Dienstag, 3. Juni 2025

Verkehrte Wahl: Nun ist Polen doch verloren

Polen Fahle Nationalismus
Ein Nationalist hat in Polen die Wahl gewonnen. Die Demokratie ist schwer beschädigt.

Es war denkbar knapp, nicht einmal ein einziges Prozent der abgegebenen Stimmen lag zwischen der schlussendlichen Diagnose, Polen sei ein tief gespaltenes Land und der, dass Heilung und Rettung für Deutschlands östlichen Nachbarn nach diesem Wahlergebnis in greifbare Nähe gerückt seien.  

Die nicht einmal ganz 51 Prozent der Stimmen, mit denen der Rechtsnationalist Nawrocki laut Wahlkommission die Präsidentschafts-Stichwahl in Polen gewann, werden nun jedoch das Gegenteil bewirken. Wie ein fairer Verlierer hat der zuvor als Favorit gehandelte demokratische Kandidat Trzaskowski seine Niederlage. Doch es ist keine, die nur Polen allein schwer trifft, sondern das Herz ganz Europas.

Die autokratische Versuchung 

Die "autokratische Versuchung" sei zurück, ordnet die "Zeit" ein Wahlergebnis ein, das ähnlich disruptiv auf die ohnehin zerstrittenen, sich gegenseitig mit Vorwürfen, Gerichtsverfahren und Geldstrafen überziehende Wertegemeinschaft wirken könnte, wie es das in Rumänien zweifellos getan hätte, wäre das dortige Verfassungsgericht den Wählerinnen und Wählern nicht noch in letzter Sekunde in den Arm gefallen.  

Nachdem ein "aggressiver russischer hybrider Angriff" über das chinesische Videoportal TikTok die Rumänen dazu gebracht hatte, statt der angebotenen demokratischen Kandidaten den rechtsextremen, parteilosen und russlandfreundlichen Kandidaten Calin Georgescu zu wählen, musste die Abstimmung rückgängig gemacht werden. 

Demokratie im zweiten Anlauf 

Im zweiten Anlauf glückte es dann, den richtigen Nachfolger für Präsident Klaus Iohannis zu finden. Nicusor Dan ist ein Europäer, der sich im Streit um die Zulässigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe war vor Jahren von seiner von ihm selbst gegründeten Partei, nachdem die sich mehrheitlich für die Ehe für alle ausgesprochen hatte. Auf den aber in Europadingen Verlass sein wird, schließlich hatte er bei der später für ungültig erklärten Wahl noch nicht einmal kandidiert und erst die große Not im Land, das auf der Suche nach einem europatreuen Kandidaten war, machte den parteilosen Bukarester Bürgermeister zur ersten Wahl.

Auch das demokratische Polen hatte auf einen beliebten Kommunalpolitiker gesetzt und den Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski nominiert. Trzaskowski hat sich im Europäischen Parlament hochgedient, er war zunächst Berater, dann selbst Abgeordneter, schließlich Staatssekretär für europäische Angelegenheiten und Vizepräsident der Europäischen Volkspartei. Eine Bank für alle, die Europa lieben, wenn es sich im Gewand der Europäischen Kommission zeigt. 

Katastrophe für den Rechtsstaat 

Doch in Polen, einem Land, das in den zurückliegenden Jahren der Tigerstaat der maladen Krisengemeinschaft unter Brüsseler Ägide war, ist das keine Mehrheit. Die fand sich hinter Karol Nawrocki ein, einem studierten Historiker mit Spezialgebiet Verbrechen des Kommunismus, der als Museumsdirektor gearbeitet hat. So rum wird ein Schuh draus, befand Georg Restle: Das Wahlergebnis sei "eine Katastrophe für Demokratie und Rechtsstaat in Polen" und damit auch "für ein Europa, das immer tiefer gespalten ist".

So verwegen die Gedankenkette des "Journalisten über den Tag hinaus" (Restle über Restle) auch gehäkelt scheint, sie drückt das Unbehagen einer ganzen beobachtenden Klasse in Deutschland mit den demokratischen Entscheidungen in Partnerstaaten der EU perfekt aus. Wählen die Leute, was sie sollen, kann es knapp ausgehen, wie es will. Das richtige Ergebnis bestätigt stets den richtigen Kurs, es heilt Wunden und von einer Spaltung der Gesellschaft kann keine Rede mehr sein. 

Der Wille des deutschen Europa 

Anders liegt der Fall, wenn es schiefgeht und auf einmal ein Kandidat oder eine Kandidatin in ein Amt einzieht, in dem sie das deutsche Europa nicht sehen will. Die Post-Faschistin Georgia Meloni, der Niederländer Geert Wilders, Donald Trump und der Portugiese André Ventura könnten ein Lied davon singen, wie selbst noch nach dem demokratischen Votum der Wählerinnen und Wähler versucht wird, ihren Anhängern die Verantwortung dafür zuzuschreiben, dass niemand mehr eine ordentliche Mehrheit hat, um ungestört durchzuregieren. Oder aber die Falschen eine erobern konnten, so dass ein rechtsnationaler Ruck die proeuropäischen Bemühungen vorerst unzulässig ausbremst.

Zwischen richtig und falsch, gut und schlecht passt oft nur noch eine Tasse Wasser "auf die Mühlen weiter rechts stehender Kräfte". Niemand vermag das besser zu beschreiben als Georg Restle, der mit Blick nach Polen den häufig erst weitaus später verwendeten Nazi-Vergleich in die erste Runde der Totschlag-Debatte vorzog: "Auch der Sieg der Nazis in Deutschland war das Ergebnis einer Wahl und deren Folgen", argumentierte. Denn "Demokratie ist mehr als nur ein Verfahren."

Rauswurf aller Senderchefs 

Demokratie ist, wenn es Restle passt, wenn Washington spurt und in Warschau regiert, wer Berlin gefällt. Nicht einmal der Umstand, dass die demokratische Regierung von Donald Tusk es war, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Polen im Handstreich auflöste, nachdem es nach dem Rauswurf aller Senderchefs durch Tusk zu einem Streit mit Präsident Andrzej Duda gekommen war, vermag den Mann vom WDR zu irritieren.

"Kulturelle Errungenschaften wie Wokeness, korrektes politisches Denken und Handeln werden diskreditiert und durch rechtspopulistische Parolen ersetzt", vermerkt ein beunruhigter Leser im Kommentarkeller der "Zeit", der mit seinem Eintrag auf Parallelen zum Kinofilm "Idiocracy" hinweist.

"Wieder müssen die Menschen durch das rechte Tal der Tränen", schreibt ein anderer, dem wohl das italienische Wachstumswunder im Kopf herumschwirrt. Doch eins ist klar, dieser Kommentäter wird standhaft blieben: "Aber liebe stolze Polen, liebe stolze Ungarn, von euch Nationalidioten lass ich mir nicht die liberale europäische freiheitlich demokratische Grundordnung mit ihren Menschenrechten wegnehmen". Die EU müsse jetzt einfach "deutlich härter gegen Fake News und Hetze im Netz vorgehen".

Dünne Lippen gratulieren 

Dünnlippig haben Ursula von der Leyen und Walter Steinmeier gratuliert. Noch zwei, drei Tage, dann wird ein Tempolimit als Maßnahme gegen den Rechtsrutsch in der Debatte auftauchen und die Opposition im Bundestag Sanktionen fordern. Deutschland muss jetzt helfen, mit Rat und Tat, damit die Polen begreifen, dass Regierungschef Donald Tusk die angekündigte Vertrauensfrage im Parlament gewinnen muss. 

Die Alternative wäre für alle Europäer bedrohlich: Nawrocki hat wohl das - illegale - Ziel - die nationalistisch-konservative Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) zurück an die Macht zu bringen und der proeuropäischen Regierung Tusk ein bitteres Ende zu bescheren. Gemeinsam mit Viktor Orban in Ungarn und Robert Fico in der Slowakei dann ein sogenannter "russischer Staatenblock" in der EU entstehen, der in Opposition zur Mehrheit der anderen Staaten Europas steht, die sich an Deutschland orientieren. Dann wäre Polen doch verloren.

 

Montag, 2. Juni 2025

Ost-, Ost-, Ostdeutschland: Warum Meister nie aufsteigen

Der 1. FC Lokomotive Leipzig ist der 2003 neugegründete Nachfolger des FC Lok aus DDR-Zeiten.

Havel-was? Ein Dorf bei Hannover, keine 3.000 Seelen, ein Fußballplatz namens Wilhelm-Langrehr-Stadion, das 500 Plätze mehr hat als Havelse Einwohner. Die frühere TSV-Kampfbahn an der Hannoverschen Straße, erst vor wenigen Jahren zu Ehren eines örtlichen Bäckermeisters umbenannt, ist zum Ort der großen Niederlage des ostdeutschen Fußballs geworden.  

Mit einem deutlichen, verdienten und am Ende ein, zwei Tore zu niedrig ausgefallenen 3:0 im Relegationsrückspiel sicherte sich der TSV den Aufstieg in die 3. Liga. Der 1. FC Lokomotive Leipzig, nach eigener Lesart Ex-Meister, Ex-Pokalsieger und Ex-Europacupstarter, bleibt zurück in Liga 4.

Zurück in Liga 4 

Nicht nur geschlagen und nicht nur blamiert, sondern vorgeführt wie der gesamte Fußballosten. Dort wiegen sich Vereinsführungen, Fans und Medien traditionell im Gefühl, für Liga 4, rein technisch gesehen die oberste deutsche Amateurliga, sei viel zu schlecht für sie. Von Jena über Erfurt, Chemnitz bis Cottbus, den BFC Dynamo in Berlin, die 2003 unter dem Namen des Vorgängervereins neugegründete Lokomotive aus Leipzig, deren Ortsrivale Chemie und der Hallesche FC, überall glauben sie, dass mindestens Liga 3, eher aber doch Liga 2 als dauernder Aufenthaltsort für den eigenen Wettspielbetrieb angemessen sein.

Dass das Gros der Oberligavereine aus DDR-Zeiten heute dennoch in der vierten Liga herumdümpelt, eine Spielklasse, in der sich weiter westlich Größen wie Wiedersbrück, Rödinghausen und   Drochtersen/Assel oder Jeddeloh II tummeln, gilt als sportliche Ungerechtigkeit, die der Übermacht westlicher Verbandsfunktionäre zu danken ist. Obwohl im Osten der bessere Fußball gespielt wird, professionell, in fast durchweg nahezu nagelneuen modernen Stadien, mit Vollprofis als kickendes Personal und einer prallvollen Fankurve, in der Ultragruppen mit Feuerwerk, Nebeltopf und Quarzhandschuh jede irre Verwirrung nachspielen, die sich der großen Fußballbühne abgucken lässt, lasse eine Übermacht an Westvereinen den armen Osten einfach nicht hochkommen. 

Ostdeutsche Unterrepräsentation 

Keine Chance. 35 Jahre nach dem Ende des DDR-Fußballs ist die Lage schlimmer als im Bundeskabinett, schlechter als an den deutschen Universitäten, fürchterlicher als in allen Vorstandsetagen der großen Firmen. Dass mit Union Berlin und RB Leipzig nur noch anderthalb Vereine aus den ehemals neuen Bundesländern in der ersten Liga spielen, beklagte schon kaum mehr jemand. Immerhin gab es ja in der 2. Bundesliga noch Magdeburg. 

Unter den 36 besten Fußballclubs Deutschlands hielt sich der Anteil der Vertreter Ostdeutschlands damit zuletzt hartnäckig bei fast zehn Prozent, deutlich weniger als in guten Jahren, deutlich mehr als in den ganz schlechten. In der 3. Liga warteten aber mit Aue, Rostock, Cottbus und Dresden gleich vier Ostvereine auf die Chance, nach oben zu kommen. Und diesmal gelang es Dresden sogar, den Unfall von 2022 wiedergutzumachen und in die 2. Liga zurückzukehren: Den Meistertitel in Liga 3 holte sich zwar Bielefeld, ein Westverein. Doch Platz 2 reichte zum Aufstieg.

Scheitern hat Tradition 

Lok Leipzig dagegen scheiterte in der Relegation, einer Hürde, die den Meister der heute unter dem Namen "Regionalliga Nordost" firmierenden Ex-DDR-Oberliga immer wieder am großen Sprung nach oben hindert. Zehnmal haben Vertreter der selbsternannten stärksten Staffel der 3. Liga versucht, sich in einem direkten Kräftemessen mit dem Meister einer anderen Staffel durchzusetzen. Nur fünfmal gelang es. Abgesehen von den Ligen der RLSW Regionalliga Südwest GmbH, in der ehemals große Namen wie Offenbach, Stuttgarter Kickers und FSV Frankfurt herumdümpeln, ist die Bilanz keiner anderen Liga so schlecht.

Und aus keiner anderen  kommen deshalb seit Jahren immer lauter werdende Rufe, die Relegation, in der die eigenen Vertreter so oft scheitern, gehöre abgeschafft, denn "Meister müssen aufsteigen". Dabei handele es sich um eine Art Naturgesetz, dem vom Verband zur Geltung verholfen werden müsse. Nur weil die Fußballverbände drüben im Westen mehr Mitglieder haben und es dort mehr Vereine gibt, dürften die Regionalligen jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nicht erwarten, mehr Vertreter in den Profifußball entsenden zu können. Das sei nicht fair, heißt es von Rostock bis Aue und Cottbus bis Halle, die Ostvereine mehr Zuschauer anzögen, professioneller geführt seien und in den moderneren Stadien zu Hause.

Nur die Ansprüche sind groß

Sportlich steht die Überlegenheit auch kaum infrage. Im Gegensatz zu Jeddeloh II, einem Club aus  einer Bauerschaft Jeddeloh II in der Gemeinde Edewecht im niedersächsischen Landkreis Ammerland, der in der Haskamp-Arena mit einer Kapazität von 2000 Plätzen spielt, oder dem SV Eintracht Hohkeppel, dessen größter Erfolg bisher ein Jahr in der 3. Liga war, sind die Ansprüche im Nordosten andere. Vereinschefs jonglieren hier mit Millionenetats, Städte veranlassen ihre örtlichen Sparkassen und kommunalen Unternehmen zumeist, die sportlichen Aushängeschilder zu finanzieren. Das Treiben der heimischen Ultra-Gruppierungen gilt als Teil originärer ostdeutscher Sportkultur. Jede Prügelei, jedes fast gesprengte Spiel ist ein Argument mehr dafür, dass die provinzielle Bühne viel zu klein ist für die großen Ansprüche.

Die sind mittlerweile politisch. 17 Vereine der Regionalliga Nordost starteten Anfang des Jahres eine gemeinsame Initiative, um die vermeintliche Benachteiligung des Ostens durch die aktuellen Aufstiegsregelungen zu beenden. Eine Ligareform soll die 4. Spielkasse so neu aufteilen, dass alle Meister aus allen Staffeln aufsteigen - für den Osten wäre das ein Gewinn, für den Westen ein Minusgeschäft. Dass es so kommt, scheint damit eher unwahrscheinlich.

Schlechte Verlierer 

Und wie schon 2020, 2022 und 2023, als sich der Meister der Regionalligastaffel Nordost in Relegationsspielen gegen Meister anderer Staffeln hätte durchsetzen müssen, um aufzusteigen, klappte es auch diesmal nicht. Der FC Lok schaffte daheim ein mühsames 1:1. Im Rückspiel dann wurden die Sachsen, ausgestattet mit einem Etat von angeblich drei Millionen Euro von der Provinztruppe aus Niedersachsen förmlich vorgeführt: Die Mannschaft des TSV, der seine Saison mit 200.000 Euro finanziert hat, siegte nicht nur klar und deutlich mit 3:0. Die Lok-Elf brach auch mental zusammen, Spieler verloren komplett die Nerven und lieferten das peinliche Schauspiel eines schlechten Verlierers. 

In den Gesichtern der Männer in Blau war zu sehen, wie sehr sie selbst an alles geglaubt hatten, was ihnen erzählt worden war. Bessere Liga. Professionellere Bedingungen. Bessere Spieler. Meister müssen aufsteigen. Müssen sie nicht, zumindest nicht, wenn sie sportlich nicht die Qualität mitbringen, sich gegen andere Meister durchzusetzen. So tragisch das Scheitern in einer Relegation ist, nach zahllosen Ligaspielen, die einen Verein am Ende zum Meister gemacht haben, so wenig tröstlicher ist die Lösung, die Zahl der Meister zu reduzieren, um sie automatisch aufsteigen zu lassen. Die Chancen auf den Aufstieg werden dadurch zwar für die einen größer, dafür aber die anderen kleiner. Und insgesamt gibt es für alle weniger davon.

Koch und Kellner: Strafsteuer für Amerika

Friedrich Merz  Weißes Haus  Donald Trump  Digitalabgabe  Plattform-Soli
Wer Koch und wer Kellner ist, wird Friedrich Merz am Donnerstag im Weißen Haus sehr deutlich machen.

Kurz vor peinlich kam er endlich, der seit Wochen ersehnte Termin. Friedrich Merz wird nach Washington reisen, mit nur unmerklicher Verzögerung, verglichen mit seinen Amtsvorgängern. Die stellten sich stets auch zuerst in den Nachbarstaaten vor. Unmittelbar danach aber ging es nach Übersee - zu partnerschaftlichen Gesprächen, sagten die einen. Zur Befehlsausgabe, raunten die anderen.  

Trump zögerte lange furchtsam 

Merz, der seine erste Begegnung mit Donald Trump am liebsten gleich hatte hinter sich bringen wollen, musste vier Wochen warten, bis das Weiße Haus Zeit für ihn fand. Das ist weniger lange als Angela Merkel auf grünes Licht von Barack Obama warten musste. Und auch weniger lange als Helmut Kohl auf Kohlen saß, ehe ihn Ronald Reagan endlich vorließ. 

Doch das Bangen war groß, ob es überhaupt zu einer Begegnung kommt. Würde Trump sich trauen, den neuen deutschen Kanzler vorzulassen? Und wie lange würde er brauchen, um sich ausreichend gewappnet für eine Begegnung zu fühlen, die über Wohl und Wehe des Westens entscheiden kann?

Der US-Präsident, das wird schon am Zeitablauf deutlich, hat Respekt vor dem neuen starken Mann Europas. Wenn Friedrich Merz am Donnerstag eintrifft, dann landet das kein lauer, vom Winde verwehter Verwalter europäischer Interessen in der US-Hauptstadt. Sondern ein selbstbewusster Wahlsieger, der einer Bundesregierung vorsteht, die in vier Wochen schon mehr geschafft hat als die Vorgänger in drei Jahren. 

Kein Bittsteller 

Merz hat dementsprechend schon vorab klargemacht, dass er als erster Bundeskanzler seit immer nicht auf Knien gerutscht kommt: Er komme nicht als Bittsteller, hat er signalisiert. Und Nachhilfe in Sachen Demokratie brauche Europa schon gar nicht. Selbstbewusst und ruhig will der Sauerländer dem gefürchteten US-Präsidenten in seinem Büro entgegentreten, im Rücken ein "Europa mit 500 Millionen Konsumenten", das "für viele US-Unternehmen der zweitgrößte Markt nach den USA selbst" sei. 

"Machen wir uns nicht kleiner, als wir sind", rückte der Kanzler die Verhältnisse zurecht, die gerade von den Amerikaner neuerdings immer gern geleugnet werden. Der Koch, der wohnt in Europa. Die Kellner, das sind die Amerikaner. Mögen deren aktuelle Anführer auch darauf verweisen, dass 340 Millionen US-Bürger ein Bruttoinlandsprodukt erzeugen, das ein Drittel über dem liegt, das 440 Millionen EU-Europäer zusammenbringen, so weiß Friedrich Merz doch, dass die Vereinigten Staaten mehr von der EU abhängig sind als umgekehrt. 

Der Hemmschuh USA 

Gelinge es nicht, sich zu einigen, hatte er Trump vor dem ersten persönlichen Treffen wissen lassen, dann müsse die deutsche Wirtschaft entscheiden, wie weit sie noch in den USA investieren wolle. "Und wir müssen politische Entscheidungen darüber treffen, wie wettbewerbsfähig wir sein wollen, notfalls auch ohne Amerika." Der Hemmschuh USA, der der EU wie ein Bleigewicht um den Hals hängt, er fiele dann weg. Ein Lastabwurf, der die Europäische Union endlich in die Lage versetzen würde, all die großen Ziele zu erreichen, die in der Vergangenheit immer wieder knapp verpasst worden waren.

Option eins ist das nicht, denn aus sentimentalen Gründen würde der erfahrene Atlantiker Merz gern weiter gemeinsam mit den Vereinigten Staaten dafür sorgen, dass klimagerechtes Wachstum überall mehr nachhaltige Gerechtigkeit erzeugt. Doch nicht um jeden Preis. Die Instrumente, um der US-Regierung klarzumachen, wer hier wen, hat Friedrich Merz demonstrative bereits auf den Tisch legen lassen. Noch vor der Bestätigung des Audienztermins ließ er seinen neuen Kulturminister Wolfram Weimer die Einführung einer neuen Strafsteuer für große Tech-Konzerne ankündigen, mit der die großen amerikanischen Tech-Konzerne künftig zur Kasse gebeten werden sollen. 

Niemand wer mehr zahlen müssen 

Diese "Digitalabgabe nach österreichischem Vorbild" würden etwa die Google-Mutter Alphabet und der Facebook-Konzern Meta treffen würde. Weimer drohte den US-Konzernen damit, dass eine entsprechende Gesetzesvorlage bereits vorbereitet werde. Sie ziele nicht nur auf Google, sondern "generell" auf "Plattform-Betreiber mit Milliardenumsätzen". Die neue Steuer ist wegen Merzens Versprechen, dass es keine Steuererhöhungen geben werde, von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin auf den Begriff "Plattform-Soli" getauft wurde, soll bei zehn Prozent vom gesamten Umsatz der Unternehmen liegen. Das sei "moderat und legitim" hat Weimer errechnen lassen.

Und lukrativ wäre es auch: Die Umsatzrendite bei der Google-Mutter Alphabet liegt etwa bei 20 bis 25 Prozent bei Meta bei 30 Prozent, Amazon kommt auf zehn Prozent. Würde Deutschland, das wie die gesamte EU über keinen bedeutsamen großen Internet-Player verfügt, nur die im Land anfallenden Gewinne besteuern, ließe sich mit den Einnahmen kaum eine ordentliche Panzerdivision aufstellen. Eine Steuer auf den gesamten Umsatz hingegen verspricht ein ordentliches Stück vom Milliardenkuchen.

Doppelter Abgabesatz 

Vorbild ist Weimer zufolge Österreich, wo große Online-Plattformen schon seit fünf Jahren verpflichtet sind, eine "Digitalsteuer" in Höhe von fünf Prozent aller Umsätze aus der Werbevermarktung an den Staat abzuführen. Im Nachbarland liegen die Wachstumsraten der Wirtschaft noch hinter den deutschen - beide Staaten liegen sich in der EU auf Platz 26 und 27. Das deutsche Modell verdoppelt den österreichischen Digitalabgabesatz deshalb, vermeidet aber wegen Merz' Absage an Steuererhöhungen den Begriff "Steuer". Zwar wäre die Einführung einer neuen Steuer faktisch keine Erhöhung, doch die Bundesregierung will den Eindruck vermeiden, dass Kunden der großen Plattformen am Ende zahlen müssten. 

Ausdrücklich hat Merz "Beauftragter für Kultur und Medien" deshalb versichert, dass Nutzer von Google, Meta-Diensten und anderen Internetangeboten nicht zur Kasse gebeten würden. Zwar verrät die vorsichtige Formulierung, die Abgabe habe in Österreich "keine relevante Preisveränderung für Nutzer mit sich gebracht", dass es durchaus eine Preisveränderung gegeben hat, mit der die Konzerne die Mehraufwendungen an ihre Nutzer weiterreichen. Doch wie die frühere Außenministerin Annalena Baerbock mit ihren Vorschlag von "zehn Cent für jedes Apple-Update" zielt Weimar darauf, "viel Geld" (Baerbock) einzuspielen, ohne dem Einzelnen so viel wegzunehmen, dass er es in der Brieftasche spürt.

Zustimmung von Millionen 

Mit der Ankündigung, dort zuzugreifen, wo das Geld sitzt, kann sich die Bundesregierung der Zustimmung von Millionen sicher sein. Wichtig sei, dass die "Konzerne endlich einen kleinen Steuerbeitrag für die Gesellschaft leisten, also ihre gewaltige Marge etwas sinkt." Eine Steuer in Höhe von zehn Prozent des Umsatzes wäre für Deutschland deutlich lukrativer als die Körperschaftssteuer auf Gewinne in Höhe von 21 Prozent, wie sie die USA erheben.

Bereits 2021 meldete Google für Deutschland einen Umsatz von 11,3 Milliarden Euro, Amazon liegt bei über 30 Milliarden, Meta komme auf etwa fünf Milliarden. Für den deutschen Fiskus ergäbe sich mit der Einführung des Plattform-Soli eine zusätzliche Einnahme von mindestens fünf Milliarden Euro.

Mit den Plänen zur Durchsetzung einer solchen Vorschrift, im politischen Berlin intern "Multimediamelkmaschine" genannt, setzt Weimer einen Arbeitsauftrag aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD um. Dort heißt es unter der umsichtig formulierten Überschrift "Medienvielfalt stärken - Meinungsfreiheit sichern", dass man die Einführung einer Abgabe für Online-Plattformen prüfen werde, "die Medieninhalte nutzen". Damit gemeint sein kann alles und jedes Unternehmen, von ARD und ZDF bis hin zu Kinoketten, Radiosendern und Internetanbietern. 

Erlöse für den Medienstandort 

Auch das Versprechen, die "Erlöse" sollten "dem Medienstandort zugutekommen", verrät nicht, was genau CDU, CSU und SPD mit dem anvisierten Milliardensegen planen. Sicher ist nur: Im angespannten transatlantischen Verhältnis und inmitten des Zollstreits mit den USA wird die Ankündigung der neuen Steuer für US-Konzerne zu einer weiteren Verschärfung des aktuellen Konflikts führen. 

Ganz im Sinne von EU-Chefin Ursula von der Leyen, die zuletzt schon deutlich gemacht hatte, dass die EU bereit ist, als Vergeltungsmaßnahme im Zollkrieg auch eine neue EU-Steuer für digitale Dienste zu erheben, prescht Merz kurz vor seinem Besuch in Washington vor. Einziger Unterschied: Der neue Kanzler setzt auf einen nationalen Alleingang, der Geld in die klamme Bundeskasse spülen soll. Die Kommissionschefin  hingegen hatte eine europäische Lösung anvisiert. Die Einnahmen aus der Digitalsteuer, wie sie Mitte April noch genannt wurde, sollten einen EU-Fonds speisen, mit dessen Hilfe die bewährten EU-Vorschriften für die Pflege der Meinungslandschaft gegen Angriffe aus dem Ausland verteidigt werden könnten.  

Aufrecht bis zur Abschaltung 

Knicke die US-Regierung von Präsident Donald Trump nicht dankbar ein, sei eine Strafsteuer für US-Konzerne eine von "vielen möglichen Gegenmaßnahmen", sagte die Deutsche der "Financial Times". Der Gefahr, den Zugang zu den Diensten von Google, Microsoft, X, Facebook und den anderen im Netz dominierenden Konzernen zu verlieren, schaut die EU-Kommission dabei gelassen ins Auge. 

Um keinen Preis werde man die weltweit als vorbildlich geltenden EU-Vorschriften für digitale Inhalte und Marktmacht, die Trump-Beamte heute schon als Sondersteuer für US-Big-Tech-Unternehmen ansehen, zurücknehmen. Sondern eher noch neue Lasten aufsatteln, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Merz' Münsteraner Eröffnung hat den Traum der Kommissionspräsidentin von jahrelangen Verhandlungen auf dem Weg zu europäischer Einigkeit allerdings über Nacht zunichte gemacht. Vor allem aber hat sie Merz als mächtigen Gegenspieler Trumps etabliert: Der deutsche Kanzler kommt nicht mit leeren Händen, sondern mit einem ganzen Sack schmerzhafter Konsequenzen für Amerika. Um Schaden von der US-Wirtschaft abzuwenden, muss Donald Trump ein Angebot machen, das Merz gnädig stimmt.

Widerstand gegen die Strukturen 

Wolfram Weimer sieht das ähnlich. "Es muss sich jetzt etwas ändern", hat der frühere Journalist auf Deutschlands derzeit noch so fatale Abhängigkeit von der technologischen Infrastruktur der Amerikaner hingewiesen. "Wenn Google den Golf von Mexiko auf Druck von Donald Trump eigenmächtig in "Golf von Amerika" umbenennt und aufgrund seiner enormen Deutungsmacht in der globalen Kommunikation das einfach dekretiert, dann erkennen wir, welche Probleme in den derzeitigen Strukturen lauern." 

Trump setze solche Änderungen im Alleingang durch, handstreichartig, weil er auf seine Tech-Verbündeten vertreuen könne. Die weltweite Bekanntgabe deutscher Umbenennungen hingegen würden wie bei der Neubenamung der Berliner Mohrenstraße in Sirimavo-Ratwatte-Dias-Bandaranaike-Straße verzögert und verschleppt. Ein digitaler Soli könnte auch dieses Problem schnell aus der Welt schaffen.

Hoffnung auf Neuanfang 

In Kürze wird es so weit sein. Betrieben die großen Plattformen bisher mit Hilfe von willfährigen Steuerparadiesen "geschickte Steuervermeidung" (Weimer), die nationale und europäische Behörden immer zwang, sich über langwierige Gerichtsverfahren einen Anteil an den erwirtschafteten Gewinne zu holen, wächst jetzt die Hoffnung auf einen Neuanfang. 

Strategisch geschickt hat Merz die Ankündigung der deutschen Gegenmaßnahmen kurz vor seinen Besuchstermin in Washington gelegt. Was wie ein brüsker und ungeschickter Angriff auf Amerika aussieht, könnte den US-Präsidenten zur Besinnung bringen. Die digitale Drohung wird ein demütigendes Debakel verhindern, wie es der ukrainische Präsident Selenskyj und der südafrikanische Staatschefs Ramaphosa vor laufenden Kameras im Oval Office erlebt hatten. Bewaffnet mit der Zusatzsteuer, kommt Merz als starker Mann nach Washington, eine Führungsgestalt der EU, die beinhart verhandeln wird. "Zugewandt, aber selbstbewusst", wie der Bundeskanzler seine Strategie selbst beschrieben hat.

Einen  guten Draht zu Trump wird sich der Mann aus dem Münsterland nicht erbetteln. Auf einen groben Klotz wird er einen groben Keil schlagen und zeigen, dass Deutschland gut auch ohne Amerika kann, ein großer Handelskonflik für das Weiße Haus aber deutlich schwieriger durchzuhalten sein wird.

Sonntag, 1. Juni 2025

Erdbeerpreis für von der Leyen: Karls Enkelin

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Das berühmte Foto vor der Erdbeertapete wird am Ende der Preisverleihungszeremonie von jedem neuen Träger des Karlpreises angefertigt. 

Dass sie ihn noch nicht gehabt haben soll, nach so vielen Jahren der treuen Dienste an Europa und den Menschen, es erscheint kaum vorstellbar. Schon seit 2004 ist Ursula von der Leyen eine aus der Riege der europäischen Spitzenpolitik, die nicht wegzudenken ist aus den Wohnzimmern so vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Welt erlebte Zeitenwenden wie noch nie, die in Belgien geborene Niedersächsin aber wechselte allenfalls das Amt.  

Wo immer die Partei 

Von der Leyen bewährte sich überall, wo immer die Partei sie hinstellte, zeigte sie Leistung. Wäre die heute 69-Jährige Frauenfußballerin, hätte jeder Trainer die Qual der Wahl: Von der Leyen ist im Tor die Beste, aber auch auf Linksaußen, im Sturm und im Mittelfeld sowieso. Bis heute ist sie die deutsche Politikerin, die den Rekord für die meisten jemals geführten verschiedenen Ministerien hält. Sieben ressorts waren es insgesa, gesundheit nicht mitgerechnet, denn die verantwortete sie nur auf Landesebene. Es wären noch mehr geworden, aber dann  kam der Ruf aus Brüssel. Und von der Leyen folgte, um Schaden von Partei, Land und Volk abzuwenden.

Dass sie nun endlich dran ist mit dem Karlspreis, jener legendären Auszeichnung, die vor ihr schon ihr Vorgänger Jean Claude Juncker als "Motor für Europa" entgegengenommen hatte, überrascht dennoch. Längst meinten viele, sie habe ihn doch sicher schon. Schließlich bekam sie auch die "Goldene Henne", den Distinguished Leadership Award des Atlantic Council  und der Global Goalkeeper Award der Bill and Melinda Gates Foundation. Aber so ist sie nicht, die Unermüdliche. Ursula von der Leyen drängt nicht nach Ehrungen und Preisen, ihre Anerkennung sind Respekt und Hingabe von Millionen und Abermillionen Europäern, die sie schätzen und hochachten und sie zuletzt sogar an die Spitze der EU-Kommission zurückwählten, obwohl sie gar nicht kandididert hatte.

Pralle Beeren  

Die Bundesverdienst- und Großkreuze, die sich andere Politiker im höheren Alter im Dutzend umhängen lassen, um noch einmal mit Blech und Tand zu glänzen, bedeuten ihr nichts. Der Karlspreis aber, alljährlich von Robert Dahl, dem Chef des Freizeitunternehmens Karls Erdbeerhof, ist ein ganz anderes Kaliber. Benannt nach Karl Dahl, der seit 1921 einen Hof in der Nähe von Rostock bewirtschaftet hatte und seine prallen Beeren auf dem Wochenmarkt feilbot, wird der Ehrenpreis ausschließlich an hauptamtliche Europa-Politiker vergeben. Niemand, der sein Leben dem Kontinent gewidmet hat, sagt da nein.

Nicht einmal die bescheidene Ursula von der Leyen. Im ehrwürdigen Krönungssaal des Aachener Rathauses, wo einst siegreiche Könige zu Kaisern gekrönt und Geschichte geschrieben wurde, erstrahlt Europa beim Festakt in der Pracht eines französischen Kaiserhofes. 

Erst die achte Frau 

Unter den goldenen Lüstern und vor den Augen einer illustren Schar aus Staatschefs, Wirtschaftsführern und kulturellen Koryphäen nimmt Ursula von der Leyen die bei den bisherigen 74 Versuchen erst achtmal an eine Frau vergebenen Ehrenpreis entgegen. Diese Auszeichnung spiegelt nicht nur ihre Verdienste, sondern die Seele Europas selbst. Erstmals in seiner Geschichte ist der Karlspreis mit einer Million Euro dotiert, gestiftet von der Stiftung eines Aachener Unternehmerpaares, das sich entschieden hat, nicht den Armen zu geben, sondern denen, die etwas zu sagen haben.

Von der Leyen erweist sich dieses Vertrauens würdig. Doch gewaltige Summe, nach der Kaufkraft des Jahres vor der Euroeinführung immerhin eine Million D-Mark, wird nicht auf das Konto der Frau wandern, die gar keine Zeit hätte es auszugeben. Nein, Ursula von der Leyen nutzt ihren Zugang zu den großen Medien, um  die Million mit einer Geste der Selbstlosigkeit in die Hände der Schwächsten zu legen. Ukrainische Kinder, die unter dem Schatten des Krieges leiden, sollen das Geld bekommen, das hat von der Leyen schon vorab klargestellt.

Vibrationen der Erwartung 

Umso wärmer ist der Empfang in Frankfurt, das sich nach Monaten der Dürre und der Hitze luftig und kühl zeigt. Die Luft im Krönungssaal vibriert vor Erwartung, als die Fanfaren erklingen und die Türen sich öffnen. Ursula von der Leyen, in schlichtem, doch würdevollem Dunkelblau mit gelbem Halstuch,  schreitet ein, begleitet von den Klängen eines Streichquartetts, das Händels "Scharade" in d-Moll spielt und die Herzen der Anwesenden zum Schwingen bringt. 

Der Saal, prall gefüllt mit den Vertretern der 27 Mitgliedsstaaten, erhebt sich wie ein Mann und eine Frau. Unter den Gästen sind bekannte Namen, berühmte Fernsehschaffende, Politiker und Wirtschaftsführer. Doch keiner von ihnen will heute im Mittelpunkt stehen. Alle Scheinwerfer sollen sich nur auf die richten, die Europa vor Corona gerettet und derzeit dabei ist, den Kontinent zu einem "Stachelschwein" aufzurüsten, an dem sich der russische Bär den Kiefer brechen wird.

In stürmischen Zeiten 

Alle sind sie gekommen, um die Frau zu ehren, die Europa in stürmischen Zeiten mit ruhiger Hand lenkt, Trump die Stirn bietet und den Massen voranschreitet. Die Laudatio hält Robert Dahl selbst, Urenkel des Gründers von Karls Erdbeerhof, ein großgewachsener Bauer, der den Vorsitz des Karlspreis-Direktoriums in alter Familietradition führt. Seine Worte sind wie eine poetische Hymne. Ursula von der Leyen sei nicht nur "die Präsidentin von 450 Millionen Europäern", sie sei auch die "Präsidentin der Herzen", die mit unerschütterlicher Kraft und einem untrüglichen Gespür für Gerechtigkeit Europa immer weiter eine.

Wo andere den Traum von den Vereinigten Staaten von Europa aufgegeben und sich in die Büsche geschlagen haben, träumt sie weiter. "Ursula von der Leyen hat Europa zu einer moralischen Bastion in einer Welt voller Unruhen gemacht", lobt Robert Dahl. Applaus brandet auf, mächtig wie die Wellen der Nordsee, und doch ist es die Stille, die folgt, die die wahre Tiefe dieses Moments offenbart. Gerührt steht von der Leyen inmitten des Schweigens. Eine Architektin der Einheit. Aber eben auch ein Mensch.

Sie und "Hera" 

Ja, diese Frau, eine ganz  normale Christdemokratin aus Niedersachsen, sieben Kinder, Dr. med und graduiert, hat Europa in den letzten Jahren geprägt wie wenige vor ihr. Ihre Gründung der Europäischen Gesundheitsunion, ein Meilenstein in der Geschichte des Kontinents, wurde zur Antwort auf die Pandemie, die die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Inmitten globaler Unsicherheiten schuf sie Strukturen, die nicht nur das Leben der Bürger schützten, sondern auch die Solidarität zwischen den Nationen stärkten. Impfstoffe wurden per SMS bestellt, auf dem kleinen Dienstweg. "Hera" entstand, eine Gesundheitsunion, die Europa als Vorreiter globaler Gesundheitspolitik etablierte.

Das hat ihr niemand vergessen, das ist das wonach heute immer noch gefragt wird. Die Geschichte der Pfizer-SMS - jene rätselhaften Nachrichten, die wie ein moderner Mythos die Schlagzeilen füllten -bleiben ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Geheimnis. Mit der Eleganz einer Diplomatin navigierte von der Leyen durch die Kontroverse, ohne je den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren: die Sicherheit und das Wohl Europas. 

Schweigende Stimme 

Doch nicht nur in der Krise rund um die Gerichtsverfahren, die Neugierige gegen sie anstrengten, bewies sie Charakterstärke. Ihre Fähigkeit, die Interessen der EU in einer Welt voller geopolitischer Spannungen zu vertreten, brachte sie bis nach China und in die Türkei, wo sie am Katzentisch saß, aufrecht und würdevoll. Und "mit der starken Stimme Europas schwieg", wie das Karlspreis-Direktorium treffend formulierte. 

Kritiker mögen flüstern, mögen ihr elitäre Angehobenheit nachsagen und eine Abkapslung im raumschiff Brüssel. Doch die Bürger Europas wissen: Ihre Präsidentin handelt nicht für Ruhm, sondern für die Gemeinschaft, wie auch ihre großzügige milde Gabe an die ukrainischen Kriegskinder zeigt. 

Kinder seien unsere Zukunft, sagt von der Leyen, und ihre Worte hallen nach wie ein Versprechen, das über die Grenzen Europas hinausreicht. Reporter, die als erste eingeladen waren, von dieser noblen Geste zu berichteten, nennen es "einen Akt, der die Essenz Europas verkörpert: Solidarität, Mitgefühl und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen." Gäste im Saal nennen es schlicht "typisch Ursula".

Mit Tränen der Rührung 

Sie alle erheben sich, mancher kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ist dieser eine Moment, der die Seele Europas greifbar macht. Robert Dahl kommt mit der breiten Karlspreiskette, das Sinfonieorchester lässt eine Abwandlung von Beethovens "Für Elise" als "Für Ursula" aufbrausen. 

Im Sonnenlicht glänzt die berühmten Karlspreis-Tapete mit den typischen sinnbildlichen Erdbeerfrüchten. Die Verleihung wird zum Schauspiel enger Geschlossenheit, als die feierliche Prozession vom Rathaus zum Domplatz zieht. Kinder in weißen Gewändern, die die Flaggen der EU-Mitgliedsstaaten tragen, säumen den Weg, während ein Chor die Europahymne "Ode an die Freude" intoniert.

Die Symbolik ist gewollt: Wie Karl Marx, der Namensgeber des Preisstifters, vereint von der Leyen die Völker Europas unter einem gemeinsamen Banner. "Ursula von der Leyen verwaltet Europa nicht nur, sie war es, die ihm eine Seele gegeben hat", tuschelt es später in den Gängen. Sie habe "uns gezeigt, dass Einheit keine Utopie ist, sondern eine lebendige Kraft", sagt ein anderer und im Flur bricht spontan tosender Applaus aus. Nicht einmal bei der Verleihung des Preises an Jean-Claude Juncker, jenen Solitätr europäischer Zustände, spielten sich solche Szene ab, sagen Karlspreis-Kenner.

Selbst ist der Höhepunkt 

Doch es ist von der Leyen selbst, die den Höhepunkt des Tages setzt. Mit fester Stimme, doch sichtbar bewegt, nimmt sie den Preis entgegen – eine bronzene Statuette, die Karl den Großen als Brückenbauer zeigt, gestaltet von einem Künstlerkollektiv aus Maastricht. 

Jetzt spricht die Stimme der Herzen und sie singt eine Hymne an die Zukunft Europas. Klimawandel, Krieg, Zölle, die digitale Revolution. Überall brennt es, aber Europa schläft nicht. Die Botschaft ist klar: "Europa ist mehr als ein Markt, mehr als eine Währung. Europa ist ein Versprechen – ein Versprechen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit."

Draußen, vor dem Rathaus, haben sich einige Demonstranten versammelt - ein paar Dutzend, die mit Plakaten gegen die Macht der EU wettern, die mäkeln und schimpfen. Doch ihre Stimmen verklingen an diesem Tag ungehört im Wind.

CO2-Pläne: Eine Angst geht um in Europa

Als erster Kontinent der Erde will Europa klimaneutral werden. Je steiler der CO2-Preis steigt, desto näher rückt das Ziel.

Die Wetten laufen und sie stehe nicht gut für die EU-Kommission und die Regierungen der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Der Wind der Wirklichkeit, dieses höllische Kind, es weht den Planern und Umsetzern der großen Visionen der Gemeinschaft steif ins Gesicht. Noch beschwören sämtliche Instanzen, dass es natürlich bei der aktuellen Beschlusslage bleiben werde. Ab 2027, spätestens aber 2028 wird der sogenannte "CO₂-Preis" planmäßig weiter erhöht werden. So steht es geschrieben. So wird es gemacht.

Und wieder dieses Wehklagen 

Doch damit, diese Erkenntnis sickert langsam, langsam aus der Fläche in die Spitze, steigen auch die Kosten für Heizen und Tanken für Lebensmittel, für den Wohnungsbau, die in der EU verbliebene Industrie, die Landwirtschaft, für Bildung, Verkehr und Gesundheit. Starke Schultern werden das achselzuckend leicht nehmen. Alle anderen aber erneut mit dem lauten Wehklagen beginnen, das die gesamte große Transformation der Europäischen Union zu einer nachhaltig klimafesten Phalanx der Verteidigung der Pariser Beschlüsse von 2015 beinahe vom ersten Tag an begleitet hat. Wer soll das denn noch bezahlen. Wie sollen wir so leben. Wie soll das weitergehen, wenn der Fleißige immer der Dumme ist.

Alles war gut gemeint und gut formuliert. 2019 wurde die Einführung einer neuen Steuer auf Kohlendioxid beschlossen, aber erst für in zwei Jahren. Der Einführungspreis lag bei zehn Euro, zu wenig, als dass jemand sich empört hätte. Später stieg der Pries, aber das war nicht schlimm, denn schon demnächst, so versprachen alle Parteien der demokratischen Mitte, würden alle Einnahmen als "Klimageld" an die Bürgerinnen und Bürger zurückzahlen - je mehr, je fleißiger sie beim CO₂-Sparen mittaten.

Niemand macht mit 

Knapp vorbei ist auch daneben. Aus der Rückzahlung wurde nichts, aus den zaghaften zehn Euro zum Start aber wurden 55.  Das alles funktionierte nicht, kein bisschen, und niemand auf der ganzen Welt beeilte sich, es der EU nachzumachen. Aber versprochen ist versprochen und wer in die falsche Richtung läuft, schafft es oft trotzdem an irgendein Ziel, wenn er sich beeilt. 

Gerade die EU ist dafür bekannt, dass keine andere Weltgemeinschaft  so viele schöne Ziele hat wie sie. Ein ganzer Bürokratenapparat ist in Brüssel damit beschäftigt, die 450 EUntertanen mit Planvorgaben, Richtlinien und strengen Regeln zu versorgen. Teil der großen Tradition der Kommission ist es dabei, nicht nur hehre Vorhaben und ehrgeizige Umsetzungspläne zu verkünden, die jedes Mal nichts weniger als die Welt zu retten versprechen. Sondern diese eigenen Absichten auch klug zu managen, mit Augenmaß und ohne ideologische Verbohrtheit.

Einmalige EU-Leistungen 

Als einmalig gilt die Leistung der EU, in den 32 Jahren ihrer Existenz als Union noch jedes einzelne ihrer großen Ziele verfehlt zu haben, ohne dass die Gemeinschaft deshalb zur Lachnummer für andere Staaten, Medien und die EU-Öffentlichkeit geworden wäre. Der Kniff, mit dem das gelingt, ist denkbar einfach: Immer wenn sich abzeichnet, dass Plan scheitern oder ein Ziel verfehlt werden wird, werden die Zielvorgaben prompt weiter verschärft. Und der Termin, an dem sie erreicht werden sollen, weiter in die Zukunft verschoben.

Die Liste der großtaten, mit denen erfolgreich so verfahren wurde, ist endlos lang, sie reicht von den offenen Schengen-Grenzen über die Lissabon-Strategie und den großen Plan "Europa 2020" bis zum Aufbauplan nach der Corona-Pandemie, der Gesundheitsunion Hera und dem "Green Deal". Eintragungen im großen Buch der EU-Geschichte, die allesamt Zeitenwenden hätten bringen sollen, schließlich aber vertagt und wohlweislich gründlich vergessen wurde, als nicht mehr zu leugnen war, dass sie sich als Schlag ins Wasser herausgestellt hatten. War die EU damit blamiert? Hatte sich herausgestellt, dass Ziele keine Ziele erreichen? Und Pläne immer nur auf dem Papier stehen?

Apparat auf Autopilot 

Selbstverständlich nicht. 80.000 EU-Beamten, ein nach Hunderttausenden zählendes Heer von für EU-Angelegenheiten zuständigen Mitarbeitern in den 27 Mitgliedsstaaten und eine unüberschaubare Armada von tausenden von Lobbyfirmen, Berater und Experten in Think Tanks, an Universitäten und in von der EU finanzierten nichtstaatlichen Organisation ist beständig weiter daran, neue Zielvorgaben zu formulieren. Die eine Hälfte des Apparates ist auf Autopilot damit beschäftigt, Fünf-Jahr-Pläne zu erstellen. Die andere hat die Aufgabe, die Erfüllung zu überprüfen. Zeigt sich, dass es wieder nichts wird, heißt es umplanen. Es wird weiter werden, Nur später irgendwann, dann aber deutlich besser. 

Im Gegensatz zu früheren Planwirtschaften fälscht die EU keine Bilanz. Sie zieht keine, sondern ersetzt alte Ziele durch neue. Da die unangenehme Eigenschaft der Zeit an sich darin besteht, die selbst eine ferne Zukunft mit jeder Minute immer näher an die Gegenwart zu rücken zu lassen, hat die sogenannte Umzielung in Europa Prozesscharakter: Stets und ständig erfordern zwingende Notwendigkeiten, Ziele so zu verändern, dass nicht überall und jedem sofort ins Auge springt, wie sehr die Mitgliedstaaten trotz aller Schwüre beim Erreichen versagt haben.

Verschieben, erleichtern und nachschärfen 

Routinemäßig wird  dann verschoben, erleichtert und so nachgeschärft, dass vom Ursprungsvorhaben nur der Name bleibt. Das war beim geplanten Verbrenneraus so und es wird beim Lieferkettengesetz so sein und auch bei der als "CO2-Abgabe" bezeichnete Kohlendioxidsteuer nähert sich trotz aller anderslautenden Bekundungen das Tag, an dem die Furcht vor dem Volk gewisse Planänderungen nahelegen wird.

Jetzt schon geht eine Angst geht um in Europa und im politischen Berlin. Es ist die Angst davor, sich ein weiteres Mal böse verspekuliert zu haben. Als der Deutsche Bundestag vor fünf Jahren auf Geheiß aus Brüssel die Einführung einer CO2-Steuer beschloss, klang das alles sehr elegant: CO2 zu emittieren würde teuer. Menschen und Fabriken würden es folglich vermeiden, CO2 zu produzieren. Sie würden ausweichen auf Wärmepumpen, Elektroautos und Lastenräder. Mit 15 Millionen Elektrofahrzeugen, die  2030 allein auf deutschen Straßen unterwegs sein würden, könnte glatt mehr CO₂-Abgabe gespart werden als überhaupt fällig sei. 

Angriffe auf die Elektromobilität 

Dass der Hochlauf der Elektromobilität plötzlich stoppte, als linke Aktivisten die Fabriken des US-E-Auto-Pioniers Elon Musk angriffen und der grüne Bundesklimaminister die Förderung stoppte, konnte niemand ahnen. Auch dass die EU-Kommission die laut geforderte Einführung billiger E-Autos für die vielen weniger Wohlhabenden durch Strafzölle für chinesische Hersteller unterband, war kaum abzusehen gewesen. Die Konsequenzen aber wetterleuchten an der Wand: Bedrohlich naht der Tag der Abrechnung, wenn der bisher staatlich festgelegte CO₂-Preis sich am Markt bilden soll, frei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Wie hoch wird er dann sein? Aktuelle Prognosen des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS) reichen von 70 Euro pro Tonne bis zu 150 Euro pro Tonne im Jahr 2030. Laut einer Berechnung der EU-Kommission würden die Benzinpreise schon bei einem CO₂-Preis von 45 Euro um elf Cent pro Liter steigen, bei 70 Euro wären es 20 Cent, bei 150 Euro sogar mehr als 30. 

Parallel klettern auch die übrigen Kosten: Wer heizt oder isst, wer duscht oder kocht, wird zur Kasse gebeten. Der Betrieb einer Gasheizung würde bei einem CO₂-Preis von 70 Euro 217 Euro teurer, bei 150 Euro um knappe 500. Alle Ausgaben zusammengerechnet, auf die der CO₂-Preis direkt oder indirekt aufgeschlagen wird, droht eine erneute Preisexplosion, die absehbar für Unmut sorgen wird.

Wird es jemand merken? 

In Brüssel rechnen sie, in Berlin auch. Werden die Preise langsam genug steigen, dass es möglichst niemand merkt? Wird die Industrie weiter abwandern, werden noch mehr Produktionsanlagen stillgelegt? Ist der weitere planmäßige Verlust an Wohlstand ein zu hoher Preis für das 1,5- oder Zwei-Grad-Ziel? Oder treibt er den Feinden der progressiven Planpolitik weitere Wähler in die Arme?  Das Trauma der französischen Gelbwesten, die das Land lahmlegten, nur wie die Regierung einen nationalen CO₂-Preis von 45 Euro pro Tonne CO₂ einführen wollte, wirkt nach.

Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat deutlich gemacht, dass er sich für sinkende Preise einsetzen will, um die anstehende neue Preislawine durch die CO2-Abgabe abzufedern. Doch der Einfluss der Bepreisung der Luft durch CO2-Zertifikate ist unwägbar. Lahmt die Elektromobilität weiterhin, wird es teuer. Wird es teuer, werden es diesmal auch die Verbraucher spüren. Das würde Europa auf die Füße fallen: 2029 wird ein neues EU-Parlament gewählt. Ein wütendes Wahlvolk könnte erstmals für eine klimafeindliche Mehrheit in Straßburg sorgen. 

Klimaneutral glänzen 

Der Emissionshandel als das zentrale Instrument, mit dem die EU ihre Klimaziele bis 2050 erreichen will, um als erster klimaneutraler Kontinent zu glänzen, soll eigentlich zum 1. Januar 2027 starten. Doch jetzt schon regt sich Widerstand. Tschechien will einen Aufschub um ein Jahr, Polen um drei Jahre, die Slowakei fordert Ausgleichsmaßnahmen, um soziale Verwerfungen zu verhindern, und Estland hat erklärt, es müsse einen zeitlich nicht befristeten Aufschub geben. Doch nach derzeitiger Rechtslage wäre nur eine Verzögerung um ein Jahr möglich. Und das auch nur, wenn die Preise für Öl und Gas durch die neue Steuer "unverhältnismäßig stark" ansteigen.

Für die EU ist das keine einfache Situation, aber glücklicherweise eine durchaus bekannte. Noch immer hat sich Europa handlungsfähig gezeigt, wenn die Folgen selbst getroffenen Entscheidung akut werden. Nach den Regeln für den sogenannten ETS II müsste der Preis für Erdgas in den ersten sechs Monaten des Jahres 2026 höher als der durchschnittliche Gaspreis im Februar und März 2022 liegen und der Preis für Erdöl wenigstens doppelt so hoch wie im Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre. Passiert nichts grundlegend Katastrophales, ist dass kaum vorstellbar: Durch den russischen Angriffskrieg lag der Gaspreis im Berechnungszeitraum zum Teil bei über 20 Cent pro Kilowattstunde, der für Öl bei 60 bis 90 Dollar. 

Es wird eine Katastrophe gebraucht 

Von der Preisfront auf dem Weltmarkt ist Unterstützung für eine Verschiebung also kaum zu erwarten. Und wenn, wäre das Problem noch größer: Stiege der Gaspreis ohne ETS II wieder 20 Cent und der Preis für Öl auf 120 oder 150 Euro, wäre der CO₂-Preis das geringste Problem einer EU, die von Energieimporten abhängig ist. 

Es braucht andere Gründe, um aus der selbstgemachten Falle zu entkommen und den Start des CO2-Preishandels in die Zukunft zu vertagen. Oder neue Argumente, warum eine Einführung niemandem schaden wird. Die alte, in Deutschland inzwischen beerdigte Idee eines "Klimageldes" soll es richten und verhindern, dass "der CO₂-Preis durch schlechte Kommunikation scheitern" könnte, wie der Wissenschaftliche Deinst der EU vorgeschlagen hat. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Kohlendioxidrechten sollen dazu in einen "Klimasozialfonds" fließen und anschließend "zur Abfederung steigender Energiepreise" werden. 


Samstag, 31. Mai 2025

Zitate zur Zeit: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Wirksamkeit bewegt auch heute noch viele junge Menschen dazu, sich einer Bewegung anzuschließen.

Es besteht die Gefahr, dass die moderne Massengesellschaft den Einzelnen emotional aushungert. In den sorgfältigen Abwägungen des bürokratischen Staates ist oft kein Raum für ein emotionales Bekenntnis.

Wenn jedoch alle regulären Wege, sich einzubringen, verschlossen sind, kann sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit auf elementare Weise Bahn brechen. 
 
Nicht zufällig zog die Nazi-Partei anfangs insbesondere Studenten an, genau jene Gruppe, deren Bedürfnis nach Erfüllung die moderne Gesellschaft kaum noch befriedigen konnte. 
 
Henry Kissinger 


Freispruch vom Parteigericht: Olaf war's nicht

Olaf Scholz hat weder etwas gewusst noch etwas gesagt. Wie seine SPD-Genossen Hans Eichel und Peer Steinbrück konnte er durch Nichtwissen beweisen, dass Cum-Ex-Geschäfte nie seine Sache waren.

Die Gerüchte wollten nicht verstummen. Die Kritiker gaben keine Ruhe. Nicht einmal nach dem Ausscheiden von Olaf Scholz aus dem Amt des Bundeskanzlers gaben dessen Gegner ihre hartnäckigen Versuche auf, das Andenken des vierten sozialdemokratischen Kanzlers zu beschädigen. Natürlich richten sich solche Nachstellungen immer gegen die gesamte Partei. Und mit ihr gegen den fortschrittlichen Flügel innerhalb der demokratischen Mitte.

Scholz wird vieles vorgeworfen. Der Ex-Kanzler sei wankelmütig aufgetreten, er habe gezögert, Deutschland entschlossen an der Seite der Ukraine zu platzieren, ausreichend Waffen für eine Befreiung der Ostgebiete durch die ukrainische Armee zu liefern und die Amerikaner im Boot zu halten.  

Verwickelt in dunkle Geschäfte

Innenpolitisch habe er das Land weiter gespalten, die AfD noch erfolgreicher gemacht und zugelassen, dass ein studierter Philosoph als Wirtschaftsminister die industrielle Basis ruiniert. Der schlimmste Vorwurf aber ist der, dass der Sozialdemokrat als Regierender Bürgermeister von Hamburg in  düstere Geschäfte verwickelt gewesen sein: Scholz habe der Warburg-Bank geholfen, sogenannte Cum-Ex-Geschäfte zu vertuschen. Den Steuerzahler soll das Millionen gekostet haben.

Scholz hat sich immer auf seine eigene Art gegen die Behauptungen gewehrt. Er erinnere sich nicht, erinnere sich nicht genau und er habe keine Erinnerungen an Termine, Gesprächsinhalte und Absprachen. Der studierte Jurist weiß: Bis zum Beweis des Gegenteils reichen die Selbstschutzbunker, um sicher vor jeder Gefahr zu sein. Scholz gelangt es wirklich, bis zum letzten Tag im Amt unbehelligt von Staatsanwälten zu bleiben. 

Abgang einer Schlüsselfigur

Scholz' Genosse Johannes Kahrs, eine der Schlüsselfiguren der Affäre, zog sich zurück. Dem früheren Hamburger Bundestagsabgeordneten, bekannt für sein sektenartiges System an Anhängigkeiten, mit dem er in der Hamburger SPD ein mächtiger Mann geworden war, hatte sich eigentlich ausgerechnet, dank seines Wissen weiterhin steil aufzusteigen in der Partei. Doch statt Wehrbeauftragter werden zu dürfen, wurde er aussortiert. Kahrs wurde mit Hausdurchsuchungen und Strafverfahren überzogen, ihm wurde Bargeld wegbeschlagnahmt und Zeitungen und Magazine wurden mit Details für große Schlagzeilen gefüttert. 

Anschließend war der ehrgeizige und stets medienpräsente Sozialdemokrat mit seinen Kenntnissen keine Bedrohung mehr. Im Dezember 2024 wurde das Verfahren gegen den inzwischen ins Privatleben geflüchteten Ex-Politiker "mangels hinreichenden Tatverdachts" eingestellt.

Drohung über dem Kanzler

Olaf Scholz stand da auch schon vor dem Abschied, nur er selbst wusste es noch nicht. Immer noch schwebte über dem Kanzler die Drohung, dass ihm nach dem Ausscheiden aus dem Amt neu nachgestellt wird. Eine frühere Staatsanwältin, aus naheliegenden Gründen längst aussortiert, gibt keine Ruhe. Medien reiten das tote Pferd, als gebe es keine anderen Themen.  

Umso wichtiger war es, dass seine Partei solidarisch blieb: In einem abschließenden Gutachten hat die Hamburger SPD ihrem Kanzler einen Persilschein ausgestellt. Alles wieder gut. 17 Jahre nach den ersten Schlagzeilen über die Praxis der gezielten Ausnutzung eines Steuerschlupfloches, das die Wochenzeitschrift "Die Zeit" im Jahr 1992 als schönen Trick zur "alternative n Altersvorsorge"  empfohlen hatte, sind die letzten Fragen geklärt.  

Drei Finanzminister schauten zu

Dass die Finanzminister Hans Eichel, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble die Ausnutzung der bekannten Regelungslücke als legalen Steuertrick über fast 20 Jahre duldeten, sei nie nur unmoralisch und unanständig gewesen, sondern immer schon eine Straftat. Auch wenn kein Gesetz es verbot, eine Aktie rund um den Tag der Dividendenzahlung zu kaufen, um Kapitalertragssteuern erstattet zu bekommen, die man niemals gezahlt hatte, sei das keine  smarte Gestaltungsmöglichkeiten gewesen. Sondern Steuerbetrug. 

An dem waren nach der Lesart der Hamburger Sozialdemokratie Unzählige beteiligt. Nicht aber Olaf Scholz. Der habe getan, was er konnte, aber nichts Falsches. Dadurch sei auch niemandem ein Schaden entstanden, denn die "Warburg-Bank hat alle Cum-Ex-Gelder plus Zinsen in Millionenhöhe zurückgezahlt". Wegen der inzwischen angefallenen Hinterziehungszinsen in Höhe von gut 85 Millionen Euro habe Hamburg sogar ein erhebliches Plus in der Staatskasse zu verzeichnen. Wenn das nicht die Handschrift des Olaf Scholz ist, der auch als Bundesfinanzminister stets ein einfallsreicher Sachwalter der Interessen des Staates war.

Mit sauberen Händen

Und das mit sauberen Händen, wie seine Hamburger Genossen nun nachgewiesen haben. Der Freispruch vom Parteigericht beendet eine Kampagne gegen Scholz, die anfangs mit der Behauptung losgetretenw orden war, dass die Cum-Cum-Deals den Steuerzahler geschätzte 28 Milliarden Euro gekostet hätten. Spätere Schätzungen kamen auf Summen von 50 bis 80 Milliarden, der hart arbeitenden und ehrliche steuerzahlenden Mitte entwendet unter den Augen von Eichel, Steinbrück und Schäuble. 

Zehn Jahre lang weigerten sich alle Bundesfinanzminister, irgendetwas zu unternehmen, damit findige Anleger nicht mehr durch das sperrangelweit offenstehende Tor zur Dividendensteuerrrückerstattung trampeln konnten. Ebenso lange fanden die Amtsblätter nichts dabei, dem jahrzehntelangen Regierungsversagen stillschweigend zuzuschauen.

"Steuerdiebstahl in gigantischem Ausmaß"


Erst seitdem der "Steuerdiebstahl in gigantischem Ausmaß" (SZ) sich als wunderbares Thema herausstellte, auflagenfördernd Wut auf "Superreiche", "Banken", "Manager" und "Spekulanten" zu schüren, geht es regelmäßig um "spitzfindige Juristen, blitzschnelle Aktienhändler, skrupellose Banker" (SZ), die "jahrelang zusammengewirkt haben, um superreiche Geldgeber noch reicher zu machen". 

Die Blicke richteten sich dann aber immer noch nicht auf die Bundespolitiker, die das System mit einem Federstrich hätten zerstören können. Sondern auf den Regionalpolitiker Scholz, der es in seiner Hamburger Zeit mit der aus heutiger Sicht lächerlichen Summe von 161 Millionen Euro hinterzogener Steuern zu tun bekam.

Kleckerbeträge in der Provinz

161 Millionen, das war vor ein paar Jahren noch viel Geld. Doch gemessen am Gesamtvolumen der Cum-ex-Geschäfte fiel die Summe schon damals kaum ins Gewicht. Wenn sich also nach drei Jahren Aufklärungsarbeit herausstellt, dass es in Hamburg "keine Einflussnahme durch die Politik auf Steuerentscheidungen gegeben hat", dann hat Olaf Scholz Warburg-Chef Christian Olearius niemals telefonisch geraten, seine Argumentation für eine Rücksichtnahme auf die finanzielle Lage seines Bankhauses nicht ans Finanzamt, sondern direkt an Finanzsenator Peter Tschentscher – heute Scholz‘ Nachfolger als Erster Bürgermeister – zu schicken. 

Olearius - das ist nach der Befragung von über 50 Zeugen aus unterschiedlichen Abteilungen, Ämtern und Behörden klar - konnte dem Rat mithin gar nicht folgen und die Hamburger Finanzverwaltung ihre Meinung nicht ändern.

Kein einziger Zeuge

Sie tat es dennoch. Einfach so, denn wie es der Zufall will, konnte sich "keine einzige Zeugin und kein einziger Zeuge" an Versuche der Einflussnahme auf sich oder andere erinnert, keiner hatte sie erlebt oder davon auch nur gehört. Olaf Scholz war also niemals der Pate des Hamburger Bankwesens, der aus Angst davor, dass ein wichtiges Geldhaus in seinem Beritt zusammenbrechen könnte, nach Möglichkeiten suchte, am Rande der rechtlichen Grauzone allen Anforderungen gerecht zu werden. 

Scholz habe sich vor der Entscheidung der Finanzverwaltung, die Steuern zunächst nicht zurückzufordern, zwar zweimal mit den Inhabern der Warburg-Bank getroffen und einmal mit Olearius telefoniert. Doch obwohl er sich an die Einzelheiten der Gespräche nicht erinnere, sei klar: Scholz habe weder Zusagen gemacht noch überhaupt Einschätzungen abzugeben, sondern nur zugehört und - im Grunde genommen - geschwiegen.

Mit sauberen Händen

Die Hände des Mannes, der sich gerade unfreiwillig aus der ersten Reihe der Politik zurückgezogen hat, sind sauber geblieben. Scholz hat nichts getan, er war an nichts beteiligt, ihm ist überhaupt nichts vorzuwerfen. Wie Eichel, Steinbrück und Schäuble, die über Jahre geduldig beim "Steuerraub" (Spiegel) zugeschaut hatten, ohne dass später jemals jemand fragte, warum eigentlich, ist auch Olaf Scholz ein Finanzpolitiker geblieben, dessen politischen Tugend außer Frage steht. Er hat richtig entschieden, indem er an keiner Entscheidung beteiligt war und nirgendwo Einfluss nahm. Auch sein Nachfolger Peter Tschentscher hat damaliger Finanzsenator nicht an der Behandlung von Steuerfällen mitgewirkt, sondern sich "in besonders bedeutenden Einzelfällen" nur "über den Stand des Verfahrens informieren lassen".

Dass Landesbanken, beaufsichtigt von Landespolitikern, in der ersten Reihe der Cum-ex-Profiteure standen, tut nichts zur Sache. Nicht nur im Süden, wo die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) den Staat nach Kräften um Steuern prellte. Nicht im Norden, wo die HSH Nordbank am großen Betrugsrad drehte.  Wie immer, wenn staatliche Akteure und private Profiteure zusammenarbeiten, stehen die einen am Ende als Saubermänner da.

Schuld sind die anderen


Die anderen aber haben die Schuld zu schultern und damit zu signalisieren, dass auch beim nächsten niemand mitbekommen werde, wenn die Politik ein paar Augen zudrücke und einige Regeln so auslegen, dass die BayernLB in Auslandsniederlassungen in New York und London über 500 Mitarbeiter zum Wohle ihrer staatlichen Eigentümer beschäftigten können, die Sachsen LB in Irland am großen Rad dreht, die Bayern LB mit der Hypo Alpe Adria (67 Prozent) und der MKB Bank nach Österreich und Ungarn expandiert und die LBBW mit der LBBW Securities LLC sogar insSteuerparadies Delaware, USA.

Scholz hatte mit alldem nichts zu tun, die  ruchlosen Machenschaften, die den deutschen Fiskus um Milliarden erleichterten, spielten sich auch in seiner Stadt ab. Doch wie alle Finanzminister und Ministerpräsidenten aller Parteien wusste er lange von nichts. Und später konnte er sich nicht mehr erinnern: Dass die Existenz der Warburg-Bank auf dem Spiel stand? Dass eine neue Finanzkrise hätte ausbrechen können, zumindest in Hamburg? Dass die jahrelange stillschweigende Verwicklung zahlreicher Politiker in den "größten Steuerraub der Geschichte" (Spiegel, SZ) öffentlich werden könnte? 

Keine Belohnung für Verschonung

Niemals hätte das einer wie Scholz vergessen. Wenn er es also nicht mehr weiß, dann hat er es zweifellos nie gewusst. Der "teulische Plan", von dem die Beamtin P. als Zeugin im Untersuchungsausschuss sprach, war einer, den sich sich alleein ausgedacht hatte. So groß waren die Millionensummen seinerzeit ja nicht, um die es ging, als dass es eines Eingreifens bedeutsamer Politiker bedurft hätte. 

So wie sich Eichel und Steinbrück als Sachwalter der Interessen von Arbeitern und Angestellten stets stabil in ihrer Haltung zeigten, Cum-Ex-Praktiken stillschweigend zu dulden, bezeugte Olaf Scholz seinen Wählerinnen und Wählern Respekt, indem er versicherte, dass die 45.500 Euro, die Warburg der SPD gespendet hatte, keine Bezahlung für die verhinderte Steuernachzahlung in Höhe von 161 Millionen gewesen seien. 

Ein Zufall mehr, der im Rückblick unglücklich wirkt. Aber nichts hat mit nichts zu tun, eine politische Verantwortung lässt sich nirgendwo feststellen. Wie seine SPD-Genossen Hans Eichel und Peer Steinbrück konnte auc Olaf Scholz am Ende eines langen Weges durch Nichtwissen beweisen, dass Cum-Ex-Geschäfte nie seine Sache waren.

Freitag, 30. Mai 2025

Jagdszenen in Mediendeutschland: Jette und der Mob

Die personifizierte Mischung aus Selbstverliebtheit und Selbstbewusstsein: Jette Nietzard.

Natürlich hatte sie es darauf angelegt. Es gehört zum politischen Wirkkonzept der Jette Nietzard, die dröge, gedankenfaule Mehrheitsgesellschaft zu provozieren, ihr den Spiegel vorzuhalten oder auch den "Stern". Seit die 25-Jährige sich an die Spitze der grünen Nachwuchsbewegung hat wählen lassen, ist wieder Betrieb in der Provokationsfabrik. Binnen weniger Monate hat die kapitalismuskritische Rheinländerin ihre Vorstandsvorgänger*innen vergessen lassen.  

Für eine "klassenorientierte Politik"

Wo die mit plumper Kommunismuspropaganda den Kampf für eine "klassenorientierte Politik" hatte führen wollen, setzt Nietzard als Gesicht des neuen zweiköpfigen Jugendvorstandes - neben ihr agiert der unauffällige Jakob Blase - ganz auf Personality. Geschult am Vorbild von erfolgreiche  Medienmarken wie Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Carla Reemtsma, etablierte sich die studierte Erzieherin in kürzester Zeit als neues Aufregungsangebot. 

Nietzard trat als "freie Radikale" (Stern) auf, sie forderte Orgasmen und Sondervermögen zu Lasten der Jüngeren, sie fantasierte öffentlich über vermeintliche Teilverbote der Nationalhymne und sie wünschte böllernden  Männern, dass ihnen die Hände abfallen mögen. "Dann können zumindest keine Frauen mehr schlagen."

Ein kluger Kopf mit Karriereplan

Hinter der großen, klugen Brille, die die Mittzwanzigerin in Kombination mit einer Art Räuberzivil aus Adidashosen, Schlabberpullovern und Sportschuhen oft wie zehn Jahre ältere Frau aussehen lässt, die sich bemüht, jung auszusehen, steckt ein kluger Kopf mit einem großen Karriereplan. Nietzard weiß, dass sich nur Bekanntheit in Macht übersetzen lässt. Wer die Follower hat, der hat nicht nur Fame, er kann auch Ansprüche anmelden. 

Timon Dzienus, nur drei Jahre älter und Nietzards Vor-Vorgänger in der Chefetage der grünen Kaderschmiede, hat es vorgemacht: Der kindlich wirkende und kindlich auftretende Junge aus Norddeutschland sitzt heute sicher und warm im Bundestag, genauso wie Ricarda Lang und Felix Banaszak, noch etwas älter, aber auf derselben Karriereleiter aufgestiegen.

Unglaublich begeisterte Kämpferin  

Nietzard bekam viel Zuspruch für ihre Provokationen, die Selbstverliebtheit, Selbstbewusstsein und eine umfassende Unkenntnis der Geschichte so geschickt kombinierten, dass immer neue Empörungswellen schwappten, wo die feministische Flüchtlingsrechtlerin sich im Kampf mit den Verhältnissen zeigte. 

Dass die "unglaublich begeisterte Kämpferin für soziale Gerechtigkeit", wie Dzienus seine Nachfolgerin genannt hat, eines Tages zu weit gehen könnte, damit war nie zu rechnen - bis es geschah: Ausgerechnet ein eher lauer und mauer Auftritt mit einem AliExpress-Käppchen und einem auf "ACAB" gefälschten  Adidas-Pullover sorgte dafür, dass Jette Nietzard sich unversehens einer wahren Hetzjagd ausgesetzt sah.

Auf einmal ein Geschäftsmodell 

Auf einmal verhöhnten eigentlich solidarische Medienhäuser sie als "Krawallgurke", ihre Geschäftsmodell wurde abfällig als "Geschäftsmodell Provokation" geschmäht und ihre Auftritte als "Show" gegeißelt. Nietzard konnte schlagartig auch nicht mehr auf Solidarität der Parteialtvorderen rechnen. Als sei die Nietzard-Methode jetzt erst aufgefallen, galt die Aktivistin nur noch als unglaublich begeisterte Kämpferin für sich selbst, schädlich für die Partei, die sie nach Meinung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretzschmann möglichst schnell verlassen solle.

"Wir sind nicht die richtige Adresse für die Art von Gesinnung, die ihr habt", kachelte der 77-Jährige. Grünen-Chef Felix Banaszak nannte Nietzards Beurteilung der Polizei "inakzeptabel", Cem Özdemir, der Kretschmann als baden-württembergischer Ministerpräsident nachfolgen will, schimpfte, bei den Grünen sei falsch, wer nicht kapiere, "dass die Polizei auch Grünen-Werte verteidige".

Jette Nietzard, die so lange dafür gefeiert worden, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen und Gräben aufzureißen,  steht auf einmal fast ganz allein in einem Mediensturm, der ihren Fall aufwändiger abhandelte als Israel, Rezession und Friedrich Merz. Ungerecht, aber erhellend: Der gesamtgesellschaftliche Rechtsruck hat die Linke erfasst, die Grünen wenden sich aus Angst vor einem schlechten Wahlergebnis in Baden-Württemberg von den eigenen Leuten ab.

Tod des Klimageldes: Vater Staat braucht es nötiger

Der Kreislauf des Klimageldes: Beim Bürger eingesammelt, verschwindet die CO2-Steuer seitdem in staatlich organisierten  Fördermaßnahmen für dies und das.

Beinahe wäre es noch dazu gekommen. Drei Jahre hatte sich die Ampelregierung Zeit genommen, die Auszahlung des Klimageldes auf die Schiene zu bringen. Kurz vor Schluss waren dann alle Schwierigkeiten überwunden: Die Geldprobleme durch das vom Verfassungsgericht erzwungene Ende des Klimavermögens aus Merkel-Zeiten. Die Erkenntnis, dass Deutschland Finanz- und Bürgergeldämter keine Kontonummern ihrer Schützlinge besitzen. Und der Streit der Koalitionspartner darüber, wie viel eigentlich jeder bekommen sollte. Alles? Ein bisschen? Oder die symbolische Kugel Eis?

Kein Schaden fürs Klima

Als die Kontonummern da waren, war der Finanzminister weg. Im Wahlkampf spielte die Prämie für alle, die ihr Verhalten daran ausrichten, dem Klima keinen Schaden zuzufügen, dann kein Thema mehr: Weder Grüne noch SPD, FDP, AfD, die Union oder die Linke hatte das Schmankerl noch im Angebot. Nur Friedrich Merz holte es noch einmal aus der Kiste und erhöhte das bisherige Angebot von ein paar hundert auf ein paar tausend Euro im Jahr

Das half ihm womöglich, die Wahl zu gewinnen. Wegen der neuen Weltlage nach dem Angriff des US-Präsidenten auf seine ukrainischen Amtskollegen aber korrigierte sich Merz im Zuge der Neuordnung seiner Auslagen auch in diesem Punkt: Das Klimageld stehe "derzeit nicht auf der Tagesordnung". Die SPD schloss sich im Verlauf der Koalitionsverhandlungen an. 

Sozialer Klimaschutz sei wichtig, weil der geplante steigende CO2 -Preis mit einer sozialen Flankierung einhergehen müsse, "die sowohl zielgerichtete Förderinstrumente als auch ein Klimageld enthält". Jetzt aber sei nicht die Zeit, mit einem solchen Instrument klimafreundliche Entscheidungen auch finanziell attraktiver zu machen als klimaschädliche.

Kassen klamm wie immer

Die Kassen, im vergangenen Jahr mit Einnahmen aus dem europäischen und dem nationalen Emissionshandel in Höhe von rund 18,5 Milliarden Euro aufgepolstert, sind klamm wie immer, Spielräume kann es nicht geben, denn niemand spart in die Krise hinein und keine Regierung kann es sich leisten, der Bevölkerung Geld zurückzuerstatten, das sie selbst schon längst nicht mehr hat. 

Russlands Angriff auf die Ukraine ist eine Bedrohung, der Klimawandel eine andere, die Attacken Donald Trumps auf die europäischen Partner verengen Spielräume weiter. Jetzt geht es darum, sanierungsbedürftige Brücken für künftige Truppenbewegungen fit zu machen, den Klimawandel zu bremsen und ein großes Wohnungsbauprogramm aufzulegen. Aufgaben, auf die sich die Union in den kurzen drei Jahren in der Opposition nicht komplett vorbereiten konnte, auch wenn der dringende Handlungsbedarf in diesen Punkten hier und da aufschimmerte. 

Keine Priorität mehr

Jetzt erst besteht die Möglichkeit, in großen Arbeitsgruppen und Beratungsgremien zu schauen, was zuerst gemacht werden muss, was folgen sollte und was warten kann. Pech für die Bürgerinnen und Bürger: Das Klimageld hat - vier Jahre vor der nächsten Bundestagswahl - keine Priorität mehr. Vater Staat braucht die Milliarden selbst dringender, er ist es auch, der sich nutzbringender für alle ausgeben wird können. 

Nur Lisa Badum von den Grünen entdeckte just in dem Augenblick, in dem ihre Partei die Auszahlung nicht mehr weiter verschieben kann, dass da immer noch etwas fehlt. "Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sind dafür gedacht, dass sie für die Bürgerinnen & Bürger und für den Klimaschutz verwendet werden", insistierte sie. Ihre Partei werde "ein Tricksen & Täuschen von CDU/CSU & SPD hierin nicht akzeptieren". Lange genug sind die selbst damit durchgekommen, so lange, dass Robert Habeck  die Milliarden für dies und das ausgeben konnte.

Dabei bleibt es nun dauerhaft. Neben den vielen Sondervermögen -  um die 30 solcher Schattenhaushalte hält sich die Bundesregierung derzeit - ist der Topf mit den Einnahmen aus der CO2-Steuer ein Pfeiler im Fundament der öffentlichen Finanzplanung. Und obwohl die Anhäufung von neuen Schulden seit dem Abschiedsgeschenk des alten Bundestages kaum noch Grenzen - gerade der Union als einer Partei, die Seriosität und Verlässlichkeit wie eine Fahne vor sich herträgt, ist es wichtig, am äußeren Schein festzuhalten, dass nur das Geld ausgegeben wird, das der Haushalt hergibt.

Nicht mehr so beliebt

Dass die Akzeptanz des Klimaschutzes ohne die so oft und leidenschaftlich geforderte und versprochene Kompensation leiden wird, ficht weder Friedrich Merz noch dessen Vizekanzler Lars Klingbeil an. Im Unterschied etwa zu Robert Habeck, dessen Partei mit der Popularisierung der sogenannten Klimaziele  einen märchenhaften Aufschwung erlebte, war beiden das Klima nie Herzenssache, sondern immer nur politische Verwaltungsmasse. Seit das Thema in der öffentlichen Beliebtheit nach unten durchgereicht wurde, besteht keine akute Notwendigkeit mehr, die Milliarden zum Fenster hinauszuwerfen, nur um ein altes Versprechen aller demokratischen Parteien einzulösen.

Statt 200, 500 oder 1.000 Euro direkt an die zurückzuzahlen, denen das Geld durch Heizen, Fahren, Wohnen und Essen abhandengekommen ist, hat es Merz vorgezogen, mit der lange aufrechterhaltenen Zusage kurzen Prozess zu machen. Lieber einmal ganz am Anfang alle vor den Kopf stoßen und dann freie Hand haben, als sich wie die Ampel in eine Situation begeben, in der immer wieder von irgendwem gequengelt wird, wann es denn endlich so weit sei und die Auszahlung beginne. 

Staat als besserer Investor

Der Staat kann es besser, da ist sich die unionsgeführte SPD-Regierung sicher. Statt neue bürokratische Hürden aufzubauen, um auszuschließen, dass die besonders klimaschädlich lebenden wohlhabenden Schichte in den Genuss von Rückzahlungen kommen, setzt Schwarz-Rot darauf, dass durch die Co2-Steuer alles durch noch schneller noch teurer wird, so dass mit noch mehr Geld noch mehr bedeutsame Klimainvestitionen gestemmt werden können. 

Nie war das so wichtig wie heute, wo klar ist, dass bisher enge Partnerstaaten mehr und mehr vom deutschen Sonderweg abweichen. Die EU-Kommission setzt auf Mini-Reaktoren, Nachbarstaaten wie Belgien und Dänemark liebäugeln mit alten und neuen Kernkraftwerken, die Vereinigten Staaten lassen es zu, dass multinationale Großkonzerne Schrott- und Pannenmeiler reanimieren und auf provokativen "Anschalt-Konferenzen" begehrliche Blicke auf den noch betriebswarmen deutschen KKW-Bestand werfen.

Viel Gutes bewirken

Eine einheitliche Position dazu hat die Bundesregierung noch nicht, beim Klimageld aber steht die demokratische Mitte beinahe geschlossen. Trotz der "offensichtlichen Neigung, allen zu geben, was sie wollen" (Südwest-Presse), starb das Klimageld einen stillen Tod, von kaum jemandem auch außerhalb des politischen Berlin betrauert. Läuft alles nach Plan, ist die Idee für immer tot - allein bis zum Ende des gegenwärtigen Klimaplanzielraumes im Jahr 2030 spielt das mindestens 100 Milliarden in die Staatskassen, vielleicht aber auch 200 oder 300.

Geld, mit dem sich viel Gutes wird bewirken lassen.