Freitag, 16. Februar 2018

Angela Merkel: Ein Zwiegespräch im Hinterzimmer des Hofes

Angela Merkel: Am Tag danach blickte sie aus dem Fenster.

Am Tag danach blickte sie aus dem Fenster. Unten lag Berlin, die Stadt, in der sie immer hatte leben wollen. Den Menschen, die dort unten vorbeigingen, ohne einen Blick hinauf zu ihr, die hinter den endlosen Glasfassade stand, unsichtbar, aber mit ihren Entscheidungen allgegenwärtig im Leben aller, hatte sie Frieden bringen wollen, Frieden und Glück, Wohlstand, Zufriedenheit. Darauf hatte sie alle ihr Anstrengungen konzentriert, so viele Jahre lang, eigentlich seit damals, als der große, dicke Mann sie angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass sie, sein "Mädchen", nun bei ihm Ministerin werden sollte.

Moment eines flüchtigen Traums


Hatte sie richtig gehandelt? Welche Macht hätte Deutschland wohl erlangt, wenn sie das Bündnis mit dem Machthaber von Moskau nicht gekündigt hätte? Sie gab sich für einen Moment einem flüchtigen Traum von einer gewaltigen Wiedereroberung aller Länder hin, die verloren worden waren und der Rückgewinn ihren Ruhm weit in zukünftige Jahrhunderte hineingetragen hätte. Sie selbst sprach die Sprache des Mannes, der nun ihr Feind war. Er sprach auch ihre, sie beide waren in derselben Kultur aufgewachsen und anfangs hatte es auch gut gepasst zwischen ihnen. Bis der andere, drüben auf der anderen Seite des Ozeans, begonnen hatte, Frieden auf seine Weise zu machen. So vieles war, dachte sie, kaputtgegangen.

Sie wandte sich vom Fenster ab und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sie griff nach einem Stoß von Papieren, die auf ihrem sonst leeren, blankpolierten Schreibtisch lagen, der die Form eines halben Rades hatte. Schluss mit dem Katastrophengerede, dachte sie sich.

Sie beugte ihre Schultern und las, doch ihre Gedanken schweiften wieder ab. Diesmal zu einem Datum. 1989! Das Todesjahr des Landes, in dem sie aufgewachsen war. Damals hatte sie kein anderes begehrt. Erst die Aufstände im jenem nebligen Herbst hatten sie aus ihrer tief empfundenen Duldungsstarre gerissen. Vor der aufgebrachten Bevölkerung, von der sie damals noch als "Volk" gedacht hatte, weil sie es nicht besser wusste, die sich gegen so viele Beschränkungen und Verbote auflehnte, hatte sich die Regierung erst in ihre Bunker flüchten und dann abtreten müssen. Im folgenden Jahre ließen neue Männer die alten festnehmen, es wurden Plätze frei, auf die Männer und Frauen wie sie nachrücken konnten, Mitte 30, bis dahin ohne Aussicht auf gesellschaftlichen Rang, weil traditionell nur der Tod Raum für Aufstieg schuf.

Erloschene Züge, erkalteter Körper


Und nun? Nun war nach so vielen anderen sie selbst an die Reihe gekommen. Es brodelte im Land, es grummelte selbst ihre treue, meist wie hirntot vegetierende Partei. Sie selbst fühlte sich kaum besser. Ihre Züge waren erloschen, ihr Körper erkaltet. Ihr unermüdliches Gehirn, darauf trainiert, die Dinge vom Ende her zu denken, physikalisch auf Menschen zu schauen und ihre Nützlichkeit einzuschätzen, schien ihr zu lahmen. Ihr Wille, ihre harte, ehrgeizige Seele, alles war weggewischt. Nur ihr Werk war geblieben, aber für wen?


Sie hatte keine Kinder, denn sie hatte sich früh entschlossen, alle diese Menschen da draußen im Lande als ihre Kinder zu betrachten. Sie hatte sie bemuttert und erzogen, gesäugt mit der warmen Milch ihrer Sorge. Und nun wandten sie sich ab, trotzig fast. Ein Zweifel huschte ihr durchs Hirn. Sollte alles falsch gewesen sein? Oder wo genau war der Fehler passiert? Hatte sie nicht alles gegeben? Und hatte das nicht immer gereicht?

Nein, ihr Leben war kein gewöhnliches Menschenleben gewesen. Hinter der offiziellen Persönlichkeit kam keine einzige von all den kleinen Intimitäten und rührenden Nichtigkeiten zum Vorschein, die ein Mensch hinterlässt und die nur die Gedankenlosigkeit der Mitmenschen nicht wahrnimmt. Sie, niemand wusste das besser als sie selbst, glich völlig dem Bild, das man sich von ihr machte. Sie hatte ihr Leben mit dem des Landes identifiziert, ihre Hauptstadt war ihr Herz, der Staat ihr Geist, der ganze Kontinent ihr Körper, über den sie all die Jahre geboten hatte wie über ihre fleischlichen Arme, Beine und Hände.

Sie blätterte in dem Papierstapel. Alle ihre Geheimnisse bis hin zu jenem größten, dem "Hades-Plan", fanden sich hier sauber aufgezeichnet. Ein unbestechliches Zeugnis ihres Lebenswerkes. Wie viel Vergessenes schlummert hier, dachte sie. Wie viele Hinterzimmerabsprachen, wie viele Spiele über Bande, wie viele Prozesse, Tote. Ein Strom von Schweiß, Tinte und Blut. Wozu, fragte sie sich? Welchen Acker habe ich fruchtbar gemacht? Welches Kind geboren? Welchen Apfelbaum gepflanzt?

Wo sind meine Siege?


Starren Blickes hing sie ihren Gedanken nach. "Warum?", fragte sie sich immer wieder. "Zu welchem Zweck? Wo sind meine Siege? Nichts ist geschaffen, was mich überdauern wird." Beim Gedanken an den eigenen Tod empfand sie voll Bitternis die Eitelkeit allen Tuns, dieses Ausgelöschtsein, als habe man nie existiert. Es war ihr für einen dunklen Augenblick, als bestehe die Welt nur zum Schein. Sie hob den Blick hinüber zu Peter, ihrem treuesten Gefolgsmann, einem ritterlichen Riesen von ungeschlachter Gestalt mit dem Gesicht eines Bernhardiners, in dem zwei liebe Augen ruhten.

Peter saß unbeweglich. Die Schwermut seiner Kanzlerin beunruhigte ihn. Er hatte sich verhältnismäßig leicht in seiner stets wachsenden Arbeit, seinen Ämtern und Würden zurechtgefunden; nur die neue Schweigsamkeit seiner Herrin war ihm ein Rätsel. Er war nun nie mehr sicher, sie richtig zu deuten. "Wir haben den Mann mit den Haaren im Gesicht entfernen lassen", sagte die Kanzlerin unvermittelt mit leiser Stimme, "aber war das wirklich nötig?" Ihr schwante, dass ein Kartenhaus fällt, wenn eine Karte zu viel herausgezogen wird. Und so viele Karten hatte sie schon opfern müssen! Sie dachte an Thomas, den sie oft den heiligen Thomas genannt hatte. An Wolfgang, der den höchsten Preis hatte zahlen müssen und doch standhaft geblieben war, sogar im Sitzen. Sie dachte auch an Helmut,  der ihr die Gelegenheit gegeben hatte, ihn zu verraten. Der Beginn ihres Aufstiegs.

"Es war vorteilhaft für alle", erwiderte Peter mit überraschend hoher Stimme. Er wusste natürlich, wer "der Mann mit den Haaren im Gesicht" war, denn er selbst hatte dessen ehrgeizige Nachfolgerin über den Beschluss informiert, nicht mehr an ihm festzuhalten. "Es war nötig, dass wir hier keine Rücksicht nahmen, denn er beabsichtigte, gegen Euch zu konspirieren, weil ihr nicht die Politik betriebt, die ihm genehm war." Für Peter, der selbst ein gewiefter Taktiker war, gewaschen mit allen trüben Wassern der Hinterzimmerdiplomatie, stand außer Frage, dass Machterhalt stets das erste Bestreben  jedes Politikers sein musste. Wie sonst könnte er weiter Gutes tun? Ohne Macht?

Von niemandem als Gott


"Ihr habt zu Eurer Kanzlerinnenpflicht gestanden", sagte er fast schon tröstend. "Ihr seid auf dem Platz geblieben, auf den Gott Euch gestellt hat, und Ihr habt erklärt, dass Ihr unser Land von niemandem als von Gott und dem seligen Helmut Kohl zu Lehen habt." Peter, auf dessen Glatze gerade ein Sonnenstrahl fiel, der die Haut zum Glänzen brachte, wisperte halblaut: “Ich bin mir sicher, dass wir auf dem kommenden CDU-Parteitag eine breite Mehrheit für diese Koalition bekommen werden, weil die große Mehrheit in der Partei weiß: Die Bevölkerung wünscht Sie weiterhin als Bundeskanzlerin”.

Die Kanzlerin aber schüttelte den Kopf und deutete auf den Papierberg vor ihr: "Und unsere Gegner?", fragte sie, "haben wir uns nicht einiger zu viel entledigt? Sie sind menschliche Wesen, müssen leiden und sterben wie wir. Gott hat es uns nicht befohlen."

"Viele von ihnen hassten Euch, und das Land brauchte Klarheit", sprach Peter mit leiser Stimme. "Das Land, der Staat", sagte er, "es musste sein für die Zukunft". Peter richtete den Blick zu Boden, auf den festen Flausch der grauen Auslegware. Er spürte die Unruhe der Frau, die er nur "Chefin" nannte.

"Was aber habe ich geliebt", sagte die nun, leiser noch als er. "Die Gerechtigkeit", entgegnete er fest, "die Gerechtigkeit, die dem Gemeinwohl nottut und alle diejenigen bestraft, die sich dem Gang der Welt widersetzen". Peter war überzeugt, dass die Dinge sind, weil sie so sein müssen. Handeln war alternativlos, manches musste getan werden, weil es nötig war. Es hatte wenig Sinn, danach darüber zu lamentieren. Sie hatten es immer so gehalten, das deshalb auch nicht zu tun. "Verschüttete Milch", dachte er, "man wird sie nicht aufschlecken, man will es nicht."

"Es gab viele, die sich dem Gang der Welt widersetzten während meiner Regierungszeit, und sie werden auch weiterhin zahlreich sein, wenn die zukünftigen Jahrhunderte den vergangenen gleichen", hörte er die Kanzlerin sagen, nun wieder mit festerem Klang. Sie hob die Akten auf und ließ sie eine nach der anderen wieder auf den Tisch fallen. "Die Macht ist ein bitter Ding", sagte sie, "es gibt nichts Großes, das nicht auch seinen Teil Galle in sich trägt".

Road to nowhere


Peter hörte es mit einem Ohr, im anderen saß ihm ein Lied, das er auf der Herfahrt im Radio gehört hatte. "Maybe you wonder where you are, I don't care, here is where time is on our side, take you there, take you there", hatte ein Mann mit schriller Stimme gesungen. Er wollte trösten, Zuspruch geben. "Bedenkt, dass ihr Europa vereint habt, neues Recht geschaffen, die Grenzen geöffnet, Hunderttausende gerettet", fiel ihm ein. Und noch mehr: "Ihr habt unsere Städte mit Terrorsperren befestigt, damit sie nicht schutzlos dem Feind ausgeliefert seien, ihr habt die Gesetze geändert, immer wieder, ihr habt dem Parlament einen Weg gezeigt, wie es euch folgen kann, auch wo es nicht wollte."

Er war nun sicher: "Nein, Angela, Eure Befürchtung, geirrt zu haben, ist grundlos", sagte er, die Stimme nun gesenkt und mit einem Unterklang an Vertrautheit. Aus einem zerrissenen Reich habe sie und nur sie ein Land gemacht, das nur ein einziges Herz besitze, redete er weiter, der Kontinent sei endlich geeint, der Feind im Osten zornig, aber nicht in der Lage, wirklich anzutreten gegen die Macht aus der Mitte.

Das verfing. Die Chefin erhob sich. Die unbeirrbare Überzeugung ihres Kanzleramtsministers beruhigte sie und stützte sie im Kampf gegen eine Schwäche, die nicht seiner Natur entsprach. "Vielleicht habt Ihr recht, Peter. Aber wenn Ihr mit der Vergangenheit zufrieden seid, was sagt Ihr dann zur Gegenwart?" Der Blick der mächtigsten Frau der Welt ging wieder zum Fenster, hinaus in die Weite des Platzes, den Reichstag, den Spreebogen, das Haus der Kulturen, die Straße, die nach Scheidemann benannt worden war, einem ihrer Vorgänger, der ins Exil getrieben und dort gestorben war. "Gestern musste Polizei in Dresden eingreifen, um die Ruhe wiederherzustellen", sagte sie tonlos, "lest, was die Gazetten dazu schreiben: Überall Geschrei, überall Klagen über die hohen Steuern, die fehlende Regierung, die SPD, das Klima, das Fernsehprogramm, den Koalitionsvertrag."

 Mühsamer, langsamer


Ihr war das alles so zuwider inzwischen, nach zwölf oder vierzehn Jahren, sie wusste es selbst nicht mehr genau, wurde alles immer mühsamer, langsamer, als nehme die Erdgravitation zu, obwohl sie wusste, sie war ja Physikerin von Beruf, dass das schlecht sein konnte. "Die Schreier, Peter, werden niemals wissen, dass das, was sie fordern und was ich ihnen gerne geben möchte, nicht mein Wille, sondern lediglich die Zeit bringen kann."

Für einen Moment sah sie ganz klar, nicht aus dem Fenster auf das Land, dass das ihre war, weil einfach kein anderer es so gut hätte führen können wie sie das tat. Ein Vogel flog vorbei, gerupft, aber krächzend, als freue er sich auf den Frühling, der draußen vor dem großen, an eine Waschmaschine mit zerbrochener Trommel erinnernden Bau sicher schon in der Luft liegen mochte. "Sie werden meine Siege vergessen und sich nur an meine Steuern erinnern, und man wird mir vorwerfen, dass ich sie zu ihren Lebzeiten nicht richtig geleitet habe und man wird keine Straßen nach mir benennen oder nur ganz wenige."

Peter, der die Beine ausgestreckt und seinen massiven Körper im Sessel ausgelegt hatte wie eine  Schanze, fand nicht die Kraft zum Widerspruch.

Nach Motiven von "Der Fluch aus den Flammen", Maurice Druon, Paris 1955


3 Kommentare:

Florida Ralf hat gesagt…

heureka. hoffentlich nur ein vorabdruck, ein teaser.

Borsig hat gesagt…

Ein Meisterstück. DANKE !

ppq hat gesagt…

ich war auch hingerissen, muss ich gestehen. wenn man das nur verfilmen könnte