Sonntag, 2. August 2009

Rauschangriff


Die schwedische Alkoholpolitik ist sehr restriktiv und lässt einen Hang zur Prohibition erkennen. Die Idee, Bier, Wein und Schnaps erstens nicht frei zu handeln, sondern vornehmlich in den (wenigen) staatlichen Systembolaget-Läden anzubieten, und zweitens alkoholische Getränke staatlich legitimiert (Steuern und Gebühren) zu verteuern, geht auf die Abstinenzbewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Als Reaktion auf die umfassenden sozialen Probleme im Zusammenhang mit dem starken Alkoholkonsum dieser Zeit (nach Schätzungen etwa das Vier- bis Fünffache des heutigen Konsums) wurde laut Wikipedia ein Totalverbot angestrebt, welches zwar nicht durchsetzbar war, als Rationierung und Überwachung aber bis heute weiterlebt. Zu Recht, wie der Verband der technischen Überwachungsvereine (VdTÜV) bei seiner jüngsten Tagung in Tallinn feststellte. Während in Deutschland erschreckende fünf Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind, seien es in Schweden nur 34 Prozent.

15 Kommentare:

nwr hat gesagt…

Die Differenz ist einfach aus der Definition des "Alkoholmissbrauch" erklärbar: Was in Europa noch unter Ge-brauch fällt, ist im nüchternen Skandinavien längst Miß-brauch. Spaß beiseite.

Apropos Tallinn: Da die Finnen zum Saufen gern nach Estland übersetzen, könnte eine Statistik zu dem Schluß kommen, daß nahezu 100% aller kriminellen Delikte von Finnen im Ausland unter Alkoholeinfluß begangen werden, während bei Deutschen dieser Satz nur bei angenommenen 30% liegt.

Womit bewiesen wäre, daß Alkoholrestriktionen kriminell machen...

ppq hat gesagt…

in norwegen wird trotz erschwerten alkoholerwerbs nach aussage von norwegern nicht weniger, sondern mehr getrunken. jede familie dort hat ihre privaten schnapsbrenn-rezepte, an den wochenenden trifft man sich zu gegenseitigen verkostungen.

brennen ist verboten, wird aber nicht verfolgt.

deutschland geht gerade den ersten schritt: verbot von bierverkauf an tankstellen nach 22 uhr.

derherold hat gesagt…

Da hat (mind.) eine ganze Generation fortschrittler Soziologen erklärt, daß der (Turbo-)Kapitalismus zu Alkoholisierung und Selbstmord führt ... und die Zahlen in "weniger turbokapitalistischen" Staaten waren erheblich höher.

Da wurden und werden Shweden und Finnland über den grünen Klee gelobt und die müssen fast Prohibitivpreise erheben, damit sich die Glücklichen im Volksheim nicht rund um die Uhr zuballern.

Im übrigen hat Helmut kohl nicht nur blühende Landchaften gebracht, sondern auch dafür gesorgt, daß mittlerweile der Pro-Kopf-Alkoholkonsum in den fünf neuen Ländern auf die Hälfte zurückgegangen ist. Ellbogenkaitalismus macht abstinent. ;-)

nwr hat gesagt…

Dann ist es in Norwegen anders als in der DDR. In dieser wurde nämlich trotz Haschischverbot weniger gehascht als heute, wo man als Passivraucher den würzigen Duft schmorender Tüten an jeder Straßenecke für umsonst bekommt.

nwr hat gesagt…

"...daß mittlerweile der Pro-Kopf-Alkoholkonsum in den fünf neuen Ländern auf die Hälfte zurückgegangen ist."

Wenn wir schon bei Statistiken sind: Auf wieviel % ist die Zahl der Rauschgiftabhängigen / Rauschgifttoten gestiegen?

ppq hat gesagt…

#DDR + Haschisch: es fehlte das saatgut, zumeist!

aber ausgeglichen wurde das gut durch tabletten und doppelkorn.

die zahl der rauschgiftsüchtigen kann nicht gestiegen sein, weil es gar keine zahl dazu gibt, wie hoch sie etwa 1988 / 1989 war.

die zahl der selbstmorde hingegen ist - zumindest erinnere ich mich, das neulich gelesen zu haben - gesunken

derherold hat gesagt…

"Auf wieviel % ist die Zahl der Rauschgiftabhängigen / Rauschgifttoten gestiegen?"

Erheblichst angestiegen !

Da gibt es nur ein politisches Problem:
Man stelle sich vor, eine konservative CDU würde massiv gegen BTM-Mißbrauch in Ostdeutschland vorgehen. Welche Partei würde dann wohl sofort "uneingeschränkte Solidarität" mit den ostdeutschen Kiffern, etc. demonstrieren ?
Für welche Partei sitzt die nette, junge Frau im sächsischen Landtag, die ihre Ti... Shirts für BTM-Reklame in die Kameras hält ?

ppq hat gesagt…

echt erstaunlich, was man manchmal so findet. die selbstmordraten in der ddr waren schon höher, als es die ddr noch gar nicht gab, lange vorher sogar. erst seit kurzem - nach 110 jahren! - sind sie erstmals annähernd so wie im westen.

http://www.suizidprophylaxe.de/Suizidstatistik.pdf

nwr hat gesagt…

@ppq
Das ist in der Tat erstaunlich. Der Anstieg läßt sich vielleicht noch soziologisch mit der Industrialisierung erklären. Die Hoffnungslosigkeit drückte sich auch in den mitteldeutschen Wahlergebnissen für Sozialdemokraten, Kommunisten und Natsoz. vor 1945 aus. Ostelbien war tendenziell schon immer eine ödere Gegend als der Westen.

Der Abstieg bestenfalls so, daß alle, welche die Schnauze voll haben, heute nicht mehr vom Hochhaus hüpfen, sondern sich totfixen und damit in der sprunghaft angestiegenen Rauschgifttotenstatistik auftauchen. Außerdem ist es wohl auch out unter der Jugend, so wie Reinhard Meys "Mandy und Cindy" der 90er Jahre noch immer von der Platte zu springen, wo man heute auch als akneverpickeltes Dickerchen im Internet "Freunde" findet.

Wär doch eine Theorie, oder?

ppq hat gesagt…

nicht ganz, glaube ich. ich fand da auch zahlen, wonach der osten berlins sich schon vor der weltwirtschaftskrise lieber selbst gemeuchelt hat als der mensch im westen berlins.

andererseits: neulich erzählte mir ein taxifahrer in der hauptstadt, dass im westen die lust besser ist, weil der wind richtung bläst, also den ganzen stadtdreck in die ehemalige hauptstadt der ddr. früher war da ja eher noch mehr. vielleicht lags in berlin daran, im restosten an dem, was du sagst. wobei dann natürlich die frage wäre, ob je östlicher auch je selbstmörderlicher heißt.

zum rauschgift nur die momentane eingebung, dass die konsumraten sich nach dem mauerfall natürlich angleichen mussten und das mit einem überschießen aus gründen des nachholfleißes auch getan haben.

danach folgte ja dann ein bis heute anhlatendes umprägen der gesellschaft richtugn joggen, biokost, gesunheit und leistungsfähigkeit. da passt außer kokain nicht viel rein. und von kokain stirbt man nicht, glaube ich

derherold hat gesagt…

@nwr, so leid es mir tut, die Analyse ist in vielen Punkten nicht zutreffend.

Ostelbien, vor allem die wirtschaftl. starken Regionen des heutigen Sachsen und Sachsen-Anhalt, war mit Sicherheit nicht öder als Bayern, Schleswig-Holstein oder Teile der Pfalz.

Ausgerechnet die ödesten und wirtschaftl. schwächeren NBL haben heute eine geringere Zahl von Selbstmördern - ausgerechnet Thüringen und Sachsen, die "auf Westniveau" sind, liegen vorne. Sozialdemokratie als suizidgefährdend ?

Der Austausch Selbstmord-Drogentote haut schon deshalb nicht hin, weil das Durchschnittsalter von Selbstmördern bei rd. 55(!)Jahren liegt.

Meine Vermutung ist, daß mit dem Anstieg des Rentenniveaus ab den 70igern - in Ostdeutschland ab 1990 - auch die Lebensverhältnisse ein wenig sonniger sind.

BTM werden hierzulande doch eher als hedonistische Konsummittel gesehen und es würde mich nicht wundern, wenn eher(!) Wohlhabende zum Mißbrauch greifen.

Für die höhere Selbstmordrate im Osten vor ´33 könnte es aber eine konfessionelle Erklärung geben: Der Katholizismus und seine Beichte sind vllt. tröstlicher als der preußische Protestantismus.

binladenhüter hat gesagt…

@ herold: Das hat mich rundherum überzeugt. Tolle Analyse.

nwr hat gesagt…

@herold:
Natürlich, der Katholizismus... Bei denen ist doch Selbstmord verboten, wenn ich nicht irre.

55 ist der durchschnittliche Selbstmörder? Das ist ja unfaßbar! Und der Rückgang noch unfaßbarer, bei all den Sinneskrisen und Scheidungsraten usw.

Es sei denn - und das ist eine gewagte Theorie - selbst die untröstlichen Rentner haben nun per Internet Kontakt zur Außenwelt, was sie vom Selbstmorden abhält.

@ppq
zu berlin: Man müßte nach Stadtteilen untersuchen, die trostlosen Ecken lagen auch vor der Weltwirtschaftskrise im Ostteil.

Ich hätte vor 1945 Pommern einer hohen Suizidquote verdächtigt. Außerdem vermute ich ein Ansteigen der Selbstmörderei, je weiter man in den versteppten Osten (Rußland) und ins winterdunkle Skandinavien kommt.

ppq hat gesagt…

fast. die höchste rate haben ungarn und island, glaube ich. bei island ist es sicher das licht, das nicht da ist. und in ungarn... keine ahnung

nwr hat gesagt…

"und in ungarn..."

die puszta