Es war 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau. Im Osten regierten ein Sachse und der Hass, der Westen schaute besorgt über die frischbefestigte Grenze. Die Herrschaftsausübung, dieser Dialekt! Ein deutscher Volksstamm, ein "mitteldeutscher Menschenschlag", der "goofen" statt kaufen, "Gobb" statt Kopf sagte und dennoch "90 Prozent aller Partei- und Staatsfunktionäre der DDR" (alle Zitate "Spiegel") stellte.
Unter dieser "konsonantenschwachen Mundart" litten Millionen, aber es litt damals auch die innere Einheit. Denn die Diskreditierung alles Sächsischen in Westdeutschland war, so attestierte der "Spiegel", schon "so weit fortgeschritten, dass die Befürchtung, dies könne "zu einer Verfemung und Verketzerung des obersächsischen Stammes unseres deutschen Volkes führen", selbst in Hamburg nicht mehr von der Hand zu weisen war. "Unheilvoller Sachsenhass" und "untergründige Saxophobie" zeigten sich darin, dass Sachsen in Berlin "als fünfte Besatzungsmacht" bezeichnet wurden. "Sächsische Mundart und kommunistische Gesinnung drohen für den westdeutschen Bürger identisch zu werden", warnte der "Spiegel", der in jenen düsteren Jahren der jungen Demokratie noch keiner Macht zum Munde sprach.
Und er bekam prominente Unterstützung. Der im Rheinland lebende Schriftsteller Rolf Schroers ("Meine deutsche Frage") sah die sächsische Mundart in seiner Umgebung bereits "als Jargon des Teufels" gelten, denn "sie ist die Sprache der Mauerposten von Berlin - und die Sprache Ulbrichts".
Dahinter verschwammen andere große Sachsen wie "Luther, Leibniz, Lessing, Novalis, Nietzsche, Händel, Bach, Schumann, Wagner" (Aufzählung "Spiegel"), in deren Mund sich der weiche Slang aus Chemnitz, Leipzig und Plauen "sich des besten Rufs erfreut" hatte. Der Genieforscher Ernst Kretschmer, ein Württemberger, dessen Fördermitgliedschaft bei der SS dem "Spiegel" angelegentlich der sächsischen Erörterungen keine Zeile wert war, habe Sachsen nicht zufällig, sondern wegen des "Zusammentreffens der musikalischen und der dichterischphilosophischen Begabung" für die absolut geniereichste deutsche Landschaft gehalten.
Damals gab es, anders als heute, noch wackere Verteidiger des Sachsentums. So wandte sich der ins Rheinland emigrierte Schriftsteller Gerhard Zwerenz, nach eigenem Bekunden weiterhin "ein sächsischer Patriot", gegen "die neudeutsche Saxophobie": "Gerade heute, im Zeitalter der dummen Schlußfolgerungen und üblen Nachreden, ist darauf zu halten, daß die Sachsen nicht schlechter sind als andere Modifikationen des Deutschen." Sachlicher ließ sich der Schweizer Francois Bondy vernehmen, der die Saxophobie als den Versuch diagnostizierte, "die ideologische (Ost-West-) Trennung zu einer geographischen Sortierung zu machen".
Das kann 56 Jahre später als rundherum gelungen gelten. Aus der "böswilligen Legende, Sachsen und Kommunisten seien identisch" (Spiegel), ist die Gewissheit geworden, dass der Sachsenhass das verdiente Schicksal derer ist, die der Sachse des Bösen nicht abschwören, indem sie niedersächseln, icken oder bayrisch sprechen.
Immerhin: Aus den damals 5,48 Millionen Sachsen sind bis heute nur noch vier Millionen geworden, das Problem ist also um fast 30 Prozent kleiner geworden. Doch wie der "Spiegel" weitsichtig schon 1962 konstatieren musste: Es gibt noch mehr Mitteldeutsche, die ein p in ein b und ein k in ein g verwandeln: die 1,96 Millionen Einwohner des damaligen DDR-Bezirkes Halle, die 0,80 Millionen Bürger des Bezirks Cottbus sowie die 2,5 Millionen Thüringer der Bezirke Gera, Erfurt und Suhl. Sie alle sprechen Thüringisch und Obersächsisch, schlimme Abarten des stark akzentuierten, satzmelodischen ostmitteldeutschen Idioms, das durch Vermischung fränkischer, thüringischer, (nieder-)sächsischer und eingesessener slawischer Bevölkerungsteile entstand.
Zusammengerechnet waren damals 10,75 Millionen der 17,08 Millionen DDR-Bürger mehr oder weniger Sachsen. Das waren rund 63 Prozent der DDR-Bevölkerung. Diesem Bevölkerungsanteil stand ein Funktionärsanteil in der DDR-Elite von "allerhöchstens 67 bis 72 Prozent" gegenüber, etwas mehr, als der Sachsen-Anteils an der DDR-Gesamtbevölkerung erlaubt hätte. Aber nicht so viel, dass von einer totalen Dominanz der Sachsen im Osten hätte gesprochen werden können. Im ZK der SED war Großsachsen sogar eindeutig benachteiligt: Sächsischsprecher stellten nur 32 von 111 ZK-Genossen.
Stolz, verglichen mit heute: Im Bundeskabinett sitzt gar kein Sachse mehr, unter den 30 Staatssekretären sind es nur zwei, unter den acht Chefs der sechs Bundestagsparteien nur eine(r). Nach etwas mehr als einem halben Jahrhundert hat der Sachsenhass gesiegt. Aber wie das ist mit Hass, diesem gehassten Gefühl: Er hört nicht auf, wenn es vorüber ist. Im Gegenteil.
Nach Motiven von Der Spiegel, "Herrenvolk", 22.08.1962 - Seite 40
Unter dieser "konsonantenschwachen Mundart" litten Millionen, aber es litt damals auch die innere Einheit. Denn die Diskreditierung alles Sächsischen in Westdeutschland war, so attestierte der "Spiegel", schon "so weit fortgeschritten, dass die Befürchtung, dies könne "zu einer Verfemung und Verketzerung des obersächsischen Stammes unseres deutschen Volkes führen", selbst in Hamburg nicht mehr von der Hand zu weisen war. "Unheilvoller Sachsenhass" und "untergründige Saxophobie" zeigten sich darin, dass Sachsen in Berlin "als fünfte Besatzungsmacht" bezeichnet wurden. "Sächsische Mundart und kommunistische Gesinnung drohen für den westdeutschen Bürger identisch zu werden", warnte der "Spiegel", der in jenen düsteren Jahren der jungen Demokratie noch keiner Macht zum Munde sprach.
Und er bekam prominente Unterstützung. Der im Rheinland lebende Schriftsteller Rolf Schroers ("Meine deutsche Frage") sah die sächsische Mundart in seiner Umgebung bereits "als Jargon des Teufels" gelten, denn "sie ist die Sprache der Mauerposten von Berlin - und die Sprache Ulbrichts".
Dahinter verschwammen andere große Sachsen wie "Luther, Leibniz, Lessing, Novalis, Nietzsche, Händel, Bach, Schumann, Wagner" (Aufzählung "Spiegel"), in deren Mund sich der weiche Slang aus Chemnitz, Leipzig und Plauen "sich des besten Rufs erfreut" hatte. Der Genieforscher Ernst Kretschmer, ein Württemberger, dessen Fördermitgliedschaft bei der SS dem "Spiegel" angelegentlich der sächsischen Erörterungen keine Zeile wert war, habe Sachsen nicht zufällig, sondern wegen des "Zusammentreffens der musikalischen und der dichterischphilosophischen Begabung" für die absolut geniereichste deutsche Landschaft gehalten.
Damals gab es, anders als heute, noch wackere Verteidiger des Sachsentums. So wandte sich der ins Rheinland emigrierte Schriftsteller Gerhard Zwerenz, nach eigenem Bekunden weiterhin "ein sächsischer Patriot", gegen "die neudeutsche Saxophobie": "Gerade heute, im Zeitalter der dummen Schlußfolgerungen und üblen Nachreden, ist darauf zu halten, daß die Sachsen nicht schlechter sind als andere Modifikationen des Deutschen." Sachlicher ließ sich der Schweizer Francois Bondy vernehmen, der die Saxophobie als den Versuch diagnostizierte, "die ideologische (Ost-West-) Trennung zu einer geographischen Sortierung zu machen".
Das kann 56 Jahre später als rundherum gelungen gelten. Aus der "böswilligen Legende, Sachsen und Kommunisten seien identisch" (Spiegel), ist die Gewissheit geworden, dass der Sachsenhass das verdiente Schicksal derer ist, die der Sachse des Bösen nicht abschwören, indem sie niedersächseln, icken oder bayrisch sprechen.
Immerhin: Aus den damals 5,48 Millionen Sachsen sind bis heute nur noch vier Millionen geworden, das Problem ist also um fast 30 Prozent kleiner geworden. Doch wie der "Spiegel" weitsichtig schon 1962 konstatieren musste: Es gibt noch mehr Mitteldeutsche, die ein p in ein b und ein k in ein g verwandeln: die 1,96 Millionen Einwohner des damaligen DDR-Bezirkes Halle, die 0,80 Millionen Bürger des Bezirks Cottbus sowie die 2,5 Millionen Thüringer der Bezirke Gera, Erfurt und Suhl. Sie alle sprechen Thüringisch und Obersächsisch, schlimme Abarten des stark akzentuierten, satzmelodischen ostmitteldeutschen Idioms, das durch Vermischung fränkischer, thüringischer, (nieder-)sächsischer und eingesessener slawischer Bevölkerungsteile entstand.
Zusammengerechnet waren damals 10,75 Millionen der 17,08 Millionen DDR-Bürger mehr oder weniger Sachsen. Das waren rund 63 Prozent der DDR-Bevölkerung. Diesem Bevölkerungsanteil stand ein Funktionärsanteil in der DDR-Elite von "allerhöchstens 67 bis 72 Prozent" gegenüber, etwas mehr, als der Sachsen-Anteils an der DDR-Gesamtbevölkerung erlaubt hätte. Aber nicht so viel, dass von einer totalen Dominanz der Sachsen im Osten hätte gesprochen werden können. Im ZK der SED war Großsachsen sogar eindeutig benachteiligt: Sächsischsprecher stellten nur 32 von 111 ZK-Genossen.
Stolz, verglichen mit heute: Im Bundeskabinett sitzt gar kein Sachse mehr, unter den 30 Staatssekretären sind es nur zwei, unter den acht Chefs der sechs Bundestagsparteien nur eine(r). Nach etwas mehr als einem halben Jahrhundert hat der Sachsenhass gesiegt. Aber wie das ist mit Hass, diesem gehassten Gefühl: Er hört nicht auf, wenn es vorüber ist. Im Gegenteil.
Nach Motiven von Der Spiegel, "Herrenvolk", 22.08.1962 - Seite 40
4 Kommentare:
Ist nicht "o" auch ein bißchen "ö" ?
Was mir in Drääääsden ein bißchen auf den Zeiger geht, ist dieses "nunu" !
@herold:ö kommt nur raus, wenn man sich nicht traut, die Gusche aufzumachen und mit spitzem Mund spricht.
Der Laut ist ein ou, und um den korrekt auszusprechen muss man die Gusche eben breit machen, sonst kommt bloß Nachgeäffe heraus, welches den Sprecher bloßstellt.
Was ja auch nicht zu verachten ist.
Man schaue sich mal die Liste der Schüler an, die Deutschland bei den internationalen Mathe- und Physikwettbewerben vertreten. Und auch der frischgebackene Träger der Fields-Medaille ist gebürtiger Sachse.
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