In Österreich zum Beispiel gilt nur die ÖVP als echte Europapartei, in Pforzheim hingegen gerade heute jedes fünfte Kind als arm. Beim IKB-Verkauf gilt ein Finanzinvestor als Favorit, als Architekt irgendeiner Regelung bei den Wagner-Festspielen gilt der Vorsitzende der «Gesellschaft der Freunde von Bayreuth», Wasser hingegen gilt als eine Voraussetzung für organisches Leben, Nationalspieler Simon Rolfes dafür bei Bayer 04 Leverkusen als absoluter Musterprofi und nach Auskunft der "Welt" ein in der Pfanne gebratene Spiegelei als "zubereitet", die Suppe aus der Mikrowelle aber lediglich als "erwärmt".
Gilt - ein Wort erobert die Welt, das alle Fragen überflüssig macht. Früher war Elvis der Größte und die Monroe die Schönste, Ostern das höchste christliche Fest und Terence Hill der lustigste Cowboy. Sein aber bestimmt das Bewusstsein und legt sich auf irgendetwas fest - was, wenn Paul McCartney reklamierte, er sei der Größte? Wenn Madonna behauptete, sie sei viel schöner als Marilyn? Wenn Kurt Beck einwände, er sei der starke Mann der SPD, auch wenn er gegen den Ausschluß von Wolfgang Clement gar nichts machen könne?
Gegendarstellungen wären nötig, Ärger stände ins Haus, Schadenersatzklagen womöglich, die als teuer gelten.
Also gilt Vorsicht als Mutter der Formulierkunst: Gilt ist der Konjunktiv von ist, das Airbag-Wort für alle Tage und alle Fälle, ein Kronzeuge ohne Namen und ladungsfähige Adresse, dessen Ansicht gleichwohl pars pro toto gilt. Als die Affäre Hohmann, die Älteren unter uns erinnern sich dunkel, seinerzeit in ihre dritte Woche ging, wurde das Wort gilt erfunden. Hohmann hatte damals, als Gerhard Schröder noch Sozialist war, einen Satz mit den Worten "Juden" und "Tätervolk" gebildet. Das sorgte für Aufruhr und Widerstand, weil solche Sätze natürlich verboten sind. Es gab wie immer Wirbel, es wurde gewarnt und kritisiert und als schließlich jemand herausfand, dass Hohmann gesagt hatte, die Juden seien kein Tätervolk, war es zu spät: Die Rede des rechten Christen aus Hessen war vielleicht nicht, aber sie galt unterdessen als antisemitisch.
Galt früher, ""Willste was gelten/mache Dich selten" kommt heute kein Prosatext in der Holzpresse mehr ohne galt, gilt oder gelten aus. Hendrix gilt als bester Gitarrist, Townshend aber auch. Ali gilt als der Größte, neben etlichen anderen. Gilt gilt je nach Lage und Bedarf, es macht die Spitze breit und die Sätze lang, ein Wort mit eingebauter Rücktrittbremse: Wer behauptet, etwas oder jemand gelte als irgendetwas, muss nicht nachweisen, dass das stimmt, denn das muss es nicht, weil es ja nicht ist, sondern nur gilt. Kann auch ein Hörfehler, die Meinung einer Gruppe mit abseitigen Ansichten oder gar die von Frau Müllermann aus dem zweten Stock sein. Der gilt der Milchpreis derzeit als zu hoch, wohingegen er der Milchwirtschaft natürlich als zu niedrig gilt.
Gilt ist gut, weil ein Mensch nicht unbedingt arm sein muss, um als arm, ein Wetter nicht nass, um als zu feucht, ein Konzert nicht voll, um als überlaufen zu gelten. Öl ist teuer, gilt derzeit aber als billig, das Rauchverbot gilt weiter, gilt aber als aufgehoben, Karadzic gilt als unschuldig, gleichzeitg aber gilt er als Massenmörder. Als schönstes Beispiel aber gilt die alljährliche Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke in Berlin (Foto oben), wo trotz steigender Lebensmittelkosten fröhlich Lebensmittel vernichtet werden. Das gilt als zulässig, fetzig und total korrekt, auch wenn wir das eigentlich nicht gelten lassen können, weil der Hunger in der Dritten Welt noch nicht als besiegt gilt.
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1 Kommentar:
Ich glaube, ich sollte "gilt" in meiner Arbeit viel mehr verwenden. Das Wort ist wirklich die Lösung. Ausserdem nicht so lang wie superkallifragilistischextialligetisch.
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