Donnerstag, 18. Oktober 2007

Fremde Federn

Reinhard Mohr ueber ein deutsches Ur-Sentiment und das gaengigste Medienmotiv. Im online Spiegel von heute.

Der Betroffene hat immer Recht. Oder?

Von Reinhard Mohr

Betroffenheit, das klingt nach siebziger Jahren und Sitzblockaden. Jetzt sitzt der Betroffene plötzlich wieder auf allen Stühlen - seit "Anne Will" auch in den politischen Talkshows. Die Konfrontation mit persönlichen Schicksalen entzieht jedem Diskurs die nötige Schärfe.

Es gibt ihn eigentlich schon ziemlich lange, den TV-Betroffenen. Meist fristete er sein beklagenswertes Dasein jedoch im Schatten der großen Politik und jenseits der glitzernden Medienöffentlichkeit. Auch wenn er sich darüber zuweilen beschwerte, änderte das nicht viel. Man nahm ihn nicht so richtig ernst. Nur in den schrillen Krawallzonen des Nachmittags-Talks, irgendwo zwischen Oliver Geissen und Birte Karalus, hatte er ein wenig Auslauf.

Doch er blieb das Aschenputtel im TV-Zirkus.

Das ist nun vorbei.

Seit Anne Will ein extragroßes weißes Sofa in ihr sonntägliches Talkshow-Studio gestellt hat, sitzt er da, der Betroffene, beziehungsweise: die Betroffene. Woche für Woche. Nicht mehr nur als schmückendes Beiwerk für einen 30-Sekunden-O-Ton aus dem Off des wirklichen Lebens jenseits von Kurt Beck und Guido Westerwelle, sondern als aktiver Stichwortgeber für das Agenda-Setting der Großkopferten, die auf ihren roten Schalensesseln unruhig mit den Füßen wippen, bis sie endlich drankommen.

Es ist zu vermuten, dass man ihn da auch nicht mehr so leicht wegkriegt, den Betroffenen. Er hat sich jetzt auf dem Sofa eingerichtet wie Familie Hoppenstedt bei Loriot.

Auch bei anderen Polit-Talkshows beginnt er langsam, heimisch zu werden, bei Beckmann, Kerner und Maischberger ist er längst Hauptmieter, ganz zu schweigen von den ungezählten Blitzumfragen von RTL, Sat.1. und N24, in denen der Betroffene an der Zapfsäule gefragt wird, was er von der jüngsten Benzinpreiserhöhung hält.

"Eine Riesenschweinerei!" natürlich. Das gilt auch für Hartz IV, die Rente mit 67, die Klimakatastrophe und überhaupt fast alles, wonach in den Fußgängerzonen der Republik gefragt wird.

"Mit Wut, Trauer und Betroffenheit..."

Der erste Betroffene hat sich wahrscheinlich vor 500.000 Jahren, nachdem er das Feuer entdeckt hatte, die Füße beim ersten Bisongrillen verbrannt. Kerner gab es damals noch nicht, auch nicht "Menschen hautnah", also musste er alleine leiden. Allenfalls konnte er nach "Wilmaaaa!" rufen.

Bei den alten Griechen wurden immerhin Tragödien geschrieben, und im Mittelalter wusste wenigstens der Stadtschreiber, wie das Leid des Betroffenen für die Nachwelt festzuhalten war. Die große Zeit der Betroffenheit aber waren die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als jeden Tag mehrere Bekennerschreiben und Protestresolutionen verfasst wurden, die mit den Worten begannen: "Mit Wut, Trauer und Betroffenheit..."

Jetzt ist der Betroffene bei den politischen Talkshows gelandet. Das Problem ist nur: Durch seine permanente Anwesenheit verändert er den Diskurs, die politische Debatte. Vor allem: ihr Niveau. Auch das wäre ja nicht schlimm. Aber er hebt es nicht, sondern drückt es eher noch weiter nach unten.

Nicht etwa, weil er dumm wäre oder nichts zu sagen hätte, sondern weil er nur und ausschließlich über sich und seine Sache reden kann. Selbst das wäre noch kein Übel, wenn nicht die anderen, die "offiziellen" Gesprächsteilnehmer dadurch automatisch dazu gedrängt würden, den Bericht des Betroffenen zur empirischen Grundlage der ganzen Debatte zu machen. Das aber führt in die Irre.

Denn für sich genommen hat der Betroffene natürlich immer Recht. Wer würde schon einen Betroffenen und sein persönliches Schicksal kritisieren wollen?

Paradefall sozialer Ungerechtigkeit

Exemplarisch zeigte sich das an Anne Wills Auftaktsendung am 16. September (mehr...), als eine ostdeutsche Geringverdienerin mit staatlicher Finanzaufstockung und punktueller Unterstützung der Eltern zum Paradefall sozialer Ungerechtigkeit erklärt wurde.

Obwohl die Mitarbeiterin eines Callcenters selbst gar nicht zum Jammern aufgelegt war und ihr verfügbares Nettoeinkommen wohl insgesamt an das eines deutschen Lokführers heranreichte, legte sich ihr "Fall" wie schwerer Betroffenheitsnebel über die Runde, in der natürlich, wie üblich, nur Bestverdiener saßen, unter ihnen Telekom-Chef René Obermann. So war klar, dass sie subjektiv schon gar nicht in der Lage waren, das gewiss nicht beneidenswerte Schicksal der ostdeutschen Frau mittleren Alters, die täglich zwischen Cottbus und Görlitz pendeln muss, in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Die betroffene Frau, in jeder Hinsicht die Repräsentantin einer überschaubaren Minderheit, stand plötzlich für den Gesamtzustand Deutschlands mitten im konjunkturellen Aufschwung.

Jedem Diskutanten merkte man eine gewisse Befangenheit, vielleicht sogar ein wenig Scham an, eben jene "Betroffenheit", die zwar eine Menge Mitgefühl hervorbringt, oft auch bloße Heuchelei, aber das scharfe und zugleich abgewogene, nüchterne Nachdenken nicht unbedingt fördert.

Denn Denken hat viel mit Abstraktion zu tun, mit Verallgemeinerungsfähigkeit, mit der Reflexion von Widersprüchen und systematischer Konsequenz - also dem puren Gegenteil jenes Wahns, man müsse nur den Mann oder die Frau auf der Straße fragen, um zu wissen, wie die Realität aussieht und wie sie zu bessern wäre.

Auch auf dem weißen Talkshowsofa bleibt ein - womöglich noch so schlimmer - Fall zunächst ein Einzelfall. Erst die hochgerechnete Summe aller Einzelfälle, ihre Gewichtung und Bewertung im gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhang erlaubte ein einigermaßen aussagekräftiges, auch moralisch begründetes Urteil.

Ein solches Vorgehen freilich ist ebenso komplex wie kompliziert und eignet sich wenig für die manichäischen Entweder/Oder-Talkshow-Titel à la "Rendite statt Respekt".

Den Mann auf der Straße fragen? Blödsinn!

Es ist wahr, das intellektuell anspruchsvolle Gespräch findet nur in den seltensten Fällen im Fernsehen ein Zuhause. Aber der Versuch, Gedanken zu formulieren, auch wenn sie nicht am unmittelbaren Schicksal eines Betroffenen im Fernsehstudio anknüpfen oder ihm gar widersprechen, sollte doch möglich sein.

Man stelle sich nur einmal vor, "Sicko"-Regisseur Michael Moore wäre für einen Sonntag Wills Redaktionsleiter und träfe die Betroffenenauswahl zum Thema "Unser Gesundheitssystem - lieber tot als teuer?" Jede Wette, der Mann fände im Handumdrehen seine Skandalfälle auch im sozial rundum versorgten Deutschland. Aber würde man so der Wahrheit wirklich näher kommen?

Oder beim Thema Afghanistan: Zwei schwer kriegsversehrte, traumatisierte Soldaten auf dem weißen Sofa genügten, um jedem Befürworter des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch den Mund zu stopfen. Im unmittelbaren Angesicht eines schrecklichen Einzelschicksals blamiert sich jedes strategische Argument, und sei es noch so begründet.

Genau an dieser Stelle lauert die Versuchung des Populismus. Wer da nicht mitmachen will, gerät schnell ins Abseits, wie man es vielleicht am Beispiel des SPD-internen Machtkampfs zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering gerade studieren kann.

Weh dem auch, der einer Betroffenen eine unbequeme Frage stellt. Etwa eine junge Frau aus Marzahn, 20 Jahre alt, allein erziehend, nach einer kurzen Ausbildung nun in einem prekären Job. In "Berlin direkt" beschwerte sie sich kürzlich über ihren Arbeitgeber, der sie nicht weiterbeschäftigen will, und über den Staat, der ihr nicht ausreichend helfe. Und wer hätte nicht Verständnis für ihre schwierige Lage?

Doch wer wagte es denn überhaupt, sie zu fragen, ob sie mit dem Kind nicht noch ein bisschen hätte warten können? Ein Sturm der Entrüstung bräche los: Eine Unverschämtheit, das sei doch wohl allein die Entscheidung der betroffenen jungen Frau!

So lernen wir immer wieder: Der Hinweis auf die eigene Verantwortung und die Risiken des selbst bestimmten Lebens ist brutal, neoliberal und unsozial.

Denn der Betroffene, der Betroffene, der hat immer Recht.

Vielleicht hört jetzt sogar Münte die frohe Botschaft und meldet sich bei der nächsten passenden Talkshow als Betroffener zu Wort. Thema "Mobbing - wenn der Chef zur Qual wird".


2 Kommentare:

Vox Diaboli hat gesagt…

"So lernen wir immer wieder: Der Hinweis auf die eigene Verantwortung und die Risiken des selbst bestimmten Lebens ist brutal, neoliberal und unsozial." - jawohl, so ist es.

binladenhüter hat gesagt…

scharf beobachtet, schön formuliert