Die Ärzteorganisation IPPNW hatte schon 2008 genau nachgezählt. "Seit Beginn der US-Invasion im Irak sind Schätzungen zufolge rund eine Million Menschen durch Kriegseinwirkungen und indirekte Kriegsfolgen umgekommen", zitierten "Junge Welt" und die AG Friedensratschlag eine Studie der Experten. Das musste ungefähr hinkommen, denn vier Jahre zuvor hatte die Frontpostille "Spiegel" berichtet, dass allein der Feldzug der Amerikaner zur Niederschlagung Saddam Husseins etwa 100.000 Opfer gefordert habe. Bis 2006 stieg diese Zahl nach derselben Quelle auf 300.000 Tote, etwa 95 Prozent davon seien Zivilisten gewesen. Auch die Welt-Gesundheitsorganisation studierte mit und schätzte die Zahl der Toten allein zwischen der Invasion im März 2003 und Ende Juni 2006 auf 151.000, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete.
Iraqbodycount hingegen, eine Seite, die die Opfer fortlaufend und äußerst penibel zählte, sprach 2008 von höchstens 90.000 und zuletzt von bis zu 107.000 Toten. Eine Quelle, die wie entsprechende Nachrechnungen von Zettel in Deutschland wegen mangelnden Schlagzeilenpotentials kaum beachtet wurde. Denn ein "Blutbad nicht gekannten Ausmaßes" (Süddeutsche) braucht er schon, der "verdammte Krieg" ("Spiegel"), um hierzulande noch Aufmerksamkeit zu erregen. Höhere Opferzahlen sind da selbstverständlich immer hilfreicher als niedrigere, sind die nicht verfügbar, wird passend gemacht, was nicht passt.
So kommt es, dass die neuen "Enthüllungen" (n-tv) der "Whistleblowerplattform" (dpa) Wikileaks vom Kriegsgeschehen an Euphrat und Tigris zwar viel geringere Opferzahlen ausweisen als deutsche Medien sich in den zurückliegenden sieben Jahren aus unterschiedlichsten Quellen zusammengesucht hatten. Die in diesem Kontext völlig unsinnige Mitteilung von Wikileaks-Gründer Julian Assange, die Dokumente belegten eben jenes "Blutbad in bisher nicht gekanntem Ausmaß" findet sich dennoch prominent in jedem Qualitätsmedium.
Falsch ist sie natürlich nicht. Das Ausmaß des Blutbades ist zumindest für deutsche Mediennutzer tatsächlich ungekannt - ungekannt gering. Gemessen an den höchsten bisher gehandelten Zahlen sind schlagartig rund 900.000 Opfer verschwunden, selbst verglichen mit der mittleren Zahl von zwischen 300.000 und 500.000 ist der wahre Irakkrieg offenbar viel weniger blutig gewesen als jahrelang öffentlich vermittelt wurde.
Nach den "Irak-Protokollen", wie der "Spiegel" die 400.000 Dokumente aus einer Pentagon-Datenbank knackig nennt, muss die Geschichte dieses Krieges nun neu geschrieben werden: Lässt sich der Vorwurf, Amerikaner hätten Iraker gefoltert, nicht mit neuen Beispielen belegen, muss eben der Vorwurf ausreichen, Amerikaner hätten gewusst, dass Iraker Iraker foltern. Und wenn schon keine neuen Belege für neue Verbrechen der US-Armee finden lassen, dann findet der "Spiegel" doch neue Hinweise auf den "ganzen Schrecken des Krieges", indem er Gräueltaten, die Iraker anderen Irakern angetan haben, gleichsam anonym auf das Konto der USA bucht: "Im Juni 2005 zum Beispiel", heißt es, dokumentierten die Wikileaks-Protokolle "den Tod von sechs Familienmitgliedern nahe Bakuba": "Die Mörder hatten den Opfern die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, dann exekutierten sie sie und schnitten ihnen die Köpfe ab - dann legten sie diese neben den Leichen auf den Boden. Der Großvater musste genauso sterben wie sein neunjähriger Enkel."
Das reicht dann auch für ein erneutes amtliches Fazit, einen Zieleinlauf nach Wunsch: Mit "USA ließen Iraker foltern" schreibt die Financial Times ohne Zweifel die Wahrheit, und das ohne Zweifel so, dass jeder die Möglichkeit hat, sie falsch zu verstehen. Der Irakkrieg, urteilt der "Spiegel" denn auch völlig folgerichtig, wenn auch grammatikalisch eigen, sei "so verheerend wie Vietnam für das Ansehen der USA" gewesen. Bei der medialen Begleitung allerdings wäre alles andere auch verwunderlich.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
2 Kommentare:
Zettel hat auch was interessantes dazu geschrieben.
danke für den tipp. habs eingefügt
Kommentar veröffentlichen