Claas Relotius hat mit seinen bewegenden Reportagen viele Preise gewonnen, oftmals sogar, ohne sich zum beschriebenen Ereignisort zu begeben. Relotius schuf Hyperrealitäten, wahrer als wahr, einprägsamer als echt, ausgedacht, aber klar und deutlich wie ein Zeitzeichen. Seine Reportage aus Fergus Falls ist heute schon Legende, ein Werk, gegen das viele Kleinstadtnovellen von Stephen King wie Dokumentarfilme wirken.
James Lileks von der "Star Tribune" aus Minneapolis ist deshalb zum Gegenbesuch aufgebrochen - ohne sich zu bewegen, klimaneutral, aber vom festen Willen beseelt, nur die Wahrheit zu schrieben über das, was er beim "Spiegel" in Hamburg erlebt.
Hier sein Bericht, exklusiv bei PPQ.
Im Namen aller Menschen in Fergus Falls, denen eine gefälschte Geschichte des Spiegel-Magazins über ihre geliebte Stadt peinlich war, dachte ich, es wäre fair, die Büros des "Spiegel" zu besuchen und zu sehen, was sie dort zu erleben ist.
Die Büros befinden sich hoch in den Alpen in einer Burg. Ein Schild mit der Aufschrift „Wer keine Lederhose trägt, kehrt jetzt bitte um!“ klebt am Straßenrand, aber mein Fahrer, ein nicht sehr heller Bursche namens Horst, erklärte, dass es nicht ernst genommen werden sollte. "Es ist nicht so, dass wir Menschen beurteilen, die Stereotypen nach ihrem Erscheinungsbild verwenden", sagte er. Dann bot er mir aber an, mir zumindest sein Alpenhütchen mit Gamsbart zu verkaufen, damit ich in die typische Spiegel-Szene hineinpasse.
Beim "Spiegel" dann keine Überraschung. Die Angestellte an der Rezeption, Ilsa Shewolff, 32, eine ehemalige Frauengefängniswärterin, starrt mich furchterregend an, wischt einen Tabakfleck von ihren roten Lippen und führt mich in einen Saal, der mit Büsten ehemaliger Redakteure ausgestattet ist, die Karriere in anderen europäischen Zeitschriften gemacht haben. Sie öffnet die Tür des Redakteurs und lächelt spöttisch. "Er will dich jetzt sehen", sagt sie zu mir und fügt leise hinzu: "Schweine".
Der Redakteur Adolph B. Beethoven sitzt hinter einem massiven Schreibtisch und studiert eine Europakarte. Er bespricht sich offenbar gerade mit einem fahlen Mann in brauner Uniform. Auf mich wirkt das wie die Planung einer Invasion, aber es stellt sich heraus, dass der braune Mann ein UPS-Angestellter ist.
"Jawohl", gesteht er mir. Beethoven ist ein kompakter Mann in den Fünfzigern, gekleidet in Lederhosen; auf seinem Kopf sitzt eine grüne Filzmütze, in deren Rand eine Feder steckte. Er trägt eine Luger am Gürtel. "Schnaps", fragt er freundlich, "oder ein Schnitzel?"
Ich lehne beides ab, danke ihm aber dafür und startet meinen Recorder. „Du bist Amerikaner, nein?", sagt er, "ich dachte eigentlich, ihr seit fetter". Beethoven will mehr über meine Reise erfahren. "Es muss verwirrend gewesen sein, wenn alle Straßenschilder ohne Meilenangaben auskommen." Er lächelt mich humorlos an und tätschelt den keuchenden deutschen Schäferhund an seiner Seite.
"Kümmere dich nicht um Willy", sagte er. "Wenn Du nicht arisch wärst, hätte er deine Kehle jetzt schon draußen gehabt." Ich bin beruhigt. „Ja, ich bin auch ein Hundeliebhaber!", sage ich und erkläre, dass ich gekommen bin, um die faulen Vorurteile unserer Leserschaft drüben in Minnesota zu bestätigen und ihre ungeprüften Annahmen über die Europäer und insbesondere die Deutschen zu bekräftigen.
„Ich war gerade in Frankreich, wo ich einige Männer in Cafés interviewte, die starke Zigaretten rauchten, während sie in der Baguette-Fabrik über die Philosophie argumentierten", beschreibe ich meine Rechercheergebnisse. Und natürlich hätte ich einen Stopp in England gemacht, wo ich mit einem Mann mit schlechten Zähnen sprach, der winzige Melonenhüte für die Mitarbeiter der Königin herstellt. "Und nun, ich hatte das Gefühl, dass es meine Pflicht war, auch hierher zu kommen, um die deutsche Perspektive kennenzulernen."
Es interessiert mich vor allem, wie die Redakteure einer berühmten Zeitschrift jemandem glauben konnten, der bei seinen Reisen leichterhand jede Verkörperung aller unwissenden Vorurteile über Amerika zu finden schien? "Mein Redakteur wird es nicht für eine Sekunde glauben, wenn ich sage, dass ich mit Adolph Beethoven gesprochen habe", gestehe ich. Doch Adolph Beethoven zuckt nur mit den Schultern. „Wir sind nicht wie Sie Amerikaner, die denken, dass Sie immer recht haben", erklärt er, "wir sind die Deutschen, die wissen, dass wir immer recht haben. “
Ich dankte ihm für seine Zeit und verließ das "Spiegel"-Schloss mit einer V-2-Rakete.
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