Freitag, 2. Januar 2009

Fremde Federn: Fluch der Erinnerung

Das "Superwahljahr", das Super-Erinnerungsjahr. 2009 sieht Deutschland im Taumel der eigenen Geschichte, ein Feiertagstrommelfeuer wie noch nie zuvor Georg Diez beschreibt im Magazin der Süddeutschen Zeitung, wie sich der Mehltau der zur Bürgerpflicht erklärten Erinnerung an 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall und allerlei andere Jubiläen auf das Gemüt eines ganzen Landes legen. Bis sich die Deutschen endgültig nur noch mit ihrer Vergangenheit beschäftigen.

Gleich geht es wieder los, ich kann sie schon hören. Gleich fängt es wieder an, das große Reden, Jubeln, Debattieren. Gleich stellen sie sich wieder auf und wackeln mit den Köpfen und rascheln mit den Papieren und hängen Wort an Wort, dass es langweiliger nicht sein könnte, weil sie sich nicht trauen, das zu sagen, was sie wirklich denken, oder weil sie gar nicht wirklich selber denken. Und sie reden und reden doch, ohne etwas zu sagen, bis ihnen jemand das Mikrofon aus der Hand nimmt und den Stecker rauszieht und sie einpackt und mitnimmt und sie wieder dorthin bringt, wo man solche lebensechten Sprechpuppen eben aufbewahrt.


Die Kanzlerin wird dort stehen und reden, am 8. Mai, am 3. Oktober, am 9. November, sie wird wieder schlecht gefrühstückt haben, warum sonst sollte sie so grimmig mit den Backen malmen, sie wird mit der Hand die Luft vor sich in ordentliche Kuchenstücke zerteilen und in ihrem zackigen, zuckeligen, zaudernden Singsang sagen, dass sie froh und dankbar ist, diesem Land dienen zu dürfen, und dass wir uns die Freiheit wirklich verdient haben und dass »Menschlichkeit aus der Verantwortung für die Vergangenheit erwächst«.

Der Präsident wird dort stehen und reden, es wird so aussehen, als ob ihm jemand einen Besenstiel in den Rücken drückte, weil er sonst gar nicht dort stehen bleiben würde, weil es ihm so offensichtlich keinen Spaß macht, dort zu stehen, aber einer muss es ja tun, einer muss die große Fabel von der Erfolgsgeschichte der deutschen Demokratie verbreiten, einer muss auf Einheitsfeiern Sätze sagen wie: »Neulich bin ich in Sachsen-Anhalt unterwegs gewesen, im Burgenlandkreis, entlang der Unstrut.«

Und in evangelischen und katholischen und sonstigen Akademien werden Professoren, die sich kaum selbst wach halten können mit dem, was sie da reden, auf hässlichen Stühlen sitzen und vor Menschen in Pullundern darüber diskutieren, was für ein Geschenk doch das Grundgesetz ist, wie wichtig die Währungsreform war, ob Annäherung oder Wandel das Ziel war und wie das eigentlich genau mit der Ostpolitik war, bis draußen in den großen Thermoskannen der Kaffee kalt ist, der immer entweder zu wässrig ist oder fast verbrannt scharf schmeckt.

Überhaupt: Wenn ich noch einmal das Wort »Grundgesetz« höre!
Aber so wird es kommen, da kann man gar nichts machen. 2009 wird das Krisenjahr. 2009 wird das Jubeljahr. 2009 wird das Jahr der Deutschen.

Es wird furchtbar werden. Schrecklich. Lähmend. Peinlich. Es wird Serien geben in Spiegel und Stern, es werden deutsche Helden gesucht werden in ARD und ZDF, es wird bunte Bücher geben und Talkshows mit all den Schorlemmers dieses Landes, es werden zur Volkserziehung Schautafeln aufgestellt werden in öffentlichen Gebäuden, und ein Geschichtsgrundkurs nach dem anderen wird sich belehren lassen, wie es kam, dass aus ein paar Studenten, die sich zum Singen trafen, über den Umweg von Kaiserreich, Weimarer Republik und sechs Millionen toten Juden unsere schöne kleine Wohlstandsdemokratie wurde. Es wird ein einziges rauschendes Selbstbespiegelungsfest unserer Nation sein, die mal wieder vor lauter Historie die Gegenwart vergessen wird oder vergessen will. Aber sagt mal, Geschichte ist doch kein Wärmeofen!

Davor wird es 2009 kein Entrinnen geben. 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre BRD, 70 Jahre Zweiter Weltkrieg, 2000 Jahre Varusschlacht, das ist der absolute Erinnerungsernstfall, da sind Reflexion und Sinnstiftung erste Bürgerpflicht, jedes Datum wird da zum Symbol und Geschichte zum Volkssport.

Und was sind wir auch froh, dass wir endlich unsere Geschichte wiederhaben, die ja, Schlüsselsatz des geschichtspolitischen Rollbacks unserer Tage, »nicht auf die Zeit zwischen 1933 bis 1945 reduziert werden darf«. Wie lange hatten wir nichts als Gegenwart, wüste, leere Gegenwart, Gegenwart wie eine Autobahntankstelle, wie eine Exportbilanz, wie ein Hochhaus aus Glas, wie ein Meer aus Beton, und der Ekel vor dieser Gegenwart war immer auch ein Ekel vor dieser hässlichen Moderne – wie schön waren dagegen doch die Salons, wie sie die Buddenbrooks noch hatten und die Manns, und überhaupt all die Gemeinschaft stiftenden Vereinigungsrituale, über die wir jetzt wieder 20:15-Uhr-Filme machen: Der Tunnel, Die Mauer, Das Wunder von Berlin, Speer und Er, Stauffenberg, Die Krupps, Margarete Steiff. Wo die Gegenwart unwirtlich schien, sollte die Vergangenheit wirklich werden.


Das Fernsehen wurde zum Geschichtsseminar, mit dem einzigen Unterschied, dass hier nicht Analyse betrieben wurde, sondern Affirmation; dass hier Geschichte nicht benutzt wurde wie ein kritischer Keil, der unsere Gegenwart möglicherweise spaltet, sondern wie ein Wundpflaster, das hilft und heilt. Die Geschichte sollte den Kitt liefern, um die Vereinigung zu vollenden. Die Geschichte sollte nicht Erkenntnis bringen, sondern Einfühlung ermöglichen. »Wer es nicht selbst erlebt hat, der kann auch nicht urteilen«, das war ein Schlüsselsatz aus der Debatte um die SS-Vergangenheit von Günter Grass, eine Logik, die das Ende aller geschichtsschreiberischen Bemühungen bedeutet hätte – und eine Behauptung, so absurd, dass sie einfach abgenickt wurde.

Das war dann auch das Denkmuster der letzten Jahre: Wir haben kräftig geübt, wir haben versucht, die deutsche Geschichte nicht zu verstehen, sondern lieber zu erfühlen. Wir haben den Untergang gesehen und uns eingefühlt in den Schrecken, den der Führer in seinen letzten Stunden empfunden haben muss. Wir haben Das Leben der Anderen gesehen und haben uns eingefühlt in den stillen, traurigen, letztlich heldenhaften Alltag eines Stasi-Spitzels. Wir haben den Baader Meinhof Komplex gesehen und Landshut und Mogadischu und haben uns eingefühlt in den Todesrausch der Terroristen. Wir haben geweint wegen der »Gustloff«. Wir haben uns gefürchtet mit den Flüchtlingen. Wir haben literarisch gestritten über den Luftkrieg. Wir haben, und der Dank geht an Johannes Baptist Kerner, wir haben gelernt, dass Geschichte nichts ist, wofür man sich schämen muss – Geschichte kann auch Spaß machen, wenn sie nur sortiert ist wie eine Bestenliste.

Guido Knopp war also nur der Anfang. Er hat in seinen Sendungen am eindrucksvollsten gezeigt, dass auch das vermeintlich Böse Identität stiften kann, wenn man nur lang genug Interview auf Interview und Aufmarsch nach Aufmarsch zeigt. Dass Helden und Schurken irgendwann nicht mehr zu unterscheiden sind, wenn die einen viel mehr Bilder hergeben und viel mehr Sendezeit kriegen.

Es ist diese Ambivalenz, die die Geschichtsbegeisterung der letzten Jahre prägt. Der General Hammerstein, aus dem Hans Magnus Enzensberger einen Bestseller machte, war so eine ambivalente Gestalt, ein Feind der Demokratie, der im Dunkel seiner Zeit und aus der Distanz unserer Gegenwart plötzlich glimmte und schillerte wie ein möglicherweise doch aufrechter Mann. Und auch der Hitler-Attentäter Stauffenberg ist solch eine zwielichtige Figur – niemand, auf den man irgendeine Tradition für die BRD bauen könnte, und trotz seiner junkerhaften Verachtung der Masse allseits bewundert und von Florian Henckel von Donnersmarck als »Übermensch« gefeiert. Ein Held für unsere Zeit. Wenn der Stauffenberg-Film Operation Walküre mit Tom Cruise jetzt im Januar ins Kino kommt, dann wird man wieder einmal bewundern dürfen, wie groß die Macht einer linear erzählten Geschichte ist – sie ist einer disparaten Wirklichkeit allemal überlegen.

Es wird in diesem Jubeljahr nur noch ein schauriges, wohliges Innen geben und praktisch kein Außen mehr, das eh nur krisenkalt und ökonomieöde ist. Das ganze Verspinnen wird noch dadurch gefördert, dass eine Serie von Wahlen das Land in einen Kokon verwandeln wird, aus Reden, Meinen, Plakatieren. Und man muss schon froh sein, wenn man den Herbst erreicht hat und vor lauter herumfliegenden Politplatitüden noch aus der Brille schauen kann. Es beginnt mit der verkorksten Landtagswahl in Hessen am 18. Januar, es folgen die Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai, die Europawahl im Juni, die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und dem Saarland am 30. August. Schließlich am 27. September die Bundestagswahl und die Landtagswahl in Brandenburg. Und am Ende des Jahres, am 10. November, wird auch noch Friedrich Schiller 250, sicherlich wieder Anlass für mindestens einen Spiegel-Titel, geschrieben von Matthias Matussek.

Das Gute an der ganzen Sache ist nun, dass wir im Grunde gar keine Zeit haben werden für so etwas wie die Krise. Tut uns leid, wir haben gerade einfach zu viel zu feiern. Wir haben auch keine Zeit zu merken, dass sich dieses Land von der Gegenwart verabschiedet und damit vom 21. Jahrhundert. Dass wir die Vergangenheit subventionieren und nicht die Zukunft. Dass wir träge sind, ängstlich und selbstgefällig. Dass es einen Grund gibt, warum so lächerlich wenige Inder zu uns kommen, die wir doch wegen ihrer Computerkenntnisse so großzügig eingeladen haben. Dass andere Länder längst reicher sind durch die Globalisierung, die nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein soziales Phänomen ist und mit ehrgeizigen Einwanderern mit anderen Biografien und Geschichten die Chance bietet, eine verschlafene Gesellschaft etwas aufzuwecken.


Wenn man aus Asien kommt und am Hindukusch vorbei auf Europa zusteuert, dann merkt man es förmlich, dann scheint es so, als würde sich der Puls verlangsamen, als gebe es so etwas wie eine physische Reaktion auf die politischen, ökonomischen und sozialen Versteifungen dieses Kontinents inmitten einer sich verändernden Welt. Deutschland wirkt in solchen Momenten wie ein riesiges Rothenburg ob der Tauber, wie einziger großer Romantik-Freizeitpark, wie ein Land, das auch noch stolz darauf ist und denkt, es reicht schon, dass man etwas Eintritt dafür nimmt, wenn die Welt zu Besuch ist.

Und deshalb wird die Geschichtsseligkeit des Jahres 2009 so schwer zu ertragen sein. Sie lenkt das Land ab, sie wiegt das Land in Sicherheit, sie steigert die Selbstgefälligkeit, sie erschwert den Blick nach vorne. Alexander Kluge hat einmal einen Film gemacht, der hieß Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Das war 1985. Im Jahr 2009 müsste eher vom Angriff der Geschichte auf die übrige Zeit die Rede sein – wie die vergangene Zeit sich ausbreitet und den Raum eng macht für das, was ist oder werden soll. Doch vor lauter Reden werden wir uns selbst nicht mehr hören können.

3 Kommentare:

Desparada-News hat gesagt…

Damit nicht genug, haben wir auch Wahljahr, und gesucht wird wieder mal nach der Leitkultur. Ich habe mich schon gefragt, warum? Nun ist es klar, die Erinnrungsorgie soll wohl auf die Sprünge helfen dabei.

ppq hat gesagt…

die vergangenheit wird als einigendes band dafür sorgen, dass alle die wahlen der gegenwart als persönliche verantwortung wahrnehmen

Anonym hat gesagt…

80 Jahre 1929 wäre auch noch ein Gedenken, wenn die Zeit dazu bliebe.