Samstag, 31. Mai 2014

Fremde Federn: Wirklichkeit statt Wählerschelte

Weit, weit, so weit muss der EU-Bürger reisen, um nach der Europawahl eine Analyse zu lesen, die der Wirklichkeit nahekommt statt sich in Wählerschelte, „Weiter so“ und der Beschimpfung von Minderheiten zu üben. Eugen Sorg aber zeigt, dass es zumindest in der Schweiz noch Journalisten gibt, die eine Ohrfeige für die Eurokraten in Brüssel eine Ohrfeige nennen und die vermeintliche Wahl richtig einschätzen als demokratisch getünchtes Schultheater.

Keine Übersetzung aus dem Propagandistischen nötig, der Text in der Basler Zeitung spricht für sich:

Mit einem kleinen PR-Trick versuchten die EU-Strategen das chronisch tiefe Publikumsinteresse an europäischen Wahlveranstaltungen zu steigern. Erstmals traten die grösseren Parteien bei den jüngsten Parlamentswahlen mit so- genannten «Spitzenkandidaten» für den Posten des Kommissionspräsidenten an. Abgesehen davon, dass kaum jemand weiss, dass solch ein Amt existiert, und noch weniger, welchem Zweck es dient, wird der Präsident zudem ohnehin von der stärksten Partei und nicht vom Stimmvolk bestimmt. Die Personalisierung sollte aber die politische Temperatur und die Aufmerksamkeit für das Wahlgeschehen steigern. Die Konservativen präsentierten Jean-Claude Juncker, abgewählter Ministerpräsident des Zwergstaates Luxemburg, ein blasser, intrigengestählter Bürokrat. Die Sozialisten wiederum portierten den nassforschen Deutschen Martin Schulz, glückloser ehemaliger Bürgermeister der Kleinstadt Würselen und heutiger europäischer Parlamentspräsident. Beide lieferten sich in verschiedenen TV-Shows Scheinduelle. Doch die Rechnung der Europolitiker ging nicht auf.

Nicht nur blieb wie bei allen Wahlen der letzten Jahre weit mehr als die Hälfte der 400 Millionen Stimmberechtigten zu Hause, auch die neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa erzielten gar neue, «besorgniserregende» (Tages-Anzeiger) Rekorde der Wahlabstinenz. Was die Brüsseler Eurokraten aber wie eine schallende Ohrfeige traf, war die Tatsache, dass euroskeptische Parteien in beinahe allen der 28 Mitgliedstaaten, vor allem aber in mächtigen wie Grossbritannien und Frankreich, überwältigend zulegen konnten. Erste Schätzungen gehen von einem 30-Prozent-Anteil an den abgegebenen Stimmen aus. Und dies, obwohl die EU, das «Projekt Europa», die Unterstützung der links­liberalen Eliten geniesst.

Alle Politiker oder Publizisten, die eine kritische oder ablehnende Position gegenüber der EU einnahmen, wurden vom Gros der Medien mit Schmähungen eingedeckt. Als ob Euroskepsis keine politische Einstellung, sondern ein Charakterdefekt sei. Ihre Namen werden nicht ohne den Zusatz «schrill», «rechtsaussen», «Europahasser», «fremdenfeindlich», «rassistisch und islamophob» erwähnt. Und die Foto­redaktionen der Medien verstärken diese Charakterisierungen regelmässig mit ausgesucht unvorteilhaften Bildern der «Rechtspopulisten». Während im Gegensatz dazu den EU-Befürwortern a priori attestiert wird, aus einer Position der Menschenfreundlichkeit ­heraus zu handeln und zu denken.

«Die Resultate zeigen London als eine offene, tolerante und farbige Stadt», twitterte die Labour-Abgeordnete und ehemalige Ministerin Tessa Jowell nach den Europawahlen. In London hatte die euroskeptische Partei Ukip von Nigel Farage im Gegensatz zum übrigen Land wenig Stimmen erhalten. Eine vermeintliche moralische Überlegenheit sollte Jowell darüber hinwegtrösten, dass ihre europhile Partei gerade eine demütigende Niederlage kassiert hatte. Berufspolitikerin Jowell übersieht dabei, dass ihr weltoffenes «London» eine kleine, reiche Blase ist, das innerstädtische London der Finanzspezialisten, Spitzenbeamten, Anwälte, Lobbyisten, Medien- und Werbekader. Deren Kontakt zur sozialen Aussenwelt verläuft vornehmlich über Kindermädchen, Chauffeure, Pförtner, Putzfrauen aus aller Herren Länder. Toleranz ist aus dieser feudalen Position wohlfeil zu haben. Der Durchschnitts-Engländer kann sich die Gegend aber längst nicht mehr leisten.

Viele Journalisten unterliegen derselben Wahrnehmungsverengung wie Dame Jowell. Sie funktionieren als Aktivisten einer scheinbar fortschrittlichen Idee und übergehen in grandioser Überheblichkeit, was sich direkt unter ihren Augen in der Realität abspielt. Im ganzen Euroland, von Irland bis Italien, von Polen über Frankreich bis nach Portugal, findet ein Aufstand statt. Ein «Bauernaufstand», wie es Londons Bürgermeister Boris Johnson nennt, «eine Jacquerie», ein grenzüberschreitender, bis jetzt friedlicher, mit Stimmzetteln statt mit Mistgabeln ausgetragener Aufstand einer unordentlich gemischten Truppe. Wie damals der schmarotzende Adel ist heute das Bürokratiemonster von Brüssel Objekt des wachsenden Unmutes.

Anstatt sich über die ungehobelten Tischmanieren des undankbaren Pöbels zu enervieren, wie weiland die blasierten Oberschichtler, sollten die Medienleute sich besser auf ihre primäre Aufgabe besinnen und sich mit den Ursachen der Unzufriedenheit befassen. Beispielsweise damit, wie eine demokratisch nicht legitimierte Clique mit fürchterlichen Fehlentscheiden die Zahl der Langzeitarbeitslosen innert wenigen Jahren ­verdoppelt, ganze Volkswirtschaften in den Bankrott treibt und über zehn Prozent der arbeitsfähigen Europäer auf die Strasse stellt.

Bild-Zeitung: Reklame für den Nazi-Code

Empörung über einen missglückten Geburtstagsartikel: Warum verwendet die "Bild"-Zeitung ein Symbol für den Hitlergruß?! In der Zeitung ist eine große, schwarze „88” auf weißem Grund abgebildet. Die Zahl „88” steht in der rechtsradikalen Szene für „HH”, „Heil Hitler”, da das H der nach Ansicht von Extremismusforschern achte Buchstabe im Alphabet ist.

Bild tarnt die rechtsextreme Propaganda mit einem harmlos scheinenden Artikel, der vorgeblich vom 88. Geburtstag der britischen Königin Elizabeth II. handelt. Dabei nennt die Redaktion "88 Gründe, warum die Queen noch immer die Krönung ist!" Ein fadenscheiniger Versuch, ewiggestriges Gedankengut öffentlich hoffähig zu machen.

Nicht der erste Ausfall des nach außen immer um ein sauberes Image im Kampf gegen den rechten Popanz bemühten Boulevardblattes: Bereits bei einem Rückblick auf das "Tatort"-Jahr gelang es der Redaktion, die verbotene 88 prominent zu platzieren, auch bei ein angeblicher Nachruf auf den Fernsehschaffenden Harry Valerien, einem früheren Gebirgsjäger von Hitlers Nazi-Armee, machte Reklame für den Nazi-Code.

Auf die Nazi-Werbeaktion mit Hilfe der Queen aufmerksam gemacht hatten Twitter-Nutzer, die ein Foto von dem fragwürdigen Artikel (oben) in dem sozialen Netzwerk veröffentlichten. Der Verlag reagierte: Seit dem 22. März werden die mit der „88” bedruckten Blätter nach Angaben einer Sprecherin nicht mehr ausgeliefert.

Freitag, 30. Mai 2014

Zitate zur Zeit: Wir hungern nicht

Wir hungern nicht, wir leiden keine Not. Aber von geistiger Freiheit sind wir noch weit entfernt.

Brief eines Plauener Bürgers an das Hamburger Abendblatt, September 1989

Nach Nazi-Wahl: Phantasialand ist abgebrannt

Es sollte, so stellen es die Schüler selbst jetzt auf Facebook dar, „ein Spaß sein“. Doch Schulleitung und Lehrern ist das Lachen im Halse steckengeblieben. Mehr noch: Weil bei einer „Juniorwahl“ der zehnten Klassen der Fridtjof-Nansen Realschule rund 25 Prozent der Schüler die NPD ankreuzten, haben Schulleitung und Klassenlehrer am Dienstag eine geplante Tagesfahrt zum Phantasialand abgesagt. Dabei handele es sich um keine Bestrafung, sondern um den Versuch, die fehlgeleiteten Jugendlichen zurück auf den Boden von Meinungsfreiheit und Demokratie zu holen.

Für PPQ berichtet Klaus Wiedau von der vordersten Front im Kampf gegen Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus, Faschismus und Populismus.

„Wir sind betroffen über die Meinungsäußerung unserer Schülerinnen und Schüler des zehnten Jahrganges“, heißt es dazu in einer Stellungnahme der Schule. „Wir akzeptieren natürlich die Wahlfreiheit. Wir schränken diese in keinster Weise ein. Jeder darf die Partei wählen, durch die er vertreten werden möchte. Doch haben auch Lehrer die Freiheit, ihre Meinung zu äußern. Wir möchten mit unserer Reaktion ein deutliches Zeichen gegen Rechts setzen. Diese Tagesfahrt in den Freizeitpark war ein freiwilliges Angebot der Klassenlehrer. Dieses Angebot nehmen wir jetzt zurück“.

Warum die Schüler bei der virtuellen Abstimmung in großer Zahl für die NPD stimmten, kann Schulleiterin Hedwig Poll-Wolbeck nur vermuten, wie sie sagt: „Entweder aus Spaß oder aus Überzeugung – eines ist so schlimm wie das andere.“

Getroffen fühlen sich Schulleitung und Lehrer auch, weil die Schule seit vielen Jahren mit Projekttagen und der Teilnahme an Gedenkveranstaltungen Zeichen gegen Rechts setzt. Das Thema werde zudem im Unterricht behandelt. „Und wir sind Europaschule“, betont Poll-Wolbeck.

Die „Juniorwahl 2014“ wurde zudem nicht einfach so durchgeführt. Vielmehr wurde im Unterricht über das Thema Wahlen gesprochen, auch waren die Programme der Parteien Thema. Insofern versteht Poll-Wolbeck das Verhalten der Schüler als Provokation: „Die haben gewusst, was sie tun.“

Binnen weniger Stunden gab es am Dienstag eine breite Diskussion im sozialen Netzwerk Facebook – mit sehr unterschiedlichen Standpunkten. „Aus Spaß die NPD wählen. Wow. Da ist wohl mächtig was schiefgelaufen. Rechtspopulismus ist alles, aber kein Spaß“, heißt es in einem Kommentar. Andere Facebook-Nutzer schlagen vor, statt der geplanten Tour ins Phantasialand eine Fahrt mit Besuch des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam zu unternehmen. Ein Facebook-Kommentator: „Und das ist vermutlich nicht mal eine Strafe, weil das ist ein interessanter Ort der Geschichte – und auch wenn die virtuellen NPD-Wähler nur Spaßwähler waren, hätten sie Gelegenheit, darüber nachzudenken, dass nicht jeder Witz lustig ist...“

Andere vertreten die Auffassung, dass möglicherweise nicht ausreichend über die NPD aufgeklärt wurde und suchen dafür die Verantwortung bei Schulleitung, Eltern und Lehrern: „Da sollten die sich mal an die Nase fassen und versuchen, das wieder zu richten, anstatt zu bestrafen. Fällt der Lehrerausflug auch aus?“

Angeprangert wird in vielen Beiträgen die Streichung des Ausfluges durch die Schule. Schließlich, so der Tenor, hätten die Schüler von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht – und würden dafür jetzt kollektiv bestraft: „Unfair“ findet das eine Nutzerin, eine andere „unglaublich“. Andere geben Tipps, die Eltern, das Schulamt, die Stadtverwaltung, einen Rechtsanwalt oder gar das zuständige Ministerium einzuschalten.

Erste Reaktionen von Eltern gibt es inzwischen auch an der Schule, so Poll-Wolbeck. Die Bandbreite reiche von „Unverständnis bis Verständnis“, sagt die Schulleiterin. Allerdings beziehen sich diese Äußerungen nicht das Verhalten der Schüler, sondern die Reaktion von Schulleitung und Klassenlehrern.

Donnerstag, 29. Mai 2014

Herzliche Grüße aus der Heimatstadt der NSU

Keine Stadt wie alle anderen. Keine Wahlergebnisse wie anderswo.

One Men, one Votiv

Was für eine Aufregung, seit der Deutschitaliener Giovanni di Lorenzo öffentlich gemacht hat, dass er das Ergebnis der EU-Wahl mit einer doppelten Stimmabgabe absichtsvoll verfälscht hat. Medien tanzen im Kreis, Kommentatoren sind in Panik, der demokratische Anschein, den sich die EU neuerdings geben wollte, ist bedroht.

Gut, dass das eigentliche demokratische Defizit der Gemeinschaft bei der Gelegenheit nicht auch noch zur Sprache kommt: Es ist die degressive Proportionalität, mit der Wählerstimmen bei Gemeinschaftswahlen zu Abgeordnetenmandaten führen. Das alte, urdemokratische Mantra des Prinzips „ein Wähler, eine Stimme“ gilt nämlich in Europa nicht. Hier gibt es Bürger erster bis 28. Klasse, in jedem einzelnen Land schicken unterschiedlich viele Wähler mit ihren Stimmen unterschiedlich viele Abgeordnete nach Brüssel. Für Malta etwa gilt, dass 66 600 Bürger des Inselstaats einen Abgeordneter haben, der sie vertritt. In Deutschland dagegen teilen sich mehr als zehnmal so viele Bürger einen Vertreter: 854 000 Wähler haben einen Europaparlamentarier.

Di Lorenzo doppelte Stimmabgabe ist ein Witz, gemessen an den Ungleichgewichten der Wertigkeit der einzelnen Stimme, die die EU von sich aus vorsieht: Ein Bulgare ist soviel wert wie zwei Deutsche, ein Däne ist zwei Spanier wert, Este wiegt vier Briten auf und ein Malteser hat das Stimmgewicht von 13 Franzosen.

All das widerspricht dem Grundgedanken der Demokratie, nach dem jeder Wähler gleichviel Stimmgewicht haben muss. Alls das ist völlig rechtens, denn der Vertrag von Lissabon, der keinem EU-Mitgliedsstaat mehr als 96 Abgeordnete im 751-köpfigen Europaparlament zugesteht, legt fest, dass die einwohnerschwächsten Ländern mathematisch deutlich überrepräsentiert sind.

Hätte Deutschland die 122 Abgeordneten, die ihm eigentlich zuständen, hätten die kleinen Länder nämlich aus Furcht vor einer deutschen Dominanz nicht mitgemacht beim großen Vereinigungsspiel. Dass das Zugeständnis, ihnen den Beitritt mit einem höheren Stimmgewicht abzukaufen, einen Verstoß gegen das grundlegende Demokratieprinzip des „One Men, one Vote“ mit sich bringt, ist – im Gegensatz zu di Lorenzos öffentlicher Beichte, dass er zwar Chefredakteuer eines meinungsbildenden Blattes ist, aber von grundlegenden Regeln der Demokratie keine Ahnung hat – kein Medienthema.

Was eigentlich alles sagt, was dazu zu wissen ist.

Falsche Spuren, falscher Skandal: Cicero lenkt ab

Mittwoch, 28. Mai 2014

Keine Ermittlungen nach Bankraub

Ein Bankraub, bei dem im vergangenen Jahr ein maskierter Täter eine Bankfiliale in der Hauptstraße im bayrischen Hohenlinden mit vorgehaltener Waffe überfallen hatte, bleibt juristisch offenbar ohne Folgen. Wie die "Süddeutsche Zeitung" vorab berichtete, wollen die Ermittlungsbehörden keine Ermittlungen wegen Bankraubes aufnehmen. Die Staatsanwaltschaft wolle einem Bericht zufolge nicht ermitteln. Der Überfall durch den Unbekannten bleibt damit strafrechtlich folgenlos. Das Blatt berief sich auf Informationen aus Kreisen der Justiz, die der "SZ" sowie den ARD-Sendern NDR und WDR vorlägen.

Auch wegen der Bedrohung mit einer Waffe sei kein Ermittlungsverfahren geplant. Sowohl wegen des Überfalls wie auch wegen der versuchten Erpressung mit Waffengewalt hatte die Staatsanwaltschaft seit Monaten Vorprüfungen unternommen. Inzwischen liege eine Empfehlung der zuständigen Mitarbeiter vor, keine Ermittlungen aufzunehmen, hieß es in der "SZ".

In einer Stellungnahme teilte die Staatsanwaltschaft der Nachrichtenagentur dpa mit, es werde alsbald eine abschließende Entscheidung bekanntgegeben, in der auch die wesentlichen Gründe dafür dargelegt werden. Bislang hätten einer abschließenden Bewertung der Vorgänge noch einige offene Anfragen und Abklärungen entgegengestanden. Dazu gehörte auch die Frage, ob der Täter gefunden und weitere Zeugen befragt werden könnten.

Dem "SZ"-Bericht zufolge kamen die zuständigen Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft zu dem Schluss, Ermittlungen würden wegen fehlender Möglichkeiten, belastbares Material zu bekommen, nur symbolischen Charakter haben. Die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens, das eigentlich dazu dient, Beweise zu erlangen, habe deshalb in diesem Fall keinen Sinn. Die Bundesregierung hatte der Karlsruher Behörde laut "SZ" zuvor freie Hand gegeben. So hätten Justizminister Heiko Maas und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) sich darauf verständigt, dass es in Deutschland immer noch eine Unabhängigkeit der Justiz gebe, so dass Ermittlungen bei einem Anfangsverdacht eigenständig von den dafür zuständigen Institutionen gestoppt werden müssten. (afp/dpa)

Unverständlich: Rechtsanwalt Udo Vetter versteht die Welt nicht mehr

Realsatire in Brüssel

Eine große Reportage, mit der Holger Schmale von der Frankfurter Rundschau den Wahnsinn auf den Punkt bringt, der nach der erfolgreichen Europa-Wahl nach Brüssel zurückgekehrt ist. Wie immer geht es ums Schachern, darum, sich Druckposten zuzuschanzen, Allianzen zu bilden und Pfründe zu erobern. PPQ dokumentiert den enthüllenden Bericht aus dem Herzen des Brüsseler Regierungsviertels:

Während die SPD noch schlief, hat ihr Spitzenkandidat am Montag schon ordentlich gearbeitet. Martin Schulz (56), eben jener erste Spitzenkandidat aller Zeiten, ist jetzt nämlich wieder ein ganz normaler Abgeordneter des Europaparlaments. Und als solcher gibt man montags nach einer Wahl Interviews. Also erläuterte Schulz der Deutschen Presse-Agentur seine Agenda.

"Nur wenn sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden", kündigte der einstige Bürgermeister von Würselen an. Ein Deutscher aber müsse über Europa herrschen, auch wenn der konservative Luxemburger Juncker derzeit mehr Stimmen zu haben scheine. Er habe eigene Berechnungen, so Schulz, die anders aussähen. Er werde dem EVP-Kandidaten Jean-Claude Juncker jedenfalls nicht den Vortritt lassen, sondern versuchen, "im Parlament eine eigene Mehrheit zu finden".

Verständlich, denn stets locken die Fleischtöpfe, gerade einen wie Schulz, der in Brüssel als „der Zulagensammler“ bekannt ist. „Wir melken die EU wie ein kleiner südeuropäischer Staat“, sagt er stolz.

Noch keinen Tag im neuen Amt, hat der Mitbegründer der kruden These, dass die europäischen Völker den nächsten Kommissionspräsidenten erstmals direkt wählen, schon ein wesentliches Ziel seiner Kandidatur erreicht: die medienwirksame Persiflage der etablierten Politik mit dem Mittel der Realsatire. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Wahrheit an, es reicht, Bestandteile derselben aufzuspießen. Also summiert er den Betrag, den Europaabgeordnete tatsächlich verdienen (ca. 13 000 Euro) mit jenem, der ihm als Tagesgeld zusteht, rechnet allerlei Aufwandspauschalen und Sitzungsgelder dazu - macht zusammen empörende 223.520 Euro zusätzlich zum Grundgehalt. 

Ernsthafte Betrachter der Politik können sich furchtbar aufregen über solche Mätzchen, wie sie in Brüssel und Straßburg an der Tagesordnung sind. Hier aber ist alles echt und wahr. Mit solchen Fakten werde Politikverdrossenheit produziert und nicht bekämpft, lautet die Kritik, weil die meisten Menschen nicht mediensicher genug sind, um Satire von Realität zu unterscheiden.

Das Problem ist: Gute Satire trifft und ist doch als solche zu erkennen. Holger Schmale, der keine Satiriker ist, urteilt: "In Zeiten zunehmenden, internetgeförderten Halb- bis Viertelwissens aber nehmen viele die Satire für bare Münze und sie halten die Realität für Satire – sie glauben schlichtweg immer, was sie da sehen und hören." Selbst Texte in der "Frankfurter Rundschau", die für erfahrene Mediennutzer auf den ersten Blick als reine Satire erkennbar sind, entfalten dann wie jede Kritik am politischen System durch ihre vermeintlich europafreundliche Überzeichnung eine durchaus undemokratische Wirkung.

In einem hat Schulz' Parlamentskollege Martin Sonneborn also sicher recht:: „Ich glaube nicht, dass wir die Verrücktesten sind im Europaparlament“, sagt der Chef der "Partei" mit Blick auf seine witzigen Kollegen.

Armut at its best

Dass Armut in Europa ein rein rechnerisches Phänomen ist, werden sicherlich nur hartherzige Neoliberale behaupten. Dennoch sind die jährlichen Auswertungen diverser Statistik-Ämter, die den Medien-Konsumenten mit ähnlicher Vorhersagbarkeit erreichen wie der ADAC-Tunneltest, von solch obskurer Dämlichkeit und Inkohärenz, wie sie bisher nur vom Kampf um das Amt des EU-Chefs bekannt sind.

Auch wenn die Berliner Zeitung (und mit ihr alle, die den Gang ins Archiv verboten bekommen haben - also alle) barmt, dass "viele Deutsche keine Ausgaben für Alltägliches stemmen können" (Definiere Alltägliches!), hat sich die offizielle Situation in den vergangenen zwei Jahren nicht nur nicht geändert - sondern verbessert.

Deutschland ist nur geringfügig ärmer als Ägypten - das aber auf höchstem Niveau. Denn schon vor zwei Jahren zweifelte die Armuts-Postille SPIEGEL die offiziellen Zahlen an, die dieselben sind wie dieses Jahr.

Dienstag, 27. Mai 2014

Zitate zur Zeit: Nun ist Schulz

"Wir können diese Schande nicht länger ertragen."

Martin Schulz

Mehr unvergessliche Zitate zur Zeit

Fünf Lehren aus der Europawahl-Berichterstattung

Rechtsruck, geringe Wahlbeteiligung, unklare Mehrheiten, der "Spiegel" in Hochform: Die Nachberichterstattung zur Europawahl zeigt, wie verunsichert die deutsche Presse ist. "Politiker und Europa-Fans sollten daraus schnell lernen", heißt es im "Spiegel", der Roland Nelles klassisch mit Geifer und Tiervergleichen arbeiten lässt, um den "Rattenfängerparteien" und "Europa-Hassern" den Garaus zu machen. Das hier ist schließlich "unser Europa" (Bild), nicht derens!

Ein Viertel der Wähler in Frankreich, Dänemark und Italien, die Hälfte der Ungarn, jeder vierte Brite und sieben Prozent der Deutschen wurden von dunklen Kräften "verführt", sich gegen Europa zu entscheiden. "Tapfere EU-Fans" stehen auf verlorenem Posten, "rechte Populisten" (n-tv) frohlocken angesichts der Schwäche der wahren Demokraten, die noch zu schätzen wissen, was Europa uns allen gebracht hat.

Etwa eben dies: Die Häflte der Wähler macht nicht mehr mit. Und nahezu ein Viertel vom Rest in einem Drittel der Staaten wählt rechts, Separatisten in Belgien und Wahre Finnen in Finnland, in Griechenland sind radikale Linke stärkste Kraft, in Frankreich radikale Rechte. Selbst Deutschland, wo die brummende Wirtschaft jeden Widerstandswillen lähmt, haben die siegreichen Parteien des demokratischen Blocks der Europa-Fans am Tag danach nur ein Problem: Wie bekomme ich meinen Kandidaten für die Präsidentschaft durch? Und wenn ich ihn nicht durchbekomme, wie verhindere ich, dass es der Kandidat der Konkurrenz wird?

Es regiert das alte Hinterzimmer, vor der Tür spielt die Bordkapelle den alten Kriegsmarsch gegen alles andersdenkende. Fünf Lehren aus der Europawahlberichterstattung:

Lehre 1: Die EU-Freunde dürfen sich von Wahlergebnissen, die nicht ihren Wünschen entsprechen, irremachen lassen.

Die Wahl legt es offen: Europa ist anders als es deutsche Medien darstellen. Die Euro-Krise, der mangelnde Anschein an Demokratie und der von vielen Menschen besorgt beobachtete Verlust an Souveränität sorgen für akute Abstiegsängste bis hinein in die Mittelschichten von EU-Kernländern wie Frankreich oder Großbritannien. Rattenfänger-Magazine wie der "Spiegel" oder die "SZ" haben so ein leichtes Spiel mit ihren Gemeinsam-ist-alles-besser-Sprüchen. Die Antwort in der Berichterstattung muss lauten: Nicht kritisch herummeckern, nicht jammern, nicht weniger Europa. Sondern mehr von allem: Mehr Europa, mehr Illusionen, mehr Einfalt. Die europäische Integration muss vorangetrieben werden! Wenn sich die Europa-Freunde in den Medien nun vor den Gegnern der EU verkriechen, wäre ja niemand mehr da, der noch etwas schreiben könnte. Gegenwehr fängt damit an, dass sich die Beteiligten nun schnell auf einen - Achtung: guten - Kandidaten für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten verständigen. Bitte ärgert den Kontinent nicht schon wieder mit einer blassen Kompromissnase wie Noch-EU-Chef José Manuel Barroso. Besser wäre zum Beispiel Roland Nelles, der weiß, wie es geht.

Lehre 2: Frankreich muss aufhören, in rechts zu wählen.

Was ist bloß mit den Franzosen los? Sonst immer weich und fröhlich, präsentieren sie sich nun als Trupp rechter Spinner, Montagsdemonstranten und Staatsfeinde. Mon dieu, das ist doch die Domäne der Deutschen! Die Grande Nation wird immer mehr zum Grand Problème. Ein schwacher Präsident, eine verkrustete Wirtschaft in der Krise und nun auch noch der erneute Rechtsruck - diese brisante Mischung wird in den kommenden Monaten dafür sorgen, dass die Konflikte in Frankreich zunehmend nicht mehr Gegenstand der Berichterstattung sein können. Wie in einem solchen aufgeheizten politischen Klima die notwendigen Artikel geschrieben werden sollten, ist ja auch völlig unklar: In der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der EU droht eine politische Blockade der Parteien und Institutionen - mit möglicherweise verheerenden Rückwirkungen auf die gesamte EU. Davon lässt man besser die Finger. Ultimative Forderung an die Franzosen: Der Schock vom 25. Mai muss dafür sorgen, dass sich die Mehrheit der Franzosen bei den nächsten Wahlen klar gegen rechts positioniert - wenn nicht, fliegt ihr aus der EU!

Lehre 3: Die EU-Berichterstattung muss ihre Tabus behalten.

Es wäre schön, wenn man von den Oberen bei "Spiegel", "Focus", "SZ" und "FR" mal die klare Aussage vernehmen würde, dass sie schön zugeschaut und geschwiegen haben, während Kommission, Rat und Europäisches Parlament sich in den vergangenen Jahrzehnten ein reichlich verquastes Institutionengeflecht gebastelt haben. Kein Mensch blickt da mehr durch, wer was macht. Die Masse an Kommissaren, von denen es so viele gibt, weil jedes Land einen braucht, um sich nicht von den anderen Ländern übervorteilt zu fühlen, ist ein Witz. Das schreckt ab, darüber zu schreiben. Der neue Kommissionschef bleibt an diese Vereinbarungen gebunden, als fordert man besser einfach nur, er "sollte seinen Laden auf Vordermann bringen".

Lehre 4: Großbritanniens EU-Feinde müssen verächtlich gemacht werden.

Ist doch klar: Auf der Insel werden sie bis ans Ende aller Tage mit Skepsis Richtung des glückseligen Europa blickendas  traditionell rechts fährt. Die Herrschaften haben alle einen Hau! Umso wichtiger ist es, dass die tapferen EU-Fans dort zu den einzig denkenden Menschen auf der Insel erklärt werden. Sie müssen von der restlichen EU in die Lage versetzt werden, dem eigenen Publikum Erfolge bei den geforderten Reformen der EU-Institutionen vorzumachen. Eine EU ohne Großbritannien wäre vor allem für Deutschland schlecht, gerade in wirtschaftspolitischen Fragen ticken die Briten eher so wie die Deutschen. Oder wollen wir künftig allein mit Italienern und Griechen über die Kunst des ordentlichen Haushaltens diskutieren? Das sind doch disziplinlose Südvölker, ökonomische Untermenschen, unfähig, pünktlich aufzustehen und arbeiten zu gehen.

Lehre 5: Deutschland kann sich nicht auf fremden Erfolgen ausruhen.

Die Wirtschaft wächst, das Defizit weniger stark. Auch Frankreich kommt - mit genügend Zeit ausgestattet - sicher eines fernen Tages wieder. Toll. Aber Deutschland kann sich nicht auf fremden Erfolgen ausruhen. Nur weil es bei Griechen und Franzosen gut läuft, dürfen wir nicht vergessen, dass wir auf ein funktionierendes Europa angewiesen sind: Dort sitzend die Kunden, die uns mit unserem Geld unsere Waren abkaufen! Etwas mehr Großzügigkeit und Offenheit bei der Diskussion um Beistand für andere EU-Staaten würde den Deutschen gut anstehen. Leider sind viele Debatten über Europa hierzulande jedoch von übertriebenem Geiz und Kleingeistigkeit geprägt. Man muss auch jönne könne, sagt der Kölner!

Montag, 26. Mai 2014

Wir sind Witzemagazin

Wir waren Papst, wir waren Nobelpreisträger und nun sind wir auch noch Wahlsieger. Je platter, desto besser, je dumpfer, desto schöner. Die Mediengroko in Reinkultur, getrommelt wird der Rhythmus, bei dem jeder mit muss. Ein Volk, ein Kontinent, eine demokratische Mehrheit, die zusammensteht gegen die Populisten, Faschisten, Skeptiker und Nörgler.

Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag' ich Dir den Schädel ein.

Weiter so, Europa

Nach der Europawahl kann Regierungschefin Angela Merkel weitere vier Jahre mit komfortabler Mehrheit regieren. Die deutsche Kanzlerin hat die Abstimmung über ihren Europakurs deutlich gewonnen. Nach Auszählung von 41,5 Prozent der Stimmen kam ihre große Koalition aus CDU, CSU und SPD auf eine deutliche Mehrheit, wie die Wahlbehörde am Sonntagabend mitteilte. Setzt sich der Trend fort, kann Merkel sogar weiter mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Parlament regieren.

Das Mitte-Links-Bündnis von drei Parteien, das die CDU anführt, war zuvor nicht unumstritten gewesen. Mit demokratie- und marktpolitisch bedenklichen Gesetzen hatte die Regierung Merkel in den letzten Jahren wiederholt Besorgnisse in der EU ausgelöst. So hatte zuletzt das Verfassungsgericht geurteilt, dass die staatliche Aufsicht über die vom Staat abhängigen Medien zu viele Möglichkeiten zur Gängelung von Rundfunkanstalten eröffne. Die deutsche Notenbank ist aufgrund des Merkel-Kurses faktisch nicht mehr unabhängig von der Regierung, die Europäische Zentralbank war es nie. Und die neue Verfassung bindet künftigen Regierungen mit Hilfe einer sogenannten "Schuldenbremse" und der Wiedereinführung der Rente mit 63 in der Steuer- und Rentenpolitik die Hände.

Die Wähler gaben bei der EU-Wahl europaweit ihre Stimmzettel ab. Das Wahlrecht begünstigt die relativ stimmstärkste Partei. Bei den bisher sieben Europawahlen seit 1979 ist die Zahl der Sitze von 410 auf 736 gestiegen, die Wahlbeteiligung fiel im selben Zeitraum von 63 auf 43 Prozent. (dpa)

Frankreich wählt Faschisten

Franzosen waren die Letzten, die den ehemaligen Nazi-Führer und Reichskanzler Hitler noch verteidigten, als alle Deutschen schon auf dem Weg in den Widerstand waren. Franzosen sind nun auch die ersten, die den Konsens der europäischen Demokraten aufkündigen und eine Nazi-Partei zur stärksten Kraft in einer demokratischen Wahl machten. Rund ein Viertel der Wähler sprachen der rechtsextremen Front National bei der Europawahl in Frankreich ihr Vertrauen aus, obwohl deutsche Medien nachdrücklich vor einem solchen Schritt gewarnt hatten.

Nicht nur ein Fußbreit, sondern 25 Prozent für die Faschisten von Marine Le Pen. Deutschland zweifelt, Deutschland ist verstört. Ist das der Dank? Der Dank dafür, dass Deutschland dem ehemaligen Erbfeind vorlebt, wie Konkurrenzfähigkeit geht? Wie Reformen angepackt werden müssen? Wie ein starker Export die Wirtschaft beflügelt?

Seit Merkel und Sarkozy den Euro retteten, haben sich die beiden europäischen Führungsmächte auseinandergelebt. Deutschland lebt den Traum vom Aufschwung, Frankreich quält sich mit einer nichtendenwollenden Krise. Deutschland ist nach links gerückt, Frankreich nach rechts. Das Misstrauen ist beiderseitig, seit mit Francois Hollande ein Nationalist den Euroskeptizismus hoffähig machte, um an der Heimatfront zu punkten.

Ein Nicht-Verhältnis prägt die Beziehungen der beiden Länder, die in Streitfragen nur noch gelegentlich auf derselben Seite stehen, wenn es nicht gemeinsam gegen Großbritannien geht. Die Franzosen argwöhnen, dass Deutschland von einem Europa träumt, in dem alle anderen Länder nach deutscher Facon glücklich werden. Die Deutschen vermuten, dass Frankreich eine Gemeinschaft, die so funktioniert, im Zweifelsfall eher verlassen würden als sie nach Vorgaben aus Berlin mitzugestalten.

Nicolas Sarkozy, der aus dem Amt gewählte Vorgänger Hollandes, hat kurz vor Ultimo noch versucht, mit der französischen Vision einer EU, in der Deutschland und Frankreich gemeinsam sagen, wo es langgeht, Bedenken von besorgten konservativen Franzosen aufzugreifen, um Le Pen das faschistische Wasser abzugraben. Mit seiner Forderung nach einer "großen französisch-deutsche Wirtschaftszone" ohne den rest der EU-Länder, einer Halbierung der "gemeinschaftlichen Kompetenzen" der EU-Kommission und einer Schließung der Grenzen baggerte Sarkozy am rechten Rand, wo seine deutsche Kollegin Merkel mit dem Sandschippchen buddelte.

"Wir können wir nicht länger so tun als glaubten wir, dass wir alle in Empfang nehmen können, die es wünschen", schrieb Sarkozy - ein Satz, für den ihn in Deutschland selbst die AfD ausschließen würde. Genützt hat es wenig, denn die stilbewussten Franzosen wählten am Ende das rechtsextreme Original, nicht die braun maskierte Kopie. An Deutschland wäre es jetzt, wenige Wochen nach der öffentlich erklärter Partnerschaft mit dem ukrainischen Faschismus, klarzumachen, dass es darüberhinaus keine Zusammenarbeit von Demokraten und Rechtsextremen geben kann. Berlin muss Paris auf die demokratischen Füße helfen: Nach dem Vorbild der Sanktionen gegen Österreich nach den Wahlerfolgen von Jörg Haiders Freiheitlicher Partei muss rasch mit scharfen Maßnahmen auf Regierungs- und diplomatischer Ebene auf den Rechtsrutsch westlich des Rheins reagiert werden.

Pleite für Wilders-Berichterstattung: Niederlande-Naziführer trotz kritischer deutscher Berichterstattung erfolgreicher als in Hamburg erfunden

Sonntag, 25. Mai 2014

Ein Unwohlsein geht um in Europa

"Statt Europa vom Wähler her aufzubauen, wurde Europa faktisch von oben zusammengeschustert und zwar so selbstherrlich und zufällig, wie es der Moment gerade geboten hatte", schreibt Bettina Röhl in einem lesenswerten Aufsatz zum Zustand des Kontinents, der, langsam gelesen, eigentlich ein Aufsatz zur Frage der Entfremdung zwischen politischen Eliten und politisch entmachteten Völkern ist. Die Angst der selbsternannten Führungsschicht vor dem Willen der Völker ist ein Geburtsfehler der im Hinterzimmer erdachten und in kleinen Kungelrunden im Eiltempo realisierten Planes von einem Europa als Weltmacht. Nur bei Nebensächlichkeiten dürften die Wähler hier mitreden, schreibt Röhl: "Denn die große Politik, die Themen wie die Energiewende, den Euro, Zuwanderung, Gender-Politik bleibt sakrosankt verschlossen und Entscheidungen darüber werden dem staunenden Volk von oben vorgegeben." Auch das warum ist klar, auch wenn hier die Frageform für eine Antwort genutzt wird. "Weil das Volk zu dumm ist, diese komplexen Fragen zu entscheiden und lieber auf Demagogen, sogenannte Rechts- und Linkspopulisten, hereinfiele."

Ein Unwohlsein geht um in Europa, ein Unwohlsein, das von Irland über Frankreich, von Griechenland bis Finnland reicht. Wasser auf die Mühlen gefährlicher Populisten, krude Deutschtümelei und platteste Parolen sind eben gerade gut genug, den Unwissenden das garantiert glühbirnenfrei Licht des Glaubens an die Unbeflecktheit der Union zu bringen.

Waschmittelwerbung, die kaum noch Adressaten findet, obwohl sich ein bienenfleißiges Heer aus Edelfedern seit Monaten bemüht, jede widerstreitende Ansicht zu grundlegenden Fragen als faschistischen Putsch gegen die Grundlagen von Demokratie und Meinungsfreiheit zu erklären. Selbst die Sturmgeschütze der Kleptokratie kommen nicht mehr umhin, gelegentlich einzuräumen, dass irgendetwas schiefgelaufen ist. Einen "fortgeschrittenen politischen Kollaps in Europa" lässt die Frankfurter Rundschau den Historiker Mark Mazower diagnostizieren, die "Welt" hingegen ruft dazu auf, "Europa gegen die EU" zu verteidigen. Was gemeint ist, versteht, wer Martin Schulz und seinen Kandidatenkollegen Jean-Claude Juncker je faseln gehört hat: Zwei Männer, die perfekt Außerirdisch sprechen, gelandet in einer Welt, die nicht die ihre ist.

Behelfen müssen sie sich mit Parolen, die klingen wie ein Günter-Grass-Gedicht, geschrieben mit allerletzter Tinte:

Ein Europa der Menschen
nicht des Geldes
Ein Europa der Demokratie
nicht der Bevormundung
Ein Europa des Miteinanders
nicht des Gegeneinanders
Ein Europa der Chancen
nicht der Arbeitslosigkeit
Ein Europa des Wachstums
nicht des Stillstands

Damit Europa mehr Arbeit
und Wachstum schafft
Damit ein stabiler Euro
allen hilft
Damit Europa Chancen
für alle bringt
Mehr Demokratie durch Volks-Entscheide
Mehr Lohn, mehr Rente,
Armut bekämpfen
Rüstungs-Exporte
verbieten
Keine Steuer-Gelder
für Zocker-Banken

Flüchtlinge schützen,
nicht ertrinken lassen
Gegen unbegrenzte
Abhörmöglichkeiten
Für ein Europa
in dem niemand untergeht
Artgerecht
statt ungerecht
Für Klimaschutz
ohne Grenzen
Atom aus
Natur an

Politiksimulation vor leerem Saal

Aus großer Macht erwächst große Verantwortung, aus großer Ohnmacht hingegen grassierende Wahlmüdigkeit. Wenn 400 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen sind, ihr gemeinsames Parlament zu wählen, dann müsste das in einer Welt des Sports und der permanenten Wettbewerbe eigentlich ein Ereignis sein, das die Menschen durch sein schieres Geschehen mitreißt wie Olympische Spiele auch Nicht-Leichtathletik-Interessierte für einige Woche zu Tartanbahnexperten zu machen pflegen.

Hier aber war das Bild vom ersten Tag an ein anderes. Während aus den Medien ein Trommelfeuer aus Wahlpropaganda niederging, wendete sich das anvisierte Zielpublikum gähnend ab. Die beiden angeblichen "Spitzenkandidaten" machten die Politiksimulation vor leerem Saal dann perfekt: Sahen die Vorabendserie "Um Himmels Willen" in der ARD noch 5,51 Millionen Fernsehzuschauer (21,2 Prozent Marktanteil), schalteten satte 3,26 Millionen von denen um Punkt 21 Uhr ab, als die sogenannte "Wahlarena mit Martin Schulz und Jean-Claude Juncker" versuchte, zwei langweilige EU-Bürokraten als charismatische Kämpfer für ein besseres Europa zu inszenieren (Marktanteil jetzt noch 8,6 Prozent). Mit dem Schluss der Sendung und dem Beginn der "Tagesthemen" erholte sich die Einschaltqoute auf 2,44 Millionen, der Marktanteil stieg auf 12,1 Prozent.

Eine Abstimmung mit der Fernbedienung, das eigentlich sowohl inhaltlich als auch von der Wahrnehmung durch das Zielpublikum ein reines Desaster war. Was die im Dienst der guten Sache konsequent an ihren Lesern vorbeischreibenden Leitmedien nicht hinter, die Phantasie Gassi zu führen. "TV-Duell tut lahmem Europawahlkampf gut" heißt es da und ein "ungleiches Duell" hat der Deutschlandfunk in einer Sendung gesehen, die mehr Paartanz war als Streitgespräch. Aber wo man einig ist, dass alle einer Meinung sein müssen, weil jeder, der etwas anderes sagt, den Konsens der Demokraten aufkündigt, fällt es eben sogar schwer, so zu tun, als würde man streiten.



Samstag, 24. Mai 2014

Grundgesetz-Geburtstag: Kraft des Wortes, redigiert

Navid Kermani, raunt die „Welt“ bedeutungsvoll nähere sich bei der Feststunde im Bundestag „dem Grundgesetz, indem er seine Sprache beschreibt“. Das tausendmal zitierte "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist, so Kermani, in Wirklichkeit ein "Paradox": "Die Würde ist unantastbar und muss dennoch geschützt werden." Er beschreibt, wie in wenigen Worten das klassische deutsche Verständnis von ihrem Gemeinwesen umgekehrt wurde: ""Es erklärt den Staat, statt zum Telos, nunmehr zum Diener des Menschen, und zwar grundsätzliche aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn."

An dieser zivilisatorischen Wende kann sich Kermani fast minutenlang erfreuen. "Sprachlich vollkommen" sei der Text, man könne seine "Wirkmächtigkeit nicht würdigen ohne seine sprachliche Schönheit, nur mit der Lutherbibel sei dies vergleichbar, Wirklichkeit wurde geschaffen, "nur mit der Kraft des Wortes".

Was Kermani hier propagiert, ist klassischer "Verfassungspatriotismus" im Geiste Jürgen Habermas, lobt die „Welt“ wie alle anderen angeschlossenen Sendeanstalten. Nein, niemand fragt sich, von welcher Verfassung der Mann am Rednerpult spricht. Meint er das Grundgesetz von 1949? Oder die 1994 zur Verfassung erklärte Erweiterung? Oder das Grundgesetz, das heute gilt – seitdem auch wieder um zahllose Erklärungen, Verdeutlichungen und Ergänzungen erweitert.

Die Unabhängigkeitserklärung der USA hat zwar auch nicht nur 300 Wörter, wie es oft heißt, kommt aber mit 1322 aus – einem Zehntel dessen, was das ursprüngliche Grundgesetz zu sagen hatte. Doch dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk galt, hat seine Gültigkeit ohnehin seit dem Tage verloren, an dem keine Verfassung in Kraft trat, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist, wie der Artikel 146 des Grundgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 1949 über mehr als 40 Jahre lange forderte. Es ist der Artikel, der sich in heutigen Fassung nicht mehr findet, weil Einheit und Freiheit vollendet sind und man sich über eine Verfassung nicht einigen konnte und ihn deshalb strich.

Schon darin ist der Zuwachs an Demokratie, für den das Grundgesetz selbst steht, unübersehbar. Hatte das Original noch 146 Artikel auf 47 Seiten, die aus 12.216 Wörtern bestanden, die wiederum aus 73.368 Zeichen zusammengesetzt waren, ist die Version von heute zwar einen Artikel kürzer, doch Dutzende von Änderungen des ursprünglichen Textes haben das ehemals kompakte Papier zu einem Regelwerk aufgebläht, das um fast die Hälfte dicker ist als ehemals.

86 Seiten zählt das GG heute, aus knapp über 12.000 Wörtern mit 73.000 Zeichen sind 23.231 mit satten 153.092 Zeichen geworden.

Schulz in Angst: Nun sticht die nationale Karte

Deutsch ist Trumpf auf den letzten Metern des Europawahlkampfes. Erst prangerte die Kanzlerin mit Blick auf euroskeptische Wählerkreise die krude These an, die EU sei keine "Sozialunion". Und nun kartet Martin Schulz, bisher Hoffnungsträger der europäischen Sozialdemokratie, nicht weniger europafeindlich nach: "Nur wenn Sie Martin Schulz wählen, kann ein deutscher Präsident der EU-Kommission werden", heißt es in einer Anzeige, mit der der gescheiterte Buchhändler versucht, am rechten, nationalistischen Rand auf Stimmenfang zu gehen.

"Damit zeigt der vermeintliche Supereuropäer sein wahres Gesicht", kommentiert die Taz den Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten von Kleinstaat und nationaler Besoffenheit. Mit seiner Anzeige habe sich "ausgerechnet der Präsident des Europaparlaments aus dem Kreis der ernstzunehmenden EU-Versteher verabschiedet", heißt es weiter. Dort war der Mann, der "das Vertrauen in die EU wiederherstellen" wollte, genau richtig. Hier kann der "undemokratische Faschist", wie ihm der der britische Europaabgeordnete Godfrey Bloom ungestraft nannte, sein Talent zur Hinterzimmerkungelei einbringen, er kann Strippen ziehen und in mit sich selbst geführten Interviews vom „Politikwechsel“ babbeln. Schulz in seinem Element, ein Bürokrat der Tat, ein Völkerführer, der aus deutscher Stärke heraus berufen ist, einen ganzen Kontinent in eine lichte Zukunft zu führen.

Auch im Ausland ist der neue, nationalistische Ton in der Wahlwerbung des offenbar ernsthaft um seine Pfründe fürchtenden früheren Bürgermeisters von Würselen nicht unbemerkt geblieben. Schulz rufe "seine Landsleute dazu auf, für ihn zu stimmen, weil er Deutscher ist", urteilt das "Luxemburger Wort" - wohl in Angst, dass Schulz' Konkurrent, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, keine Chance mehr hat, wenn die Deutschen massenhaft nach ihrem Blut entscheiden und dem Twitter-Aufruf des Medienjournalisten Stefan Niggemeier folgen: „Deutsche, wählt nicht den Luxemburger!“

Freitag, 23. Mai 2014

Die Mär vom Weltsozialamt

Ist denn Deutschland wirklich der Zahlmeister Europas? Der Welt gar? Und wenn ja, was kann man dagegen machen? Kathrin Haimerl hat in der Süddeutschen Zeitung zahlreiche coole Argumente zusammengetragen, warum die rechtspopulistische Kanzlerin irrt, wenn sie mit AfD-Parolen auf Krudenfang geht. PPQ-Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech hat den Text für PPQ aus dem Propagandistischen ins Deutsche übersetzt.

Bei einer Frage in der ARD-Wahlarena platzte dem konservativen Kandidaten Jean-Claude Juncker fast der Kragen. Ein junger Zuschauer hatte gerade erklärt, er sei nicht bereit, für seinen Nachbarn zu zahlen. Juncker wollte das so nicht stehen lassen. Er hatte bei der Frage einen "Zwischenzungenschlag" gehört. Ob der junge Mann denn prinzipiell nicht bereit sei zu Solidarität, fragte der Luxemburger. Das wäre ja dann verboten, nicht wahr? Der junge Mann war soofrt eingeschüchtert. Juncker setzte nach: "Es ist nicht so, dass die Tugendhaften im Norden Europas sitzen und die Sünder im Süden. Es ist einfach nicht so." Er müsse das jetzt nicht belegen, Statistiken gebe es dazu zwar, aber die seien „nicht hilfreich“. Juncker abschließend: „Nehmen Sie das bitte einfach zur Kenntnis.“

Das saß.

Jean-Claude Juncker ist der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei und als solcher vertritt er auch CDU und CSU. Letztere Partei ist ziemlich nervös angesichts der Umfragewerte der Alternative für Deutschland. "Wer betrügt, der fliegt", schallte es Anfang des Jahres von der CSU-Klausur in Kreuth. Die Christsozialen um Horst Seehofer gingen mit Stimmungsmache gegen EU-Zuwanderer auf Wählerfang. Plumper Populismus, der beim Volk ankommt. Während die Werte für die Kanzlerinnenpartei stagnieren, steigen sie für die erklärten Gegner einer durchgegenderten Einheits-EU.

Kurz vor der Europawahl gießt die Kanzlerin, die sich bisher wie immer aus allem gherausgehalten hat, nun selbst Öl ins Feuer. "Die EU ist keine Sozialunion", sagte Angela Merkel der Passauer Neuen Presse. Ein Zitate der AfD-Parole "Wir sind nicht das Weltsozialamt" (AfD), die es von der NPD-Parole "Wir sind nicht das Sozialamt der Welt" übernommen hatte.

Ist es aber deshalb falsch? Nein, denn natürlich ist Deutschland im Grunde kaum betroffen von Sozialeinwanderung. Im Vorjahr etwa bezogen in Deutschland lebende EU-Bürger nur Hartz-IV-Leistungen in Höhe von etwa 1,7 Milliarden Euro, die Leistungen für Ausländer insgesamt betrugen bloß läppische 6,7 Milliarden. Das ist kaum mehr als die deutsche Pflegeversicherung an Rücklagen angespart hat.

Und viel, viel weniger als Bundesbürger erhielten: Satte 26,8 Milliarden Euro! Denn schon jetzt ist es so, dass Deutschland Zuwanderern aus anderen EU-Staaten, die keine Arbeit haben, Hartz-IV-Leistungen verweigern könnte, das jedoch nur selten tut. EU-Bürger sind in Deutschland auf jeden Fall anspruchsberechtigt, wenn sie hier ihre Stelle verloren haben, und sei es auch eine als scheinselbständiger Schrottsammler. Nur in einigen Kommunen gibt es deshalb massive Probleme, etwa in Duisburg, Dortmund und Mannheim, wo Migranten unter teils unmenschlichen Zuständen leben müssen, weil sie außer Kindergeld, Sozialhilfe, Wohngeld, der Bezahlung von medizinischer Behandlung und der Betreuung durch das Sozialamt keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen haben.

Sozialbetrug dagegen wird nur von Firmen begangen, die Menschen aus Bulgarien und Rumänien anlocken, nicht von deren Opfern, die hier nichts an die Kranken- und Rentenversicherung abführen und als Scheinselbständige unter Mindestlohn-Niveau bezahlt werden.

Das alles sind Probleme, die diskutiert werden und für die Lösungen gefunden werden müssen. Allerdings muss das mit Sorgfalt, Ruhe und hinter verschlossenen Türen geschehen, damit sich nicht die Falschen an der Debatte beteiligen. Der mediale Raum, den die Diskussion um den angeblichen Sozialmissbrauch durch Zuwanderer aus ärmeren EU-Staaten einnimmt, ist jetzt schon unverhältnismäßig groß gemessen an der gesellschaftlichen Bedeutung: Google News listet aktuelle 12000 Fundstellen für „Ausländer Hartz IV“, aber nur knapp 5,5 Millionen für „Bundesliga“. Hier zeigt sich die wahre Macht der Populisten, die bei der Europawahl starke Zugewinne verzeichnen könnten: In ihrem Einfluss auf den politischen Diskurs, der dadurch dazu tendiert, teilweise öffentlich stattzufinden.

Wie die Ukraine verschwand

Kein Weltkrieg, nirgends. Zwei Monate nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise in den deutschen Medien ist die Meute weitergeeilt zu neuen akuten Schlachten und Kämpfen. Thailand, Steuersünder und Rentenpaket, Inklusion und Erdogan - galt die Ukraine noch vor einigen Wochen als die Mutter aller Themen, zumindest für dieses Jahr, so zeigt sie heute schon, wie schnell fallen kann, was hoch gestiegen ist. Der kommende Krieg, die Spaltung Europas, der Rauswurf Russlands aus der friedliebenden Völkerfamilie, das alles spielt medial gesehen schon heute kaum noch eine Rolle, wie die unbestechliche Trend-Statistik der Suchmaschine Google zeigt.

Kein Weltkrieg in Sicht und nirgendwo klare Frontlinien. Stattdessen nur mühsames Auseinanderklamüsern von Schuldanteilen: Kosaken gegen Tataren, Russen gegen Prorussen, Separatisten gegen Föderalisten, CIA gegen KGB, Putin gegen Hitler. Berauschte sich die deutsche Presse zu Zeiten der Krim-Krise noch an Begriffen wie "Annexion" und "Einmarsch", ist die Krim-Berichterstattung mit dem Anschluss der Halbinsel an Russland fast völlig erlahmt. Ein paar müde Reiseberichte, ein Aufruf, die Rechte der Tataren zu schützen. Aus, Ende, vorbei.

Im Zuge des allgemeinem Themensterbens in der deutschen Medienlandschaft, dem nach Untersuchungen eines Forscherteams des An-Institutes für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung in Halle an der Saale zuletzt der Fall Hoeneß, der Fall Edathy, die Terrorgruppe NSU und der "Cyberdialog mit Amerika" (Steinmeier) zum Opfer gefallen waren, ist die Ukraine in einem großen Loch aus Nichts verschwunden. An manchen Tagen wird die größte Krise, die Europa seit 1945 erlebt, immerhin noch in einer Fußnote erwähnt. An anderen überhaupt nicht mehr.

Für den Medienwissenschaftler Hans Achtelbuscher, der vor Jahren erstmals wissenschaftlich beschrieben hatte, wie es zum grassierenden Themensterben in den deutschen Leitmedien kommt, ist das keine Überraschung. "Es kommt ja nicht darauf an, wie wichtig ein Thema wirklich ist", ist sich Achtelbuscher sicher, "sondern auch darauf, wie es sich medial vermitteln lässt." Im Fall der Ukraine sei mit Fortgang der Ereignisse eine immer unsicherere Nachrichtenlage entstanden, aufgrund der sich Gut und Böse auch mit der in allen deutschen Redaktionsstuben aufgebrachten Mühe nicht mehr klar einteilen ließen. "Das ist dann immer der Punkt, an dem man sagt, was gibt es denn sonst noch Schönes?"

Die großen Linien, an denen sich die Ereignisse weiterhangeln werden, sind für Experten völlig klar. "Spätestens nach der Europawahl am 25. wird die Ukraine im selben Orkus verschwinden wie Syrien", heißt es bei Eingeweihten. Der Fahrplan danach ist übersichtlich: "Danach folgen zwei Wochen der üblichen Ganzjahresloch-Themen, bis endlich die WM anfängt." Anschließend könne man sich dann "endlich wieder herrlich über Korruption, Fremdenhass und Homophobie auslassen".

Donnerstag, 22. Mai 2014

Kampf gegen Google: Gefährlichen Populisten

Kaum gibt die Ukraine nicht mehr genug Zündstoff her, um die Einschaltquoten aufzuheizen, weichen gefährliche Populisten aller Parteien auf neue Gefechtsfelder aus. Der Internetriese Google, hierzulande in Zeiten der Themennot immer gern als Punchingball benutzt, muss auch diesmal wieder herhalten, einen Kampf des guten Staates gegen das böse Privatinteresse der Datenkrake aus Amerika zu simulieren.

Auf einen Vorschlag von Matthias Döpfner, dem Chef des ausschließlich der Volksaufklärung verpflichteten Springer-Konzerns, hat Sigmar Gabriel den Amerikanern, denen die Deutschen durch ihre Suchgewohnheiten zu großer Marktmacht verholfen haben, jetzt mit Konsequenzen bis hin zur Zerschlagung gedroht. In einem auf klickintensive sechs Seiten aufgeteilten Beitrag für die FAZ kündigt Gabriel einen Kampf gegen die  "Informationskapitalisten"®© und eine "Bändigung des Datenkapitalismus" an: Das geschehe, "um die Würde des Menschen und seine Freiheit zu bewahren und gleiche Chancen auf Teilhabe und Teilnahme für alle zu schaffen" und werde natürlich geschehen, "ohne ihm seine Innovationskraft und seine individuelle und gesellschaftliche Nützlichkeit zu rauben".

Wie das geht, hat die deutsche Politik in den sogenannten Google-Kriegen um die Einführung des Dienstes Google Street View beispielhaft vorexerziert, wie ein Blick auf die aktuelle Europa-Karte der Street-View-Dienste zeigt (oben). Ganz Europa wird vom Google-Service erfasst, fast jedenfalls, denn mitten im blau unterlegten Google-Street-View-Reich gähnen zwei riesige Löcher: Neben Weißrußland und der Ukraine, die Google nicht erfasst, hat der US-Konzern alle Arbeiten an seinem Dienst nach den vehement vorgebrachten Protesten deutscher Spitzenpolitiker und einer gespenstischen Medienkampagne im Herbst 2010 auch in Deutschland und Österreich eingestellt.

Ein beeindruckender Beweis für die Wirkungsmacht leeren Politiker-Parolen - und ein versprechen darauf, dass es immer ernst wird, wenn Leute wie Sigmar Gabriel versprechen, "die Freiheit des Bürgers zu schützen und die Grundrechte der analogen Welt im digitalen Zeitalter durchzusetzen". Dann nämlich geht es garantiert nicht um Street View oder Google, sondern eigentlich darum, vom Unwillen der Nämlichen abzulenken, sich den wirklichen Problemen zu widmen: In seiner Kampfschrift für den Datenschutz, die die FAZ auf sechs Seiten voller Überwachungs- und Auswertungstools untergebracht hat, erwähnt der SPD-Chef und bis heute amtierende Pop-Beauftragte der deutschen Sozialdemokratie die Überwachung deutscher Bürger durch die NSA mit keinem Wort.

EU: Die Wahl der Qual

Keine 72 Stunden mehr bis zur Schicksalswahl, und selbst die glühendsten Fans wenden sich angewidert ab. Soweit ist es gekommen mit dem Friedensprojekt, dessen Urnengänge denen zum Ende der DDR gleichen: Es kommt nicht mehr darauf an, wer wen wählt, nein, das einzig wirklich bedeutsame Zeichen ist die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, ihren Zettel zu falten, um fragwürdigen Gestalten zu einträglichen Posten zu verhelfen. So fand die sogenannte "Europawahl-Debatte" beim Staatssender Phoenix gerademal 160.000 Zuschauer, etwa die Auflage ders Regionalzeitung "Westfälischer Anzeiger" und umgerechnet ein Marktanteil für Europa von von 0,5 Prozent.

Auch die Parolen, mit denen die Parteien auf Stimmenfang gehen, spiegeln die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, den Rest derer, die noch bereit sind, ihre Stimme abzugeben, mit Inhalten überzeugen zu wollen. Nein, statt Ziele oder gar Visionen oder auch nur Wege dahin anzupreisen, belassen es die angetretenen Parteien bei möglichst allgemein gehaltenen Parolen: "Gemeinsam erfolgreich" ist die Kanzlerin, die selbst nicht zu wählen ist. Für einen "stabilen Euro, der allen hilft" wirbt ihre Partei, für die ein stabiler Euro allein offenbar kein Wert ist, wenn er nicht "allen hilft". Die Linke "passt auf", sagt aber nicht, worauf, die Rechte plakatiert "gute Argumente statt großer Versprechungen", nennt sie aber nicht.

In einer Wordle-Cloud (oben) der plakatierten Plattitüden aller Blockparteien sind "Europa" und "mehr" die dominierenden Begriffe, gefolgt von "Chancen" und "Demokratie", zwei Dingen also, an denen das EU-Europa der Veranstalter gewiss kein Überangebot hat. Ein Eindruck, der bei den Bürgern längst Konsens ist: Diese Abstimmung ist nicht die Qual der Wahl zwischen verschiedenen politischen Strategien, Zielen und den Wegen dorthin, sondern sie bietet allenfalls die Möglichkeit, zu wählen welche Politiker die nächsten fünf Jahre berufen sind, das Wahlvolk mit Plattitüden und Schwindeleien zu quälen.

Das Ergebnis ist unübersehbar. Seit der ersten sogenannten Europawahl im Jahr 1979 stieg der Aufwand, der um den Europa-Urnengang gemacht wird, zwar beträchtlich an. Doch die Wahlbeteiligung sank im selben Zeitraum von ehemals 65,7 Prozent auf zuletzt gerade noch 43,3 Prozent der Wahlberechtigten.

Das EU-Europa der Eliten hat nun ein doppeltes Legitimationsproblem. In den meisten Mitgliedsländern ist die Gemeinschaft aus Angst vor Zurückweisung niemals durch Volksabstimmungen bestätigt worden, nun wehen der Fassadendemokratie auch noch die Feigenblätter der symbolhaften Abstimmungen über die Volksvertreter im Europa-Parlament weg.

Wie in der DDR ist die Reaktion auf den Trend zornige Propaganda. Die Wahl, die keine ist, wird für "alternativlos" erklärt, die Teilnahme selbst zum demokratischen Akt, die Verweigerung hingegen unabhängig von ihren Gründen zu einer gemeinschaftsschädigenden Tat, die nur die "Falschen" stärkt. Ein propagandistisches Bemühen, das verzweifelt wirkt. Aus der DDR ist das Ergebnis überdies bekannt.

Mittwoch, 21. Mai 2014

Zitate zur Zeit: Ich bin so dankbar für Ihre Frage

"Werte haben ihren Preis."

Jean-Claude Juncker, ARD-Wahlarena

Walter im Kampf gegen Krakeeler

Ein Mann im Kampf gegen Krakeeler und Falschversteher, gegen Europaabweichler und krude Putinisten: Walter Steinmeier, einst die eiskalte Schneeeule der deutschen Sozialdemokratie, hat wenige Tage vor der Europawahl klargemacht, wie nahe der Widerstand weiter Bevölkerungsteile gegen die Ukraine-Politik der Regierung dem Spitzenpersonal auf der Brücke des Staatsschiffes inzwischen geht. Fiebernd und mit einem offensichtlich bluthochdruckgetriebenem Temperament zetert Steinmeier gegen Leute, die ihn Kriegstreiber nennen, nur weil er es war, der über Monate auf einen Regimewechsel in der Ukraine hingearbeitet hat.

Es ist eine wahrhaft historische Rede, in der ein führender Politiker klar macht, was er von seinem Wahlvolk hält. Es ist störend. Nervend. Uninformiert. Beseelt vom Geist, es ohnehin besser zu wissen, lässt Walter Steinmeier den sonst gern verschwiegenen Geist der Elite heraushängen. Er fantasiert sich eine bipolare Welt herbei: Ihr geht arbeiten. Ich gehe regieren. Was widerspricht, stört nur, und sei es die Wahrheit.

Selten zuvor ist ein deutscher Politiker so deutlich geworden, selten zuvor hat einer öffentlich so getan, als habe er nie getan und gesagt, was er noch vor Wochen getan und gesagt hat.

Russland habe die Notlage der Ukraine ausgenutzt, um den EU-Assoziierungsvertrag zu verhindern, wetterte Steinmeier noch im Dezember. Die Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitstruppen von Präsident Viktor Janukowitsch verurteilte er damals, die der Sicherheitsgruppen von dessen Nachfolger schon nicht mehr. Selektiv auch die Betroffenheit des Friedensengels aus Niedersachsen: „Es sind fürchterliche Bilder, die uns über Nacht aus der Hauptstadt der Ukraine erreicht haben“, ließ er im Januar wissen, als angebliche Janukowitsch-Männer Maidan-Demonstranten töteten. Nach den Toten von Odessa hingegen blieb Steinmeier stumm.

Umso lauter brüllt er nun, um vergessen zu lassen, was war. Deutschland, in Gestalt von Gestalten wie dem Alt-EU-Aktiven Elmar Brok treibender Keil bei der Teilung der Ukraine, müsse sich künftig „früher, entschiedener und substantieller bei der Lösung internationaler Konflikte einbringen", kündigte Steinmeier nach seinem Amtsantritt noch an. Dazu forderte er die neue Regierung in Kiew direkt nach der Machtübernahme auf, die ukrainische Verfassung zu ändern. Eine Einmischung in innere Angelegenheiten? Nein, den für die ist ausschließlich Putin zuständig.

Leuten wie sich selbst liest Steinmeier jetzt die Leviten, indem er tut, als meine er andere. "Ihr solltet Euch überlegen, wer hier die Kriegstreiber sind", schreit er den protestierenden Massen entgegen. In der Ukraine verstehe er "eine frustrierte Opposition, die seit Tagen und Wochen spürt, dass sich nichts bewegt. Aber doch nicht hier! "Wer eine ganze Gesellschaft als Faschisten bezeichne, der treibt den Krieg!", ist der Außenminister sicher. Auch bei Faschisten müsse unterschieden werden, ob sie gute oder böse, faschistische russische oder demokratische europäische Faschisten seien. "Der Sozialdemokratie muss man nicht sagen, warum wir für Frieden kämpfen", so Steinmeier. Schließlich habe die sozialdemokratische Fraktion im Parlament nicht nur am 4. August 1914 geschlossen der Bewilligung der Kriegskredite zustimmt, sondern auch dem Einsatz von Nato-Bombern in Ex-Jugoslawien zugestimmt.

"Es werden nicht mehr nur Worte gemacht, sondern es wird auch gehandelt, wenn es notwendig ist, und das ist ein Pluspunkt", sagte SPD-Bundestagsfraktionchef Hans-Ulrich Klose damals. "Weil wir den Frieden wollen, dürfen wir es euch nicht so einfach machen!", ruft Walter Steinmeier heute. Die Welt bestehe nicht auf einer Seite aus Friedensengeln und auf der anderen Seite aus Bösewichten, auch wenn dieser Eindruck seit Monaten von der deutschen Spitzenpolitik und den angeschlossenen Funkhäusern erweckt werde. Sie bestehe vielmehr aus bösen Russen, demokratischen Westukrainern, mörderischen Separatisten und mit dem Friedensnobelpreis geehrten EU-Politikern. Proteste gegen ein so einfaches Weltbild zeigten, dass "es immer noch Menschen gibt, die Europa nicht verstanden haben".

Dienstag, 20. Mai 2014

Neu im NSA-Regal: Satirealität


Als der ehemalige Stasi-Offizier Horst Kranheim, Ende der 80er Jahre im Auftrag des MfS Vertreter des größten DDR-Rechenzentrums in Jena bei der Internet Assigned Numbers Authority (IANA), vor einem Jahr hier bei PPQ exklusiv darüber auspackte, wie die Staatssicherheit die US-NSA dabei beobachtete, wie die NSA die Bundesregierung beobachtete, galt das zahlreichen Lesern als Satire, andere hielten es für widerliche Hetzparolen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Zwar hatte Kranheim, der bei der Etablierung des Internets unmittelbar beteiligt, war, ausführlich dargelegt und bewiesen, wie das gesamte sogenannte Internet „von Anfang an darauf angelegt wurde, Menschen dazu zu verleiten, Informationen von sich preiszugeben, um sie geheimdienstlich verwertbar zu machen“ und wie Google, Facebook und Apple von Geheimdienstlern gegründet und finanziert wurden. Allein glauben wollten viele Menschen das nicht, weil "Spiegel", "Stern", "FAZ", "Focus" und alle anderen Qualitätsblätter sich weigerten, über die Offenbarungen des ehemaligen Obersten, der im Ministeriums für Staatssicherheit die Abteilung für funkelektronische Aufklärung unter Markus Wolf (Abteilung II, Spezialfunkaufklärung) geleitet hatte, zu berichten.

Was nirgends steht, kann auch nicht stimmen, hieß es auch im Bundestag, der umgehend beschloss, einen Untersuchungsausschuss einzuberufen, der prüfen sollte, ob Kranheim Hintermänner in Moskau hat. Nun allerdings hat Kranheims früherer MfS-Kollege Klaus Eichner auf einer von der Wau Holland-Stiftung und von Reporter ohne Grenzen in Berlin veranstalteten Podiumsdiskussion bestätigt, dass die USA deutsche Bürger bis hin zur Regierungsspitze bereits Mitte der 80er Jahre abhörte. Der ehemals für das Treiben der NSA und CIA zuständige Chefanalytiker des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) berichtete, dass eine "Quelle" ihm 1985/1986 die sogenannte NSRL-Liste zuspielte, die das ganze Ausmaß der Überwachung der Alliierten durch die NSA dokumentierte. Diese "NSA Requirements" umfassten 4000 Seiten mit Beschreibungen all der Personen und Institutionen, die für die NSA informationsmäßig von Bedeutung waren.

Die Quelle war ein technischer Fernmeldeaufklärer der US-Armee mit relativ niedrigem Dienstgrad - eine Parallele zum Fall Snowden, in dem sich das damalige Leaking getreu des Marx` Wortes von der doppelten Geschichte als Farce wiederholt.

Erfindung wird zur Wirklichkeit, Satire wird zur Realität.

EU-Men: Superkraft Opportunismus

Von Matthias Machnig,
mit Martin Schulz und Jean-Claude Juncker
FSK ab 12 freigegeben
Filmstart: Donnerstag, 22. Mai 2014 (Deutschland)

"X-Men: Europawahl" ist eine filmische Adaption der gleichnamigen beliebten Demokratie-Simulation rund um eine Gruppe von EU-Bürokraten mit übermenschlichen Kräften. Inszeniert wird die Fortsetzung zu „X-Men - Erste Entscheidung“ für die SPD von Wahlkampfleiter Matthias Machnig, der bereits Gerhard Schröder und Utz Claasen auf die große Leinwand brachte.

Inhaltsangabe & Details

In der Zukunft stehen die EU-Bürokraten kurz vor dem Aussterben, weil sie von Euro-Feinden gejagt, von Populisten bedroht und vom gemeinen Volk verabscheut werden. Aufgrund der Bedrohung arbeiten die Gegner Francoise Hollande (Sozialistischer Block) und Angela Merkel (Konservativer Block) zusammen – ihr Plan sieht vor, eine neue Begeisterung für das große Friedensprojekt über eine vermeintlich demokratische Wahl des neuen Präsidenten der EU-Kommission zu entflammen. Dazu schicken sie Martin Schulz (Sozialistischer Block) mit Hilfe einer allein für den deutschen Markt mit zehn Millionen Euro gefüllten Wahlkampfkasse zusammen mit Jean-Claude Juncker (Konservativer Block) zu einem Schaulaufen vor Fernsehkameras, in Redaktionsstuben und auf Marktplätze, wo beide eine ernsthafte Auseinandersetzung über Grundfragen simulieren.

Vor allem Schulz, als gelernter Buchhändler in der Vergangenheit mit glücklosen Ausflügen berühmt geworden, glänzt in seiner neuen Rolle als unbeholfener Volkstribun mit verschiedenen Superkräften. Auffallend ist sein ungeheures Talent, jede Spur von Charisma, Intelligenz und Volksnähe komplett unsichtbar machen zu können.

Doch die wahre Superkraft des Martin Schulz ist der Opportunismus, der es ihm erlaubt, das Gegenteil von allem zu fordern, für was er selbst bis gestern stand, ohne dabei schamrot zu werden und im Boden zu versinken. Schulz, der Europa seit 20 Jahren mitaufbaut und sämtliche Entscheidungen zur Gestaltung der EU bis hierher mitgetragen hat, tritt jetzt an, die EU zu erneuern, sie "vom Kopf auf die Füße zu stellen" (Schulz) und die Staatengemeinschaft zur echten Volksrepublik zu machen.

Geht es nach dem Polizistensohn aus Eschweiler, dann dürfen die Wähler in ihm nicht mehr den "Brüsseler Apparate-Menschen" (Tagesspiegel) sehen, sondern einen "Robin Hood", der gekommen ist, den Menschen europäische Demokratie zu bringen. Schauspielerisch eine große Leistung, zumal Schulz in seiner drögen Kantigkeit nicht als großer Charakterdarsteller gilt. Das aber überspielt der geheilte Alkoholiker mit Dreistigkeit und großer Lautstärke, so dass man ihm die Persiflage wirklich abnimmt. Von der Inszenierung her allerdings lässt "X-Men: Europawahl" viele Wünsche offen. Der Streifen wirkt lieblos gemacht, die Kulissen erinnern an Pappbauten, die Fernsehduelle der Kandidaten an Sendungen im Shopping-TV.

Montag, 19. Mai 2014

Wer hat es gesagt?

Ich will doch gar keine alleinige Entscheidung des Parlaments oder des Ministerrates, weil wir in der EU in einem föderalen System sind, in dem ich möchte, dass die Volkskammer entscheidet.

EU-Wahl: Der Schulzomat im Actionfilm

Seine Botschaft paßt in ganze 32 Sekunden: Ein älterer Mann mit verwüstetem Gesicht läuft durch lange Gänge, vorbei an blankpolierten Glasscheiben, er geht Treppen hinaus und schwenkt eine rahmenlose Brille in seiner Hand. Martin Schulz, der Mann, den die Hinterzimmer der deutschen Sozialdemokratie auserkoren haben, Europas Führer zu sein, legt beim Videoportal Youtube einen sauberen ersten Auftritt als Werber in eigener Sache hin. Eingehüllt in eine technokratische Ästhetik aus viel Glas, Beton und menschenleeren Wandelgängen präsentiert Schulz, der Buchhändler aus Würselen, seinen angegrauten Bart, seine Nasenporen und die wild wuchernden Augenbrauen zu sanfter Klaviermusik. Nach 20 Jahren im Europaparlament, so sagt er, habe er "eines gelernt": "Europa muss nicht alles regeln".

Schulz, in grauem Anzug und einem rotem Schlips, der aus irgendwelchen Gründen ebenfalls grau wirkt, ist ein Mann der späten Erkenntnisse, wahlweise aber auch ein Blitzmerker. Zwei Jahrzehnte lang hat er mitgebaut an dem bürokratischen Monster, das aus dem Europa der Eliten geworden ist. Nun aber, angesichts eines zarten Gegenwindes, ist er schlagartig bereit, alle Überzeugungen über Bord zu werfen und sich denen anzudienen, die er eben noch als Demagogen abgegoebbelst hat.

Es ist Schulz` offensive Charakterlosigkeit, die ihn dorthin gebracht hat, wo er heute mit Denkermiene durch die leeren Hallen streift, weit weg vom Wahlvolk und unbelastet von jeder politischen Vision. Ein Schulzomat in einem Actionfilm, in dem nichts passiert. Mit der Dreistigkeit eines Parvenüs wettert der "undemokratische Faschist“, wie ihn der britische Europaabgeordnete Godfrey Bloom einst nannte, gegen die "Arroganz der europäischen Funktionseliten“, als gehörte er nicht dazu und als kassierte er nicht allein zusätzliche Tagegelder von mehr als 9.000 Euro monatlich zu seiner Abgeordentendiät und noch einmal eine extra Residenzzulage von monatlich 3.663 Euro nebst einer Repräsentationszulage von monatlich 1.418 Euro steuerfrei.

In seinem Werbespot spricht der Abkassierer nun aber Worte wie transparent, innovativ und gerecht aus, als hätten die irgendetwas mit ihm und seinem Ziel zu tun, Präsident der Europäischen Kommission zu werden, um "Europas Kopf zu bleiben" (Schulz) und noch näher an die ganz großen Fleischtöpfe zu kommen.

Der Mann, der traditionell nach Motto "schuld sind immer die anderen" agitiert, ist bis in sein antiseptisches, an einen Film über Cleanräume in einer Chipfabrik erinnerndes Werbevideo hinein ein prächtiger Vertreter der wirklichkeitsfernen Gattung des europäischen Vollfunktionärs, deren Chef er werden möchte. Einen "lebenden Werbespot für die EU-skeptische Bewegung" nannte ihn die Basler Zeitung schon im Februar. Wie er hier nun gemessenen Schrittes durch die Hallen schreitet, eine Treppe hinabschleicht und sich zu einer Gruppe anderer Menschendarsteller gesellt, wirkt Martin Schulz, als sei es ihm ein sehr, sehr wichtigstes Anliegen, dass das alle wissen.

EU-Erweiterung: Hinterher ist man immer dümmer