessen Gewohnheitsrecht.
Die Hessen übersehen und überhören ihre demonstrierenden Landsleute routiniert. Gerademal 10.000 der mehr als 200.000 Kasseler sind in Kassel gekommen, der Stadt,
in der der Neonazi-Führer Michael Kühnen geboren wurde, um gegen den Rechtsrutsch der Stadt zu protestieren. Gewöhnungseffekt. Touristen laufen achtlos vorbei, neugierige Ausländer, Einkaufslustige. Dass keine hundert Meter weiter Neonazis demonstrieren, ignorieren sie.
"Nazis raus!", ruft ein junger Mann. "Nazis raus!", antwortet eine junge Frau am anderen Ende des Platzes. Es sind Einzelstimmen hier in Hessen. In der 273.000-Einwohner-Stadt Wiesbaden kommen zu einer
Protestdemo gegen Rassismus nach dem Anschlag auf einen Eritreer ganze 200 Menschen.