Der Mann mit dem Kurt-Beck-Gedächtnisschnitt sitzt ganz vorn unter der Anzeigetafel der Deutschen Börse in Frankfurt und gibt dem Geschehen auf dem längst nicht mehr existierenden Parkett seit Jahren ein Gesicht: Dirk Müller, 38 Jahre alt, jubelt, wenn die Kurse steigen, und er er macht böse Miene zum fiesen Spiel, wenn alles ins Bodenlose fällt. Gäbe es Dirk Müller nicht, den sie draußen in der Welt "Dirk of the Dax" nennen, dann müssten dpa, ddp und Reuters ihn erfinden. Erst das Gesicht des schauspielerischen Naturtalentes macht die Kurven der Kurse emotional, erst sein Leiden und Jubeln gibt den kalten Charts ein Stückchen Menschlichkeit. Dirk Müller ist der große Unbekannte, den jeder schonmal gesehen hat, die Personifizierung der Börse, die eigentlich nur einer von vielen Händlern ist.
Aber einer mit besonderer Verantwortung. Müller muss Zahlen quasi auf sein Gesicht malen, er muss Erschütterungen mit seinen Gesichtsmuskeln verständlich machen und Milliardenverluste wenn schon nicht erklären so doch wenigstens mit einem verzweifelten Blick widerspiegeln. In diesen Tagen des großen Zusammenbruchs macht Müller das Gesicht der Krise. Natürlich, alle Fotos sind gestellt, aber das stört deutsche Qualitätszeitungen schon längst nicht mehr: Hauptsache, das Mienenspiel passt zum Artikeltenor. Dirk Müller kann in jedem fall liefern, er hatr zu jedem Kurs das passende Gesicht. Manchmal tut er völlig niedergeschlagen, manchmal gibt er den Verzweifelten und rauft sich das Borstenhaar. Dreht der Dax nach oben, legt der einstige Ringer ein leichtes Lächeln in seine Züge. Viel zu lachen hat Dirk Müller derzeit nicht, im Grunde können die Redaktionen schon seit Wochen von den Bildern leben, die sie im Archiv haben: Dirk of the Dax am Boden zerstört. Geweint hat Dirk Müller noch nie, nicht in der Asienkrise, nicht in der Rußlandkrise, nicht beim Platzen der Dotcom-Blase und nicht nach dem 11. September. Das wäre nochmal was fürs Publikum.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen