Minutenlang versucht sich Thomas Neubert nach dem Abpfiff zu erklären, was er da gemacht hat. Er beschreibt es Jan Benes. Er erzählt es Philipp Schubert. Er zeigt Marco Hartmann, wie er mit dem Kopf nach unten gegangen ist, und wie der Ball nicht dort war, wo er ihn erwartet hatte. Anderthalb Meter hatte der Stürmer des Halleschen FC in der 70. Minute des DFB-Pokalspieles gegen den MSV Duisburg vor dem Tor des Gegners gestanden, von rechts kam eine lange, halbhohe Flanke von Nico Kanitz, Neubert konnte gucken, konnte schauen, hätte sich quer zum Ball stellen und das Leder in die Maschen prallen lassen können.
Thomas Neubert, von den Fans des HFC ob seiner kantigen Körperlichkeit zuweilen hämisch als "Fußballgott" gefeiert, tauchte ab und versuchte es mit dem Kopf. Kein Tor, Ball abgewehrt, neuer Versuch, der MSV-Torhüter wehrt ab, der Ball fällt direkt vor Neubert zu Boden. Der schießt, zum zweiten Mal erst an diesem Abend im Leipziger Zentralstadion, das neuerdings Red-bull-Arena heißt und dem HFC mangels eigener Arena als Ausweichspielstätte dienen muss. Sekunden später ist der Ball im Netz, Schiedsrichter Robert Kempter aber winkt ab: Kein Tor, abseits. Neubert habe im passiven Abseits gestanden, dann aber eingegriffen. Beinahe im Gegenzug fährt der Favorit aus Meiderich einen Konter und es steht 0:3.
Es ist auch an diesem Abend im Grunde wie immer, wenn das Fußball-Schicksal dem nach der letzten Oberliga-Saison der DDR in die fünfte Liga abgestürzten Traditionsklub einen Elfmeter zurechtlegt. Alle sind da, aus Aschersleben, Zeitz und Halle, Leipzig hat sich feingemacht, alle Parkplätze rund ums Stadion gesperrt und die Einlasszonen mit Bauzäunen so verkleinert, dass gar kein hereinkommen ins Stadion ist. Die Mannschaft hat sich viel vorgenommen und die Vereinsführung hofft auf Disziplin in der Fankurve. Doch dann kommt es wie erwartet und gefürchtet: Das Wunder bleibt aus, der Berg gebiert eine Maus. In der sechsten Minute schon, noch sind dank des Versuchs, vor dem Stadion eine Duisburg-Katastrophe auszulösen, nicht einmal alle 4.500 Zuschauer im Stadion, foult HFC-Mittelfeldmann Steve Finke vorm eigenen Strafraum einen Duisburger und verletzte sich dabei schwer. Ersatzmann Schubert ist kaum auf dem Platz, da schlägt es schon ein: Durch die Mauer flattert der von Finke verursachte Freistoß in die Ecke.
Die Älteren im Rund erinnern sich an die letzte DFB-Pokalpleite gegen Hannover 96. Mit 0:5 verabschiedete sich der HFC seinerzeit sang- und klanglos von der Pokalbühne. Hier sieht es verdächtig nach einer Wiederholung aus, obwohl diesmal eigentlich nur Halle spielt. Marco Hartmann, als Ersatz für den verletzten Patrick Mouyaya in der Innenverteidigung aufgeboten, bekommt einen Ball ans Knie, von dort springt er an die Hand. Elfmeter für den MSV. 30. Minute, 2:0, das 0:5 rückt näher.
Oder doch nicht. Darko Horvat ahnt die Ecke und hält. Halle hat jetzt Oberwasser. Toni Lindenhahn kurbelt auf rechts, Pavel David schießt übers Tor, minutenlang findet das Spiel nur in der Duisburger Hälfte statt. Tore aber fallen nur auf der anderen Seite: Nach einem Befreiungsschlag aus dem Strafraum kommt der Ball wieder Richtung Elfmeterpunkt geflogen, Maierhofer, der eben noch den Strafstoß verschossen hat, springt höher als Hartmann und es steht nun doch 0:2.
"Nun muss ein Wunder her", kommentiert ein Zuschauer im Block B, während die Fankurve singt "Steht auf wenn ihr Hallenser seid". Der HFC tut alles, um es möglich zu machen, Lindenhahn, der zur Halbzeit schon platt schien, bekommt die zweite Luft, Thomas Neubert versucht einen Fernschuß und verpasst eine Flanke nach der anderen. "Der Mann ist so groß", zürnt ihm die Tribüne, "warum springt der nicht mal hoch". Weil er so groß ist, sagt ein anderer, der muss nicht springen.
Trainer Sven Köhler hält auch so zum Westernhagen des deutschen Fußballs, dem heute Abend nichts gelingt. Kein Wechsel, nirgends. Duisburg ist aber auch so in Bedrängis. Dieser HFC ist nicht mehr der, der sich abschlachten lässt wie von Hannover oder seinen Gegner bestaunt wie einst beim Freiburger Pokal-Gastspiel. Immer wieder dribbelt sich Lindenhahn durch, immer wieder sucht er den Doppelpass mit Teixeira, immer wieder scheitert der Versuch, aus der Annäherung an den Strafraum einen brauchbaren Torschuß zu machen.
Bis zu eben jener 70. Minute, als Kanitz Neubert findet, der aber mit dem Kopf nicht den Ball. Für die Kurve ist nach dem zu Unrecht aberkannten Treffer im zweiten Anlauf wie immer klar, dass nur der Schiedsrichter schuld daran sein kann, dass es einmal mehr nicht reicht zur kleinen Sensation. Obwohl die Hallenser, jetzt mit Hauk und Stier, immer noch laufen, als seien sie die einzigen im Stadion, die noch an die Chance glauben, das Spiel zu drehen. Der Fanblock, trotz Verbot mit Fahnen des zur DDR-Zeiten noch verhassten FC Lok Leipzig geschmückt, singt jetzt friedlich brummelnd ein Lied über "Bullenschweine". Duisburg spielt die Uhr herunter, bis Oldie Grlic in der 85. doch noch mal eine Lücke sieht und schießt. 0:3, Ende, Aus, er sei ganz zufrieden, wird Sven Köhler später sagen, die Mannschaft habe alles gegeben, um zu gewinnen aber hätte eben alles passen müssen. Und das tat es nicht. Stattdessen geschieht die übliche Überraschung: Das Wunder bleibt aus, der Berg gebiert eine Maus und Thomas Neubert schüttelt den Kopf über sich selbst. Bisschen kann er noch: In vier Tagen geht es in der Liga weiter.
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