Mittwoch, 23. Juli 2025

Steuereinnahmen steigen: Stimmungsumschwung im Finanzamt

Steuerrekord Finanzminister
Die Steuereinnahmen sind fantastisch hoch, der Staat ist pleite.

Da ist er nun wirklich, der große Stimmungsumschwung. Bund und Länder haben im ersten halben Jahr 2025 fast 450 Milliarden Euro Steuern eingenommen – ein Plus von acht Prozent, und das bei schrumpfender Wirtschaftsleistung. Nicht einmal die trickreichsten US-Großkonzerne kommen auch nur die Nähe einer solchen Summe. Das Plus, das Unternehmen wie Google und Apple einfahren, bewegt sich bei etwa zehn Prozent. Hochgehandelte Firmen wie Amazon, Nvidia und Meta kommen nicht einmal in die Nähe dessen, was der deutsche Fiskus kassiert.

Der Einnahmeweltmeister 

Von wegen, der Staat ist ein schlechter Unternehmer. Seit Jahren schon zeigt Deutschland, dass das Vorurteil durch nichts begründet ist. Obwohl Deutschland schon seit 2020 in eine tiefe wirtschaftliche Agonie gefallen ist, steigen nicht nur die Ausgaben, die diesen komatösen Zustand beenden sollen. Sondern gleichzeitig auch die Einnahmen, die sich verpfänden lassen, um ausreichend Geld für neue Beamte, staatliche Angestellte und - künftig - auch eine Vielzahl von Soldaten zu deren Schutz zu mobilisieren.

Die erste Zwischenbilanz von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil kann sich sehen lassen. Zwar erntet der Neuling im Amt, was er nicht gesät hat. Klingbeil, der ohne jede Berufserfahrung Deutschlands höchster Kassenwart wurde, profitiert von der Arbeit seines Vorgängers, dem sozialdemokratischen Kurzeitfinanzminister Jörg Kukies, der die Staatsfinanzen nach dem Rauswurf von Vorgänger Christian Lindner in Windereile ins Lot brachte. Doch wichtig ist: Er profitiert. 

100 Milliarden mehr 

Es ist genug für alle da, auch wenn das Geld hinten und vorn nicht reicht. Allein im Juni nahmen Bund und Länder fast 100 Milliarden Euro an Steuern ein. Das entspricht dem Jahresgewinn von Google und liegt nur knapp unter dem von Apple. Obwohl die wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen kaum größer sein könnten - mit Trumps Zolldrohungen, dem Koalitionsstreit um die durchgefallene Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf und Russland Weigerung, den Krieg in der Ukraine zu beenden - wurden damit deutlich mehr Steuern eingenommen als im selben Zeitraum des Vorjahres, als allein die sogenannte Syltkrise den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohte.

Es zeigen sich hier die Erfolge einer langfristigen Weichenstellung. Dass die Gewinne des Bundesfinanzministeriums um 8,1 Prozent auf 447,6 Milliarden Euro förmlich explodieren, kommt ja nicht von ungefähr. Schon Peer Steinbrück, auch er ein Sozialdemokrat wie Klingbeil, hatte den Staat fit für die große Aufgabe gemacht, noch tiefer in die Taschen der Bürger zu greifen. Mit einem "konjunkturstützenden Haushalt" (Steinbrück) zündete der SPD-Mann den Wachstumsturbo. 20 Jahre später werden die Maastricht-Kriterien immer noch gerissen und das Wachstum ist im Minusbereich. Aber als schlimm empfunden wird das kaum mehr, bei den Parteien sowieso, bei den Bürgerinnen und Bürgern nur wenig und nicht einmal in Brüssel.

Steinbrücks Vorarbeit 

Der Grund liegt auf der Hand. Für den Staat hat sich der konsequente Kurs auf die Optimierung der eigenen Einnahmen gelohnt. Bescheidene 452 Milliarden Euro Steuern kassierte der Bundesfinanzminister 2006 unter Peer Steinbrück. Auf die doppelte Summe darf Lars Klingbeil in seinem  ersten Jahr als Finanzminister rechnen - auch wegen Steinbrücks Vorarbeit. Der mehr als 30 Jahre ältere Hamburger Genosse war es, der die Abgeltungssteuer erhöhte, die es Geringverdienern zwar noch schwerer macht, fürs Alter vorzusorgen. Die dem Staat aber ein sattes Plus von 47,6 Prozent bescherte. Noch stärker stiegen die Einnahmen nur bei der Erbschaftsteuer, die um 87 Prozent stieg.

Das Geld fehlt anderswo, aber nicht denselben Leuten. Seit Jahren schon steigen nicht nur die Steuereinnahmen, sondern auch die Sozialversicherung sprunghaft an. Die Reaktion darauf ist standardisiert: Der Finanzminister dringt darauf, die Steuereinnahmen zu erhöhen, indem er eine neue Steuer oder Abgabe mit fantasiereichem Namen und angekündigter segensreicher Wirkung erfindet. 

Denen, die fordern, doch zur Abwechslung wenigstens mal eine einzige Ausgabe einzusparen, drohte Lars Klingbeil eben erst mit den "Leuten mit der Kettensäge": Wer vom Zurückzuschneiden, der wolle den Sozialstaat nicht "stark und zugleich finanzierbar" halten.

Außer Kontrolle 

Längst ist ihnen alles aus den Händen gefallen und außer Kontrolle geraten. An der Rentenversicherung ist es am besten zu sehen. Das System, das sich anfangs selbst trug und sich allen Planungen zufolge für immer selbst hatte tragen sollen, ist durch politische Taschenspieler, die mit Sprüchen vom "stark und finanzierbar zugleich" durch die Lande zogen, vor die Wand gefahren worden. 

Noch hat es nicht geknallt, aber der Rentenzuschuss ist heute schon der größte Ausgabeposten im Bundeshaushalt. Nicht viel anders sieht es bei Pflege- und Krankenversicherung aus. Und alles, was ihnen einfällt, ist die Erfindung der nächsten Pflichtabgabe. Diesmal soll "privat" vorgesorgt werden.  Als würde nicht jeder Einzahler genau das für sich tun, privat vorsorgen.

Nichts mehr zu retten 

Alle wissen, dass nichts mehr zu retten ist. Vielleicht wird die aktuelle Rentnergeneration noch das Glück haben, dass das Insolvenzverfahren sich noch fünf, zehn oder 15 Jahre hinauszögern lässt. Vielleicht gelingt es mit einem Trick auch noch einmal, den Einzahlern klarzumachen, dass alle weniger bekommen müssen, damit überhaupt noch jemand etwas bekommen kann. Doch der gelenkige politische Opportunismus der Parteiarbeiter verzögert das Ende allenfalls, er wird es nicht verhindern. 

Trotz der höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten kann der Staat überhaupt nur noch wirtschaften, weil er sich die höchsten Schulden aller Zeiten gönnt. Selbst die Standardanwendungen des Staates - innere und äußere Sicherheit, Infrastruktur, Soziales - können inzwischen nur noch mit Hilfe sogenannter Sondervermögen betrieben werden. 

Der Rest Staatskunst 

Der ganze Rest Staatskunst besteht darin, den Leuten etwas vorzumachen und ihnen aller paar Tage einen Wumms, Doppelwumms, ein Wirtschaftswunder oder einen kommenden Investitionsboom vorzuturnen. Der Staat selbst benötigt gar kein Wachstum mehr. Er hat sich emanzipiert von der unangenehmen Wirklichkeit, in der jene schwäbische Hausfrau lebt, die Angela Merkel als leuchtendes Vorbild galt, so lange staatliche Sparsamkeit noch nicht wieder als "makroökonomische Verrücktheit" (Jacob Funk Kirkegaard) begriffen wurde, die das Regieren nur schwerer macht.

Anhaltende Rezession 

Es wird nicht mehr besser werden, auch für den Finanzministerneuling Klingbeil nicht, der mit der soliden Erfahrung eines Zivildienstes in der Bahnhofsmission in Hannover und eines Studiums der Politikwissenschaft ins Amt kam. Durch die anhaltende Rezession (offiziell "Konjunkturschwäche") sinken die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer. Trumps Zölle stehen noch aus, auch die Frage, in welche tollen Zukunftsbranchen die Milliarden der "Made for Germany"-Offensive eigentlich fließen sollen.

Das Bundesfinanzministerium beugt unzulässiger Euphorie vor. "Konjunkturell waren zuletzt gemischte Signale zu verzeichnen", heißt es über eine Konjunktur, die es nicht gibt. Zudem erwarte man schon im  zweiten Jahresquartal eine "schwächere konjunkturelle Dynamik als zu Jahresbeginn". Der Stimmungsumschwung, den Friedrich Merz "bis zum Sommer" versprochen hatte, er hat vorerst nur die Finanzämter erreicht. Und dabei wird es bleiben.

Doku Deutschland: Der Jodler, der die ARD bezwang

Weidel Preiß Sommerinterview
Der Corner Chor sang Alice Weidel (l.) ein Lied des Protestes.


Es war ruhig geworden in Deutschland, noch ruhiger, als es für eine alternde Gesellschaft mit düsterer Zukunft normal ist. Sommerferien, Parlamentsurlaub, Stille an allen Fronten. Doch es ist nicht die Stille des Friedens, sondern die eines Landes, das sich in Resignation ergeben hat. Wo einst die Straßen unter dem Marschtritt von Millionen Gegen-Rechts- und Anti-Remigrationsdemos bebten, wo die mutigen "Omas gegen Rechts" und ihre Finanzierung tagelang das wichtigste Thema waren und Politiker genug Rückgrat hatten, eigene Medientermine abzusagen, wenn sie im Studio auf die Falschen zu treffen drohten, herrscht nun Schweigen.  

Trauriges Schweigen 

Ein bitteres, ein trauriges Schweigen im Land der Täter, die sich für einen Rechtsruck entschieden, als sie konservativen und rechtsextremistischen Parteien bei der Bundestagswahl zu einer satten Mehrheit verhalfen. Unter Kanzler Friedrich Merz und Vize-Kanzler Lars Klingbeil sind geschlossene Grenzen, Gaskraftwerke, Bezahlkarten für Geflüchtete und eine Aufrüstung wie zu Zeiten des Kalten Krieges Normalität geworden. Und angesichts dieser neuen, bedrückenden gesellschaftlichen Realität wagt  kaum mehr jemand, den Mund aufzumachen. 

Die großen Leitmedien haben ihre Segel einmal mehr in den Wind gedreht. Die Führer und Führerinnen der Refaschistisierung des Vaterlandes haben in allen Talkshows ihren festen Sitz. ARD und ZDF behandeln die AfD, als sei sie die größte Oppositionspartei im demokratisch gewählten Bundestag – ein gesichertes rechtsextremes Gewächs, das man mit höflicher Neugier gießt, statt es rabiat auszureißen. 

Die neue politische Kultur ist eine von Toleranz und Akzeptanz. Die Nazis sind als gleichwertige Grundrechtsträger anerkannt, so lange sie höflichen bleibt und ihre Sprache mäßigen, gelten sie als nicht weniger stubenrein und vorzeigbar als demokratische Politiker von Linkspartei, SPD, Union oder Grünen. 

Das Maß ist voll 

Das Maß ist nicht voll, es ist so maßvoll, dass niemand merkt, wie die Normalisierung voranschreitet. Die Regie ist professionell, etwa jetzt beim ARD-Sommerinterview, in dem das Erste versuchte, die AfD-Vorsitzende Alice Weidel als ganz normale Frau zu präsentieren. Weder Hitlerbart noch Triggerwarnung, kein Faktencheck im Laufband und kein Widerspruch gegen krude Thesen, mit denen  Weidel forderte, dass Versicherungsleistungen der Krankenkassen nur noch Beitragszahler erhalten sollen, Bürgergeld nur noch Bürger und Asylbewerber nur noch Sachleistungen.

Weidel hatte ihren Auftritt strategisch geplant, sie war gekommen, sich als Stimme der Vernunft zu zeigen, als jemand, der ausspricht, was viele denken. Ihre Lösungsvorschläge für die Probleme der Republik hätten noch vor einigen Monaten als Versuche gegolten, einen Umsturz auszurufen. Heute aber ist die ARD bereit, sie Sorgen zu verbuchen. Weidel spricht, sie lächelt, sie hetzt, ohne es zu tun. der ihr zugeteilte Moderator ist bereit, darauf einzugehen, als wäre der demokratische Konsens etwas, das man ausbalanciert, nicht entschlossen verteidigt.

Widerstand am 20. Juli 

Zum Glück aber gibt es noch Widerstand an diesem traditionsreichen 20. Juli laut, bunt und entschlossen wie seinerzeit an der Wolfsschanze. Während sich die ARD bemüht, die Illusion eines Gesprächs stattfinden zu lassen, macht sich im Hintergrund die Wirklichkeit bemerkbar. Unerklärliche Geräusche übertönen Weidels Hetze. Musik erklingt, dass der Boden bebt. Die Wahrheit meldet sich aus dem Off: ein Chor von Frauenstimmen, zunächst zart, dann mächtig, schwebt in harmonischer Terzenschwere, als wolle er die Alpen erzittern lassen. 

"Scheiß ARD, Scheiß ARD, Scheiß ARDehehe, Schei-eiß ARD!", singen sie – der "Scheiß-ARD-Jodler", ein Oratorium aus dem bayerischen Untergrund, geschaffen von Hans-Joachim "Jodler" Schmitz, einem musikalischen Querkopf aus Augsburg, der die Republik aus ihrer Lethargie reißen will.

Schmitz, ein Mann mit dem Habitus eines Dorfmusikanten und dem Geist eines dadaistischen Rebellen, hatte genug. Genug von einer ARD, die der AfD eine Bühne bietet, als wäre rechtsextreme Rhetorik eine zugelassene Geschmacksrichtung im politischen Eiscafé. Genug von einer Öffentlichkeit, die glaubt, Faschismus lasse sich ausdiskutieren, wenn man ihn nur höflich genug einlädt. "Wenn die ARD der AfD ein Mikrofon reicht, dann singen wir dem Sender ein Lied", hatte Schmitz den Seinen aus der Widerstandsgruppe von "Opas gegen rechts" in Karminatal bei Augsburg gesagt. Alle waren sofort dabei.

Kampf im Kellerstudio 

Im kleinen Kellerstudio feilte er dann an einem Gema-freien Chorgesang: Inspiriert vom alpenländischen "Andachtsjodler", der einst Bergbauernherzen höher schlagen ließ, schuf er ein Werk, das Hochkultur und politische Poesie, Machtkritik und das beständig wachsende Gefühl so vieler, vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht mehr repräsentiert zu werden, in einen harmonischen rahmen setzt. 

Die Melodie: leicht, feierlich, fast seraphisch, wie ein Chor von Engeln, der die Alpen herabsteigt. Der Text: ein Manifest, das die Heuchelei der ARD mit Skalpellpräzision seziert. "Scheiß ARD!" – drei Silben, die die Stille der Republik durchbrechen wie ein Donnerschlag. Der Sender selbst überträgt sie in die Wohnzimmer draußen. Der Chor singt so, dass selbst die aufgebufften Techniker der ARD keine Chance haben, die Signale aus den Ansteckmikrofonen von Weidel und Moderator Preiß nach vorn zu mischen.

Gesungene Unzufriedenheit 

Jeder kann es hören, jeder spürt die Unzufriedenheit. Der "Scheiß-ARD-Jodler" reiht sich ein in die Tradition großer Protestlieder, die Machtstrukturen bloßstellten. Wie "Das weiche Wasser bricht den Stein", mit dem die Bots gegen Unterdrückung ansangen, oder Ton Steine Scherben mit "Keine Macht für Niemand", das Marschlied für den Marsch durch die Institutionen, ist Schmitz’ Jodler ein akustischer Widerspruch gegen die Verhältnisse. Selbst Bob Dylans "Blowing in the Wind", das die Fragen einer Generation in den Wind schrieb, hallt in seiner provokanten Einfachheit nach: Da schwingt etwas im Wind, das nach dem "Wind of Change" der Scorpions klingt.

Doch wo Degenhardt mit Metaphern, die Scherben mit rohem, unverschnittenem Zorn und die Hannoveraner Popband mit der universellen Sehnsuchtspoesie der Naturbilder arbeiteten, setzt Schmitz auf derben Humor und alpenländische Ironie, um die ARD zu entlarven – eine ARD, die sich als Hüterin der Demokratie inszeniert, während sie rechtsextreme Narrative normalisiert. Ein Konzept, das aufging: Die Wirkung des Auftritt des "Corner Chors" – einer queeren, bunten und vielfarbigen Kleinkunstgruppe, die Schmitz für seine Vision gewann – überstrahlte in der Wahrnehmung von Medien, Politik und Bürgern alle Botschaften, die Alice Weidel an die Frau und den Mann draußen im Lande hatten bringen wollen. 

Die ARD wird emotional 

Endlich einmal erreichte die ARD ihre Zuschauenden wieder emotional. Das zumeist ältere, nach 10.000 "Tatort"-Morden und 300 "Monitor"-Enthüllungen über Putin, Trump und die Tricks der Atomindustrie abgebrühte Publikum erwachte für einen Moment aus seiner Resignation. Es fühlte sich mitgenommen in einen Zwiespalt: Lachen? Weinen? Ist das noch Demokratie oder fängt sie genau hier an? Was ist zu tun? Die ARD anrufen? Mitsingen? Gegen den Protest protestieren? 

Getroffene Hunde bellten, AfD-Sympathisanten schäumten über die gesungene Sabotage des Interviews. Wer gegen die Rückkehr des Faschismus ist, freute sich klammheimlich über den Akt des künstlerischen Widerstandes, mit dem es gelungen war, die ARD daran zu hindern, Weidels Botschaften zu übertragen. Mit drastischen, aber kunstsinnigen Mitteln, das war Jodler Schmitz von Anfang an wichtig. 

Er habe keine Bombe werfen und keine Klebeaktion durchführen wollen. "Uns ging es darum, die ARD sich selbst entlarven zu lassen", beschreibt er. Der gebührenfinanzierte Sender gebe der AfD eine Bühne und wundere sich dann, wenn das Volk das Vertrauen in die Aufsicht durch die von der Politik mit handverlesenen Vertrauensleuten besetzten Fernsehräte verliere. "Dagegen muss man aufstehen."

Ein Spiegel der Wirklichkeit 

Hans-Joachim Schmitz gelang das Kunststück, die Medienmaschinerie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Öffentlichkeit, Spektakel, Provokation. Sein "Scheiß-ARD-Jodler" war kein bloßer Protest, sondern ein Spiegel, der der ARD ihr Versagen vorhielt – ähnlich wie Franz Josef Degenhardts Balladen die Herrschenden oder Scherben die Staatsmacht entlarvten. Die blamierte ARD ist selbst schuld daran, so vorgeführt worden zu sein: Indem sie der größten Oppositionspartei eine Plattform bot, machte sie sich zur Zielscheibe, im vollen Bewusstsein, dass eine solche Sendung noch vor zwei, drei Jahren von einem Sturm der Entrüstung aller Demokraten direkt in die Spree geblasen worden wäre.

Schmitz' Kompostion spielt subtil mit diesen Veränderungen. Der Kontrast zwischen lyrischer Melodie und derbem Text ist absurd, kindlich und kompatibel mit dem Kunstanspruch der "Tagesschau in leichter Sprache". An "Scheiß ARD" ist nichts falschzuverstehen. Diesen Text singen sie in Sachsen mit ähnlicher Begeisterung wie in den Beamtenvillen im großstädtischen Hamburg. Musikkritiker lobten den seraphischen, berückenden Gesang als leicht und doch feierlich, eingängig, gesanglich gleichsam schwebend, mit einer fulminanten Melodie, die auf der Terz beginnt und endet. Ein Volkslied, geschrieben von einem Mann, der bisher kaum bekannt war. 

Wie Degenhardt und die Scorpions 

Hans-Joachim Schmitz wird von Chorliebhabern schon länger gelobt und geschätzt. In Augsburg geboren, in einer Familie, die mehr für Weißwurst als für Subversion bekannt ist, zeigte er früh musikalisches Talent. Als Jugendlicher spielte er in einer Blaskapelle, doch seine Leidenschaft galt der alten katholischen Chormusik. Deren Partituren könnten mehr als unterhalten, glaubte er schon als Teenager. "Sie kann aufwecken, provozieren, die Wahrheit ans Licht bringen – wie Dylan, wie Degenhardt, wie Scherben." 

Lange fand Schmitz keinen Chor, der seine Vision teilte und das künstlerische Vermögen mitbrachte, seine komplexen kontrapiunktischen Kompositionen zu singen. Erst als er den "Corner Chor" kontaktierte, eine Gruppe unkonventioneller Singender, die sich keinem anderen künstlerischen Erbe verpflichtet fühlen als dem eigenen, wurde seine Vision umsetzbar. Ein Oratorium, das die Heuchelei der ARD entlarvt. Klartext in Noten. Die Sängerinnen, zunächst skeptisch, waren bald Feuer und Flamme. 

Unerschrockene Proben 

"Wir haben geprobt, bis die Nachbarn mit der Polizei drohten", lacht Schmitz über den gelungenen gesungenen Schlag ins Gesicht der ARD, der unvergesslich eingebleut wurde, dass eine Normalisierung rechtsextremer Positionen vom Volk nicht gewünscht wird. "Wenn die ARD glaubt, sie könne der AfD eine Bühne bieten und so tun, als sei alles in Ordnung, dann haben sie die Rechnung ohne uns Jodler gemacht", droht Schmitz mit Wiederholung, sobald die Brandmauer wieder angegriffen wird.

Man werde friedlich demonstrieren, aber laut. Kunst müsse wehtun wie Dylans Lieder, wie der Rock der Scorpions und so viele Lieder der Toten Hosen. "Scheiß ARD!" setzt das um  – es ist mehr als ein Lied, es ist der Aufschrei eines besseren Deutschlands, das im Alltag nicht mehr allzuoft zu sehen ist. Hier aber nicht zu überhören war.

Dienstag, 22. Juli 2025

Starkwetter: Die Karriere eines Klimawortes

Starkregen und Dürre haben sich in den vergangenen Jahren parallel immer unverzichtbarer gemacht.


Es fehlte ihnen am Bewusstsein, sie vermochten es noch nicht, die ganze Größe der Problemlage zu erfassen. Jahrhunderte-, ja, jahrtausendelang kam die Menschheit ohne den Begriff "Starkregen" aus. Selbst noch heute lebende ältere Menschen erlebten zwar eine Kindheit mit Regenfällen, die auch mal 100 oder 150 Liter pro Quadratmeter niedergehen ließen. Doch die Wissenschaft, die Politik, Medien und Bevölkerung hatten keine Worte für die Lage.  

Großtropfig im Sozialismus 

Es gab keinen "Starkregen" in Deutschland, nicht einmal als Fremdwort. Erst 1957 tauchte die Vokabel  zum ersten Mal im Sprachgebrauch auf. Das Wort ist eine Erfindung des volkseigenen DDR-Betriebes VEB Geschwätz, aus dem später die Bundesworthülsenfabrik BWHF werden wird. Entwickelt wird es, als die DDR-Staatspartei SED beschließt, ihren Arbeitern und Bauern in einem populärwissenschaftlicher Aufsatz ein vermeintliches meteorologisches Phänomen erklären zu lassen, das sie dafür verantwortlich macht, dass die Versorgungslage auch zwölf Jahre nach Kriegsende noch so schlecht ist. Schuld sei "großtropfiger Starkregen", der Ernten verderbe. Die herabfallenden großen Tropfen zerstörten die Ähren.

Das leuchtet vielen Bürgerinnen und Bürgern ein, setzt sich aber nicht durch. Bis in die 70er Jahre hinein ist Starkregen kein Thema mehr, nicht in der DDR und schon gar nicht im demokratischen Teil Deutschlands. Erst 1987 wagt das damalige Nachrichtenmagazin "Der Spiegel"-Magazin eine Übernahme aus dem Ostdeutschen: In einem Artikel namens  "Grober Unfug", der "öffentlich Anklage gegen einen gewissen Herrn Sommer" (Zitat) erhebt, weil der "eine Zumutung für den Menschen" sei, wird das von der sozialistischen Meteorologie geprägte Wort erstmals verwendet.

Ein langsamer Wandel 

Es ist noch lange nicht der erhoffte Durchbruch. Der kommt nicht mit einer einzigen Wetterkatastrophe, einem allgemeinen Unheil oder einer Zunahme der Regenmengen. Es brauchte erst einen Wandel der Wetterberichterstattung: Ab 1994 taucht der "Starkregen" erstmals regelmäßiger aus der Pfütze der Wetterberichte auf, bescheiden, nahezu beiläufig. 

Das ändert sich dramatisch ab 1998: Bis dahin hat der "Spiegel" das Wort 50 Jahren nur 16 Mal verwendet. Dann aber explodiert die Wort-Nutzung, der "Starkregen" wird zum tagtäglichem Alarmbegriff. In den letzten 20 Jahren hat der "Spiegel" das Wort 1.478 Mal verwendet.  95 Prozent aller Anwendungsfälle fallen damit in den Zeitraum die letzte zwei Sekunden der 2025 Jahre seit Beginn der Zeitrechnung. 

Die gesamte Medienlandschaft diesem Trend im Takt der gesellschaftlichen Klimasensibilisierung. Mittlerweile haben sich zum Starkregen" modernistische Varianten wie der "heftige Starkregen" gesellt. Aus der unbenannten Gefahr ist ein geläufiges Schlagwort geworden, das keineswegs nur bei besonders schweren Unwetter und katastrophalen Niederschlägen Verwendung findet. Um als "Starkregen" angekündigt zu werden, müssen Regenmengen keine Jahrhunderthochwasser wie 1501 an der Donau oder 2002 an der Elbe mehr auslösen. Jeder kleine Wolkenbruch eignet sich als Anlass, zu warnen und einen nahenden Untergang zu beschwören.

Die Erfindung der Extremwetter-Sprache


Der Aufstieg des Begriffs "Starkregen" ist Teil einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Neudefinition von Wetter und Klima. Mit dem Fortschritt meteorologischer Messmethoden  und dem Einzug digitaler Medien beschleunigte sich die Transformation: Ereignisse, die früher als ganz gewöhnlicher "Sommerregen" oder ein "Unwetter" durchgingen, erhielten dramatischere Bezeichnungen, mit denen sich im Aufmerksamkeitswettkampf punkten lässt. Begriffe wandern dabei aus Fachkreisen in die Alltagssprache, unterwegs werden sie angespitzt und geschliffen – ein Phänomen, das gerade beim Wetter spätestens seit der "Heißzeit" zur Kommunikationsmaxime wurde.

Die mediale Inszenierung ist heute allgegenwärtig – Wetter-Apps piepen, Nachrichten warnen, Katastrophenbilder reisen viral durchs Netz. So ist die Öffentlichkeit heute rund um die Uhr auf Empfang – und Starkregen wird dabei zum Signalwort der Gegenwart. 100 Liter in Mecklenburg sind dann "so viel wie im Ahrtal", zwei Triggerbegriffe werden kombiniert und dem Empfänger wird suggeriert, es werde nun wohl ein ganzes Bundesland in die Ostsee gespült.

Klimawandel als Beschleuniger der Begriffskarriere


Doch es bleibt nicht bei sprachlichen Moden. Dass ausgerechnet ab dem Jahrtausendwechsel die Nennung von Starkregen und auch "Dürre" parallel im Ngram-Viewer (oben) rapide anstieg, ist kein Zufall. Die Bedrohung durch den Klimawandel ist gerade in kühlen Sommern mit wenigen Tropennächten schwer akut im Bewusstsein zu halten.

Ersatzweise werden darum sogenannte  Wetterextreme für die Berichterstattung bemüht. Alles, was nicht exakt auf dem langjährigen Durchschnitt liegt, ist zu viel oder zu wenig, im kollektiven Bewusstsein sorgt der Klimawandel nicht mehr für tägliches Wetter, aus dem sich ganz langsam ein Klimabild ergibt. Sondern ausschließlich für "Wetterereignisse", die jedes einzelne für sich beweisen, dass es keine Launen der Natur mehr gibt, sondern nur noch nasse oder trockene Beweise für eine dramatisch veränderte Welt.

Belegbarer Trend


Wissenschaftlich ist dieser Trend belegbar: Die Atmosphäre kann pro Grad Erwärmung rund 7% mehr Feuchtigkeit aufnehmen – genug, um schwere Regenfälle noch schwerer zu machen. Die Dichte der Extremereignisse nimmt global und national messbar zu. Starkregen, einst Randphänomen, ist zur meteorologischen Alltäglichkeit geworden und zur gefühlten Bedrohung: Heute, so haben Meteorologen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) errechnet, werden in Deutschland jährlich rund 1000 Starkregen-Events gezählt.

Parallel dazu erlebt auch die "Dürre" ein schwindelerregendes Karriereumfeld. Wo Regenwut und Wassermassen auftreten, fehlt anderenorts der Tropfen. Beide Extreme zeigen im Ngram-Viewer (oben) einen synchronen Anstieg – Ausdruck einer Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Flut und Trockenheit. Während die einen Keller auspumpen, kämpfen Landwirte und Wasserwerke mit ausbleibenden Niederschlägen. Wetter wird zur Frage der Existenz, Starkregen und Dürre zu Ikonen des Anthropozäns. Nicht mehr lange, und es wird zweifellos zur Erfindung des "Starkwetters" kommen müssen.

Die neue Rolle des Deutschen Wetterdienstes


Ein entscheidender Akteur im Starkregen-Drama ist heute der Deutsche Wetterdienst (DWD). 1952 gegründet, ursprünglich zur Wetterüberwachung und Unterstützung von Luft- und Seeschifffahrt, hat sich der DWD in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Die Behörde warnt nicht mehr nur vor Unwettern, sondern erklärt sie auch offiziell für beendet, kategorisiert Wetterlagen nach Gefahrenlevel, erstellt Gefahrenanalysen, historische Auswertungen und sie lenkte die gesellschaftliche Debatte rund um den Klimawandel. 

Der DWD betreibt heute neben Wettervorhersagen auch sogenanntes Präventionsmanagement: Mehr als 200.000 Mal im Jahr wird rechtzeitig vor Wetterveränderungen gewarnt. Hochaufgelöste Radardaten erlauben es auch, Starkregen besser zu erkennen – Prognose und Reaktion erfolgen in engem Takt. Oft folgen Warnungen so schnell aufeinander, dass niemand mehr zuhört. Der Dienst ist zentraler Ansprechpartner in Sachen Klimaextreme: Kein Krisenstab, der nicht den DWD alarmiert – kein Bundesland, das auf eigene Faust vor Starkregen oder dessen Ende warnt.

Wurzeln, Wandel – und was bleibt


Die Wortwurzel bleibt dabei bemerkenswert: "Starkregen" will mehr sagen als "Regen" – es ist der Versuch, mit der Sprache Kontrolle über die Wahrnehmung der Menschen  zu gewinnen. Die Genese des Begriffs ist auch ein Lehrstück politischer und gesellschaftlicher Transformation: Von einer spleenigen ostdeutschen Propagandaspezialität zum bundesweiten Signalwort. Kaum ein anderes Wetterwort spiegelt so deutlich einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel, getrieben von realen Extremwetterlagen, medialem Alarmismus und wissenschaftlichem Fortschritt.

Was bleibt? Starkregen ist gekommen, um zu bleiben – ob als Alarmbegriff oder reale Bedrohung. Wo früher ein "Unwetter" reichte, braucht es heute "heftige Starkregenereignisse", um die wachsende Wetterangst zu artikulieren. Der Blick in die Archive ist ein Blick in eine Sprache, die klarmacht: Der Wandel des Wetters ist eher ein Wandel der Worte. Und die nächste Begriffsinnovation, die den Alltag erobert, ist immer nur eine Wetterlage entfernt.

Investitionsgipfel: Die Rückkehr der Deutschland AG

Die Rückkehr der Deutschland AG
Vor 25 Jahren wurde die Deutschland AG abgewickelt. Jetzt kehrt sie stolz zurück.


Da ist sie wieder, die fürchterliche Verschwörung der Großkonzerne, die über Jahrzehnte im Verdacht stand, Deutschland als halbgeheimes Netzwerk an der kurzen Leine zu führen. In der Deutschland AG hatten sich Großbanken, die es damals auch hierzulande noch gab, große Versicherungen und die mächtigsten Industrieunternehmen zusammengeschlossen, um Politik zu machen. 

Man tauschte Manager und Aufsichtsräte, man zog an einem Strang und in Bonn die Strippen. Die nationalen Champions waren gegenseitig aneinander beteiligt, sie hatten nicht nur Politiker in der Tasche, sondern auch Gewerkschafter und die Chefs der damals noch als Lobbygruppen misstrauisch beäugten NGOs.  

Sagenhafte Deutschland AG

Die sagenhafte Deutschland AG hatte kein Statut und keine demokratische Legitimation. Die miteinander eng verflochtenen Unternehmen spielten nach außen Konkurrenz, doch wenn es um die Pflege der politischen Landschaft ging, um den Markt vor unerwünschten Wettbewerbern abzuschotten, trugen alle dieselbe Gießkanne. Der britische Ökonom Andrew Shonfield beschrieb die Deutschland AG als Kraft, die das Wirtschaftswunderland mehr prägte als Demokratie und Marktwirtschaft.  Deutschland funktioniere wie eine einzige Firma, die nach innen Konkurrenz begrenze und nach außen Geschlossenheit demonstriere. 

Das war zum Nutzen aller, denn der von Adenauer verfochtene Rheinische Kapitalismus galt als nette Alternative zum US-amerikanischen Konkurrenzkampf nach dem Wolfsgesetz. Ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, nur scheinbar von der Politik gelenkt, aber in Wirklichkeit so organisiert, dass vom Tisch der Herren der Deutschland AG für alle so viel abfiel, dass niemand sich beschweren konnte.

Globale Giganten 

Dieses deutsche Modell geriet in Verruf, als die Deutsche Bank und die Allianz, mit ihren großen Industriebeteiligungen damals globale Giganten, keine Anstalten mehr machten, ihre Macht zur Regulierung der gesamten Volkswirtschaft immer unverhohlener nutzten, um direkt in die Wirtschaft zu regieren. Zu geballter wirtschaftlichen kam mediale, mit dem Neoliberalismus der Spaßgesellschaft um die Jahrtausendwende herum zeigte sich, dass die zentrale Lenkung und Leitung eines ganzen Landes nicht nur die Politik, sondern auch die Manager überforderte.

Auf der einen Seite riefen die Aktionäre nach Flexibilität und der Hebung stiller Bewertungsreserven. Auf der anderen verbreitete die deutsche Sozialdemokratie als damals noch mächtige Kraft der modernen Linken die These, das Verbände und Zusammenschlüsse, die nicht von Bürgern und nicht von Politiker geleitet werden, keine Prokura haben, das Vakuum zwischen Bürger und Staat auszufüllen,  weil sie immer nur gruppenegoistische Ziele verfolgen.

Eigene Masse 

Die Deutschland AG ging unter, zu Boden gedrückt durch ihre eigene Masse. Unzureichende Beweglichkeit, das schlechte Image und die vor 25 Jahren in Deutschland um sich greifende Neugier, ob vieles nicht auch anders gehe, standen an ihrem Grab und niemand weinte. Die Deutsche Bank machte weltweit Investmentbanking. 

Viele andere nationale Champions gingen im Sturm unter oder ans Ausland verloren. Ganze 14 der früheren AG -Mitglieder sind heute noch im Deutschen Aktienindex vertreten, sie alle haben kaum mehr globale Bedeutung. Aus den Riesen wurden Zwerge, dafür gibt es Siemens nach mehreren Auf- und Abspaltungen gleich dreimal, Mercedes, Porsche und Fresenius zweimal.

Die Lage ist übel 

Doch die Lage ist übel. Und die Sehnsucht groß, dass es wieder wie früher mögen werde. Corporaty Germany, ein Trümmerlandschaft aus Krisenunternehmen, soll aus der Asche auferstehen, so haben es Deutsche Bank und Siemens, zwei Überlebende der alten AG, beschlossen. Weg mit der "Überregulierung" (DPA), her mit einer "Innovationsoffensive", die dafür sorgt, dass "mehrere hundert Milliarden" im Land investiert werden. 

Ein von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin angeschobener "Investitionsgipfel" (BWHF) - nicht zu verwechseln mit dem "Stahlgipfel", dem "Migrationsgipfel", den "Benzingipfeln" oder dem "Impfgipfel" - hat dem ZDF zufolge "mit Hochdruck die Weichen gestellt" auf sogenannte "frische Gelder". Diesmal nicht zwangsrekrutiert aus den Hosen- und Brieftaschen der nichtsahnenden Steuerbürger. Sondern aus den privaten Schatullen Überreicher und Meistverdiener, die sich am Wiederaufbau der früher so erfolgreichen Wirtschaft eine goldene Nase verdienen sollen.

Idee kommt von ganz links 

Die Idee kommt von ganz links, für die Ausführung wollen die überwiegend eher rechtsdrehenden Konzernlenker sorgen. 631 Milliarden Euro innerhalb von drei Jahren haben sie Friedrich Merz bei einer Zusammenkunft im Kanzleramt versprochen. Selbst gemessen an den unendlichen Geldmengen, die der Kanzler und seine Koalition selbst aus dem Hut gezaubert haben, ist das eine Hausnummer. 

Sie folgt zwar einem Vorschlag des abgewählten und abgetauchten Merz-Vorgängers Olaf Scholz, der im Wahlkampf versucht hatte, mit einem "Deutschland-Plan" und einer "Made in Germany"-Prämie die nationale Karte zu spielen. Doch erst die von der neuen Deutschland AG vorgestellte Initiative "Made for Germany" vermochte jetzt alle Medien zu überzeugen. Die Deutschland AG wird nicht mehr beargwöhnt und gehasst, sondern geliebt.

61 deutsche Firmen 

Mehr als 61 deutsche Firmen seien dabei, sie alle hätten "verabredet, mit Investitionen in Deutschland den Wirtschaftsstandort zu stärken". Dazu würden bald Milliarden in "neue Werke, Anlagen und Produkte fließen". Nichts Genaues weiß noch niemand. Offen ist, was die neuen Werke an neuen Produkten herstellen werden, welche weltweit gefragten Dinge die Anlagen fabrizieren und wie aus  "einer der größten Investitionsoffensiven, die wir seit Jahrzehnten in Deutschland gesehen haben" Rendite für die Investoren wird.

Zuletzt war das Zutrauen des Geldadels zum Standort dauerhaft mau. 2019 wurden noch 836 Milliarden Euro in Deutschland investiert, 2024 nur noch 770 Milliarden. Die Gründe sind bekannt. Zu hohe Energiepreise, zu altmodische Industrien, zu viel Bürokratie, zu wenige Fachkräfte. Dass eine von Siemens, Deutscher Bank und dem Rest der wiederauferstandenen Deutschland AG angekündigte Investitionsoffensive daran etwas ändert und Merzens "Wirtschaftswende" anschiebt, ist mehr frommer Wunsch als reale Zukunftsaussicht.

"Das ist ein sehr kraftvolles Signal dafür, dass wir einen Stimmungswechsel haben", hat Bundeskanzler das Treffen als ersten Erfolg im Kampf für den von ihm ausgerufenen Stimmungswechsel gedeutet. Nicht nur für Deutschland steht viel auf dem Spiel: Ganz Europa leidet unter der laufenden  Deindustrialisierung in dem Land, das auserkoren ist, den Löwenanteil zum kommenden Rekordhaushalt der EU beizusteuern. Zwischen 60  und 64,3 Milliarden Euro jährlich wird Deutschland zahlen, insgesamt müssen mehr als 400 Milliarden erwirtschaftet werden, um die EU-Kommission zwischen 2028 bis 2034 mit den benötigten zwei Billionen Euro zu versorgen. 

Besser als nichts 

Um dieses knappe Viertel der Zahlungen zu stemmen, brauchte es eine Wirtschaft, die endlich wieder brummt. Auch für Deutschland wäre das wichtig: Nur wenn die Wirtschaftslokomotive des Kontinents im nächsten Planungszeitraum 420 Milliarden zahlt, kann sie mit Hilfszahlungen von fast 70 Milliarden rechnen. Damit würden Deutschlands Zuzahlungen zum Unterhalt der EU Jahr für Jahr um 50 Milliarden Euro über dem Betrag liegen, der aus Brüssel zurückfließt. Das wären 30 Milliarden weniger als bisher, wie die FAZ errechnet hat. Aber allemal besser als nichts.

Die Chancen stehen schlecht, aber die Schlagzeilen gehören schon den Ökonomen, die die Wende herbeiprognostizieren wollen. Die Rekordschulden, aufgenommen ohne klaren Plan, wo eigentlich wie viel Geld wofür gebraucht werden könnten, gelten als Gamechanger. 

Die mikroskopischen Steueränderungen und marginalen Abschreibungsregeln hätten bereits ein "verbessertes Investitionsklima" geschaffen, lobt es allenthalben. Allein durch die 500 Milliarden, die in den Neubau z alter Brücke und die Reparatur von Straßen fließen sollen, werde sich die Wirtschaftsleistung um fünf Prozent erhöhen. Dazu jetzt noch Deutsche Bank, Siemens und der Rest der Deutschland AG, die "voll des Lobes für Merz und seine Regierung" sind. Viel kann nicht mehr schiefgehen. 

Montag, 21. Juli 2025

Tatort Thiel-Komplex: Architekt einer dunklen Ordnung

Im Gemeinsinnfunk hat der Name Thiel einen guten Klang, denn im "Tatort" aus dem westdeutschen Münster verkörpert der meist in der Rolle des Ostdeutschen auftretende Axel Prahl einen umgänglichen Kommissar gleichen Namens.

Viele abstruse Verschwörungstheorien kommen aus den USA und verbreiten sich dann über das Internet um die Welt, einige aber entstehen auch in regionalem Anbau direkt in Deutschland. Unvergessen sind bis heute die kruden Thesen des Thilo Sarrazin, der vor 15 Jahren dreist behauptete, muslimische Migranten würden sich nicht in die Gesellschaft integrieren, sie kosteten mehr, als sie Nutzen brächten und sie würden häufiger straffällig.  

Mächte im Hintergrund 

Durch aufwendige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hingegen wurde der Verschwörungsmythos bekannt, demzufolge die sogenannte Gruppe Reuß geplant hatte, die deutsche Regierung zu stürzen. Selbst die Coronapandemie wird in gewissen Kreisen als Beleg, dass dunkle Mächte im Hintergrund böse Pläne schmiedeten, um sich zu bereichern. 

Doch nicht alle Verschwörungserzählungen - so heißen Verschwörungstheorien seit einem entsprechenden Erlass der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin - sind schon so bekannt, nicht jede hat bereits eine große Zahl an Anhängern gefunden. Manche sind nicht einmal den Medien bekannt, sondern nur engagierten Enthüllern und Aufdecker, die sich nicht zu schade sind, das bedrohliche Treiben nahezu unsichtbarer Netzwerke zu beobachten und schonungslos ans Licht zu zerren. 

Unter dem Blitzlicht 

Oft wird in diesen Momenten wie durch ein Blitzlicht kenntlich, was die Welt im Innersten zusammen hält und  "wie tief rechte Netzwerke in bürgerlich-konservative Politik hineinwirken, sie verunsichern und spalten", wie der und grüne Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen einen dieser bislang kaum bekannten Fälle einordnet. Ist es Zufall oder System?, fragt der nebenbei als Unfallchirurg und Notfallmediziner tätige 43-Jährige. Und er macht kein Hehl daraus: "Die Antwort hat viel mit Peter Thiel zu tun." 

Peter Thiel? Nicht jeder Wählerin und jedem Wähler sagt der Name etwas. Viele tippen darauf, dass es sich um einen bekannten "Tatort"-Kommissar handelt, gespielt von Axel Prahl, einem Schauspieler aus Eutin, der im Alltag einen Ostdeutschen verkörpert. Der Thiel, den Dahmen ins öffentliche Bewusstsein rücken will, ist allerdings von einem andren Kaliber: Peter Thiel, 57 Jahre alt, geboren in Frankfurt am Main, lebt in den USA, war dort lange mit teils gewagten Investitionen erfolgreich und driftete in den letzten Jahren mehr und mehr in das rechts-libertäre Milieu  der Musks, Yarvins und Karps ab, das in Deutschland als verfassungsfeindlich gilt.

Ersatz für Musk 

Lange wurde Thiel wenig beachtet. Direkt hinter Donald Trump behauptete Tesla-Chef Elon Musk den Platz des Staatsfeindes Nummer 2 unangefochten. Ihm wurde nachgesagt, die Trumps staatszerstörerische Agenda mit bemerkenswert ungenierter Offenheit voranzutreiben, um selbst noch reicher zu werden. Erst der offen ausgetragene Zwist zwischen den beiden Demiurgen kostete Musk den Ruf als schlimmster Feind aller wahrhaftigen Demokraten.  

Ersatz fand sich auf die Schnelle nicht - bis Janosch Dahmen jetzt die Absichten des Tech-Unternehmers und Milliardärs Thiel aufdeckte: Schon  2016 ließ sich Thiel einen Zugang zu Jens Spahn leben.  2017 nahmen beide "gemeinsam" (Dahmen) an der Bilderberg-Konferenz teil. 2018 feierten sie den Geburtstag eines gemeinsamen Bekannten in Wien, zusammen mit dem österreichischen Kanzler, dem US-Botschafter und  russischen Diplomaten. 2022 wurden sie zusammen in St. Tropez gesehen.

Im Schatten düsteren Gewölks 

In den Schatten der politischen Landschaft Europas braut sich da ganz offensichtlich ein düsteres Gewölk zusammen. Hochgespült von den Fluten transatlantischer Machtströme paktieren Männer miteinander, die unsere Demokratie mehr als Hindernis denn als Wert begreifen. Alle Indizien atmen die Luft geheimnisvoller Einflussnahme: Mit Peter Thiel knüpft einer der schillerndsten und abgründigsten Strippenzieher der globalen Rechten an einem Netz, in das Deutschland wie ein reifer Apfel fallen soll. 

Thiel – Tech-Milliardär, Mitgründer von PayPal, früher Facebook-Investor, Datenkraken-Förderer und bekennender Freund autoritärer Lösungen – drückt die Überwachungssoftware von Palantir in die Bundesländer. Er spuckt verbal Gift und Galle gegen Europa, den Green Deal und die systemstabilisierenden Kräfte internationaler Zusammenarbeit. Er hetzt gegen die Grünen, indem er sie und nicht etwa Terrorismus oder Kommunismus als Hauptfeind des Abendlandes bezeichnet, weil sie sich mit aller Kraft dem Klimaschutz und der Menschenwürde verschreiben. 

Architekt einer dunklen Ordnung 

Peter Thiel, das kann Janosch Dahmen beweisen, ist nicht nur ein Unternehmer gezeichnet, sondern der Architekt einer dunklen Ordnung, in der Gleichheit Illusion, Demokratie ein hinderlicher Nebel und autoritäre Führung die natürliche Antwort auf die Komplexität der langwierigen Entscheidungsfindungsprozesse unserer Demokratie ist. Besonders perfide: Thiels Ruf als Misanthrop,  Evangelist technologischer Übermacht und libertärer Kettensägenträume eilt ihm voraus. Und dennoch ist er ein gern gesehener Gast in den Herzkammern deutscher Politik.

Zumindest dort, wo sich das radikalisiert, was vor wenigen Jahren als bürgerlich-konservativ galt, eine Politik offener Grenzen und eines planmäßigen Rückbaus der deutschen Industrie pflegte. Thiel und Konsorten, so Dahmen, haben es durch die Schaffung eines dichten, beinahe konspirativ anmutenden Geflecht aus Begegnungen, Mittelsmännern und ideologischen Schnittmengen geschafft, diese progressive Phase deutscher Weltoffenheit zurückzudrehen. 

Graue Eminenz der Verbindung 

Der grüne Experte nennt unerschrocken prominente Namen wie den Springer-Chef Mathias Döpfner, den gestürzten österreichischen Kanzler Sebastian Kurz und den in London lebenden Serieninvestor Christian Angermayer als "Knotenpunkte" des rechten Netzwerkes. Der 47-jährige Angermayer fungiere als graue Eminenz der Verbindung zwischen Thiel und Spahn, schon 2016 seien beide über ihn "in vertraulicher Runde im Kanzleramt zusammengeführt worden sein". Absicht unbekannt. Allein das liest wie das Drehbuch zu einem paranoiden Politthriller. 

Denn was wie lose Kontakte erscheinen mag, fügt sich durch Dahmens Ausführungen zu einem finsteren Mosaik: Spahns Nähe zu neoliberalen Denkfabriken wie R21 oder rechte Medienprojekten, die unverhohlen Thiel’sche Narrative übernehmen. Dazu die Kritik der Springer-Medien am Grenzregime,  vermeintlich unbezahlbarem Sozialstaat und überregulierter Wirtschaftspolitik. Das alles dient der  Delegitimierung des Staates, es soll der Bekämpfung von Regulierung und gesellschaftlicher Gleichheit Tür und Tor öffnen. Eine Symbiose aus Kapital, Ideologie und Kommunikationsmacht arbeitet daran, den öffentlichen Diskurs im Sinne einer systemfeindlichen Agenda zu formen.

Libertäres Sendungsbewusstsein

Unaufhaltsam dreht der gemeinsam entfachte Wind den Trend. In nahezu allen Redaktionsräumen deutscher Leitmedien hat man sich von der Agenda 2015 verabschiedet, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer vor zehn Jahren mit so großer Rückendeckung aller Medienhäuser ausgerufen hatte. Thiel trägt den dumpfen Silicon-Valley-Mief eines libertären Sendungsbewusstsein nach Deutschland. 

Und auch wenn Dahmen einräumt: "Jens Spahn ist nicht Peter Thiel", ist doch klar, dass die ideologische Verschränkung des US-Milliardärs und des Unionsfraktionschefs so eng sind, dass der Verdacht zur Gewissheit wird: Hier wird nicht zufällig konservative Politik destabilisiert, sondern gezielt umgeformt.

Von der Bevölkerung unbemerkt

Das alles passiert schleichend und von großen Teilen der Bevölkerung unbemerkt. Medien wagen sich schon nicht mehr in das verminte Gebiet, selbst Georg Restle von "Monitor" und Anja Reschke von "Panorama" trauen sich nicht, die finsteren Pläne von der Errichtung eines kalten, libertären Scientismus aufzudecken, der die Ängste der Bürger nutzt, um einen autoritären Kapitalismus zu entfesseln. 

Erst Janosch Dahmen hat es gewagt, die Männer zu zeigen, die der Republik einen Mantel der Finsternis weben, angetrieben von Datenmacht und Deregulierung, für die sie den Euphemismus der "Entbürokratisierung" erfunden haben. Diese Verschwörung betreiben nicht russische Trolle, keine anonymen Algorithmen oder entadelte Prinzen, Figuren an den Fäden eines mächtigen Milliardärs. Demokratie, daran lässt Janosch Dahmen keinen Zweifel, lebt vom Licht der Aufklärung, weil der Schatten wächst, wenn die Helligkeit schwindet. 

Das Netzwerk im Schatten 

Sein Versuch, das mächtige Thielsche Netzwerk ins Offene zu zerren, mag hilflos anmuten, doch es ist höchste Zeit, dass die Bürgerinnen und Bürger die Wahrheit erfahren: Wer steuert hier wen? Wohin? Welche Gelder füttern die Maschine der politischen Indoktrination? Und wann kippt der Einfluss reicher, ideologisch klar aufgestellter Männer in eine ungewählte Kontrolle unserer Demokratie? 

Der Thiel-Komplex versucht eine schleichende Transformation – weg von der mühsamen Aushandlung pluralistischer Gesellschaft, hin zur kalten Logik eines technokratischen Herrenmenschentums. Für eine Gesellschaft, die sich demokratische Parteien  hält, deren Führungsriegen die Regeln für alle auf der Basis der jeweils gerade geltenden  Auslegung der Grundrechte festlegen, ist das eine dunkle Vision.

Proteststurm: Mikrophonprobe in Mitte

ARD Weidel Protest Sommerinterview
Weidel und Preiß konnten einander kaum verstehen. Ein Sieg für die Demokratie.

Sie spricht, an den Lippenbewegungen ist es zu sehen. Dann spricht er, offenbar, denn auch sein Mund bewegt sich. Doch beim ARD-Sommerinterview mit der AfD-Chefin Alice Weidel ist nur infernalischer Lärm zu hören. Von jenseits der Spree dröhnen wilde Gesänge hinüber auf das Studiodach, auf dem Moderator Markus Preiß versucht, Deutschlands bekanntester Parteichefin Fragen zu stellen, die sie nur so beantworten kann, dass ihr die Maske aus dem Gesicht fällt. 

Weidel beugt sich lauschend vor. Preiß beugt sich ihr entgegen. Niemand versteht jemanden, alle verstehen nichts.

Deutschland in einem Bild 

Deutschland im Sommer. Deutschland in einem Bild. Das "Sommerinterview" im Ersten ist eine alte Tradition, ungeliebt, seit die demokratische Arithmetik keine Argumente mehr liefert, die größte Oppositionspartei nicht einzuladen. Die AfD, zeitweise als komplett gesichert rechtsextremistisch eingeordnet, wurde auf diese Art erst richtig groß. 

Jetzt soll es die andere, bisher kaum weniger erfolgreiche richten: Ein Chor singt "Scheiß ARD". Das verlorene Häuflein auf den Stufen am Flußufer hat sich hörbar jede Menge technische Unterstützung mitgebracht. Berlin Mitte bebt. Die Metallstelen, die zur Erinnerung an die Maueropfer ans Ufergeländer geschraubt wurden, zittern.

Früher entstanden Skandale, weil Mikrophone irrtümlich offen blieben. Ronald Reagan bombardierte die Sowjetunion. Die Victoria Nuland, eine hochrangige Beraterin der US-Regierung, ließ ein "Fuck the EU" hören, als sie meinte, auf einer sicheren Leitung zu sprechen. Zuletzt schmunzelte die grüne Fraktionschefin Katharina Dröge ihrer Kollegin Britta Haßelmann am Ende einer Pressekonferenz ein amüsiertes "Das wird ihn geheilt haben" zu

Gemeint war Unionsfraktionschef Jens Spahn, ein offen homosexuell lebender Mann, dem die neue starke Frau womöglich etwas wünschte, das seit fünf Jahren verboten ist.

Ein echte Mikrophonprobe 

Die Mikrophonprobe in Mitte war von anderem Kaliber. Erstmals gelang es dem größten Fernsehsender in  Deutschland nicht, Sprach- und Außenmikrophone so auszusteuern, dass die einen deutlich hörbare Signale übertragen, die anderen hingegen nur atmosphärische Illustrationsgeräusche. 

Beim Sommerinterview mit Weidel war es genau andersherum: Der "Protest-Lärm" (Spiegel) war nicht nur der dominierende Ton der Übertragung, er lieferte auch den Hauptinhalt der Berichterstattung über die Veranstaltung. "Chorgesang, Hupen und Anti-AfD-Slogans" (Tagesspiegel) hätten das Gespräch "teilweise schwer verständlich" (ARD) gemacht.

Zum Glück wür die Öffentlichkeit, denn auf die Frage, was sie gegen die beängstigend steigenden Krankenkassenbeiträge tun würde, ließ Weidel wissen, dass nur der Versicherungsleistungen beziehen sollen dürfte, der zuvor Versicherungsbeiträge entrichtet habe. Das Bürgergeld hingegen dürfe aus ihrer Sicht nurmehr an Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gezahlt werden, während Asylbewerber nur noch Sachleistungen erhalten sollte.

 "Für alles ist Geld da, nur für die eigenen Menschen nicht", hätte Weidel vor aller Ohren gehetzt. Wäre sie denn gehört worden.

Versuche, die unerwünschten Nebengeräusche "durch Anpassung der eigenen Tontechnik" auszublenden, misslangen. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), vor Jahren bekannt geworden durch eine der ersten offiziell als Kunst anerkannten Verhöhnung der von den Großvätern der Künstler ermordeten sechs Millionen Juden, hatte einen Lautsprecherbus aufgefahren, aus dem Hassgesänge über die Spree schalten.

Es is fast genau die Stelle, an der das ZPS auf dem Höhepunkt des eigenen Einsatzes für die weitere Popularisierung der Rechtsaußenpartei mit Freiwilligen aus Kunst, Kultur und Politik auf humorvolle Weise die Flucht politisch Verfolgter über den Hauptstadtfluss an sichere Ufer des schlechten Geschmacks nachgestellt hatte.

In tapferen dünnen Rettungswesten 

Nur geschützt von dünnen Rettungswesten, dem Mut der Verzweiflung über die rechtsextremistisch geprägte Lage und den herbeigerufenen Heerscharen an Kameraleuten und Fotografen, die in separaten Booten mitruderten, wagten damals 47 Aktivist*innen die symbolische Fahrt auf der Spree. Diesmal brachte das ZPS nur 25 Kämpfer zusammen, die über die seinerzeit als Tyrrhenische Meer dienende Spree "aktivistische FLINTA-Gesänge"  (Corner Chor) in Dauerschleife abspulten. 
 
Ohne einen Ton zu singen und doch erfolgreich: Es sei das "beste Sommerinterview, das die ARD je mit Faschisten geführt hat", gewesen, lobten sich die "radikalen Humanisten" aus dem "Gefechtsstand für die Zivilgesellschaft", die nur funktionieren kann, wenn Antisemiten und Verfechter eines gegen die russische Bedrohung wehrlosen Westens bestimmen, was noch sagbar und worüber strikt zu schweigen ist.  

Mixer alle kaputt 

 
Auch bei der Mikrophonprobe in Mitte sind sie mehr: 25 gegen die eine, der auch die ARD-Tontechniker nicht helfen können. Die Mischpulte sind kaputt, die einzelnen Kanäle lassen sich bei aller Liebe nicht trennen. 

Die Ansteckmikrophone, die Preiß und Weidel durchaus tragen, 50 Zentimeter vom Mund entfernt, lassen sich nicht so weit nach vorn regeln, dass sie sie das Getöse der 100 Meter entfernt abgespielten Protestgeräusche vom Band übertönen. Die Polizei eilt herbei, aber zu spät. Eine Verlegung nach drinnen war ebenso nicht möglich. Das Wetter war einfach zu schön.
 
Ein Punktsieg für die Demokratie, denn alle, die das daheim am Fernsehschirm gesehen haben, zu hören war ja nichts, werden nie mehr AfD wählen.

Sonntag, 20. Juli 2025

Der gute Deutsche: Aufstand des Anständigen

Das Kwartera Hitlera heute: Was Stauffenbergs Bombe übrigließ, versuchten Stalins Antifaschisten zu sprengen. Es blieb genug übrig, um Polen ein beliebtes Ausflugsziel zu schenken. 

Sei still, sei endlich still!
Hörst du nicht, dass da draußen etwas Neues beginnt?

Georg Diez, 2009

Ein feuchter Wald voller Mücken, und mittendrin ein Wolf. Ab 1940 baute die Organisation Todt in einen Wald bei Rastenburg im heutigen Polen ein Führer-Hauptquartier für den geplanten Russland-Feldzug, ab 1941 zog Adolf Hitler selbst in einen der sieben riesigen Stahlbetonbunker mit dem Tarnnamen „Chemische Werke Askania“, um näher an der Front zu sein. Beinahe wäre heute vor 81 Jahren alles vorbei gewesen - doch Hitler überlebte die Explosion einer Bombe, die Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 unter einem Konferenztisch im Führerhauptquartier Wolfsschanze platziert hatte.

Stauffenberg als Alibi

Der geplante Staatsstreich, vorbereitet als "Operation Walküre", scheiterte. Die meisten Verschwörer wurden hingerichtet. Hitler nutzte den Anschlag, um die Deutschen noch mehr als bis dahin hinter sich zu versammeln. Der totale Krieg wurde nun endgültig auch und unerbittlich nach innen geführt. Stauffenberg aber verschaffte denen, die überlebten, Jahrzehnte später ein Alibi: Bundespräsident Theodor Heuss weigerte sich 1950, im Rundfunk Worte der Würdigung und des Gedenkens an den 20. Juli 1944 zu sprechen. In der jungen Bundesrepublik war Stauffenberg ein Verräter, ein eidbrüchiger Soldat, kein Vorbild.

Als das taugte der Verschwörer auch im kleinen deutschen Nachbarstaat nicht. Im Osten galt der Umsturzversuch der Offiziere allenfalls als Mahnung, dass nur eine "konsequentere Politik der antifaschistischen Einheit, basierend vor allem auf der Aktivität der gesunden Kräfte des schaffenden Volkes", eine "erfolgversprechende Perspektiven des Kampfes gegen Hitler, für Frieden und Freiheit hätte eröffnen können". Den Stauffenberg-Orden "für militärische Verdienste", über den die SED-Funktionäre lange nachdachten, sollte es ab 1990 geben. Es kam etwas dazwischen und deshalb nicht mehr dazu.

Langes Warten auf höchste Anerkennung

Um zu höchsten Ehren zu kommen, musste Stauffenberg lange warten. Der Mann, der schon als junger Offizier Mitglieder der paramilitärischen SA ausgebildet hatte, während des Polenfeldzuges Karriere machte und aus dem besiegten Nachbarland nach Hause schrieb, dass die Bevölkerung in Polen "ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk" sei, also "ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt", erfuhr eine späte Verwandlung. 

Aus dem Adligen, der schon 1932 bei der Reichspräsidentenwahl für Adolf Hitler votierte und dessen Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 ebenso gut fand wie seine spätere Selbsternennung zum obersten Feldherren, wurde ein Widerständler, aber nie ein Demokrat. Stauffenberg lehnte die parlamentarische Demokratie als Staatsform ab: Erst aus prinzipiellen Gründen. Später, weil er, nun zum Hitlergegner geworden, glaubte, erst die parlamentarische Demokratie haben dem Maler aus Braunau schließlich den Weg zur Macht geebnet.

Nun in allen Ruhmeshallen

Seinem Nachruhm schadete das nicht. 1955 wurde die Berliner Bendlerstraße zur Stauffenbergstraße. Die Deutsche Bundespost widmete von Stauffenberg zum 20. Jahrestag seines Attentats eine Briefmarke. Noch 1970 beurteilten nur 39 Prozent der Westdeutschen die "Männer vom 20. Juli" positiv. Erst im Jahr 2004 gab es in einer repräsentativen Befragung der wiedervereinigten Deutschen erstmals eine wohlwollende Beurteilung der Täter und der Taten vom 20. Juli 1944. 

Um das Jahr 2000 herum entstand die Legende vom Nationalheiligen: Stauffenberg zog in Ruhmeshallen ein, die Bundesregierung widmete ihm Feierstunden, immer mehr Schulen beanspruchten seinen Namen. In Stuttgart wurde eine Erinnerungsstätte eröffnet, Gedenktafeln sprossen in Bamberg, Wuppertal, München und Hannover aus den Wänden. 

Einig im Widerstand

Von Anfang an uneingeschränkt unterstützt wurde hingegen der Widerstand gegen den Film "Valkyrie" im Jahr 2008. Hauptdarsteller Tom Cruise sollte als bekennender Scientologe keine Genehmigung bekommen, den guten Deutschen Stauffenberg darzustellen. Der Bendlerblock, heute Sitz des Verteidigungsministeriums, so hieß es, sei ein historischer Ort, dessen historische Würde bei den Dreharbeiten verletzt werden könne. Das Bundesfinanzministerium versagte die Dreherlaubnis. Hollywood musste das Schlachtfeld im Studio nachbauen.

Stauffenberg war nun schon zu dem geworden, der er heute mehr denn je ist. Der gute Deutsche. Das Gesicht des an Gedenktagen rituell beschworenen anderen Deutschlands. Sein Name ist alles, was in Schulbüchern vom Widerstand übriggeblieben ist. Polen dagegen hat die von Hitler selbst auf "Wolfsschanze" getauften Trümmerberge bei Kętrzyn, dem früheren Rastenburg. Betonfelsen, von denen nicht einmal sicher ist, ob die abrückende Wehrmacht oder die ankommenden Sowjettruppen sie gesprengt hat. 

Tagestouren in die Trümmer

Der Ort, der über Jahre als eigentliches Regierungszentrum des Dritten Reiches diente, ist zu einer überwucherten Touristenattraktion geworden, die zu "Full-Day Private Wolf's Lair"-Touren zu "Hitlers HQ" einlädt. Hunderttausende kommen jedes Jahr, um die wie kaputte Hochhausfundamente aus dem Waldboden ragenden Reste der Bunkeranlage zu bestaunen und sich den Tarnbeton mit Algeneinlage, die Reste der Wege und die Ruinen von Bunker Nr. 13 im streng gesicherten inneren Sperrkreis anzuschauen, aus dem der selbsternannte "Wolf" das Reich per Funk und Telefon regierte. Gequält von schwarzen Mückenschwärmen und der ewigen Feuchtigkeit in den nur langsam abtrocknenden Zementburgen.

Die sind zum Teil nur noch in Umrissen erkennbar, haben den eigenen Zusammenbruch aber unveränderter überstanden als das Geschichtsbild der Deutschen. Zum 80. wird es wieder wie neu sein: Es gibt wieder die alten großen Reden, das Erinnern, den Jubel über die eigene Weisheit und die Gewissheit, es in jedem Fall besser machen zu werden. 

Man wird mahnen und appellieren, mit Leidenschaft abrechnen und die Redenschreiber Parallelen ziehen lassen und schwören, dass dieses Nie wieder ganz genau jetzt ist. Niemand wird sagen, was er denkt, es wird Wort an Wort gehäkelt, "dass es langweiliger nicht sein könnte, weil sie sich nicht trauen, das zu sagen, was sie wirklich denken, oder weil sie gar nicht wirklich selber denken", wie Georg Diez lange vor seiner Bekehrung einmal geschrieben hat.

Die Geschafften: Ferien vom Staatsstress

Staatsferien Merz Klingbeil
Staatsferien bis zum September: So schrecklich sind die multiplen Krisen nicht, dass das politische Berlin nicht auch einmal ausspannen kann.

Einfach mal zurücklehnen, einfach mal entspannen. Nach zehn Wochen im Regierungsamt ist der Großteil der Arbeit getan, Friedrich Merz und sein SPD-Vize Lars Klingbeil können entspannt in die Sommerferien gehen. Selten zuvor hat eine Bundesregierung in noch kürzerer Zeit noch mehr geschafft, so hat es der Kanzler nach einem großen historischen Vergleich des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages bei seiner großen Abschiedspressekonferenz selbst verkündet.  

Weltlage im Griff 

Niemand hätte gedacht, dass das alles in so kurzer Zeit möglich. Die Weltlage ist nach etlichen Einsätzen out of area wieder im Griff. Die Verhandlungen der EU mit Amerika laufen. Ein neues Sanktionspaket hat den Kreml zum 18. Mal hart getroffen. Und noch ehe es jemand anders sagen konnte, hat Deutschlands neuer Kanzler bei seiner Sommerpressekonferenz den Nagel in den Sarg von Angela Merkels weltweit einmaliger Flüchtlingspolitik geschlagen. 

Zehn Jahre danach sein klar, dass Deutschland es "offenkundig nicht geschafft" habe, stellte Merz seiner alten Intimfeindin das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Die mit höchsten Ehren aus dem Amt verabschiedete ehemals mächtigste Frau der Welt soll es nun gewesen sein, die für die "erheblichen Schwierigkeiten bei der Integration" verantwortlich ist, die das "Land kaputtgespart" hat, der zu verdanken ist, dass die Steuern und Abgaben zu hoch sind, das Wachstum zu niedrig, die Sozialkassen leer und Ideen dazu, woher denn jetzt noch Rettung kommen könnte, so rar wie nie.

Das Ruder herum 

Friedrich Merz weiß es und er hat es öffentlich bekannt: Seine Regierung wird das Ruder herumreißen müssen. Es ist niemand anderes da als dieser Kanzler ohne Regierungserfahrung und dieser Vize-Kanzler als sein Finanzminister, der niemals zu vor ein Ministerium geleitet oder sich mit Finanzfragen beschäftigt hat. 

Das letzte Aufgebot der so lange so stolzen und von so vielen anderen Staaten beneideten Wirtschaftsnation ist entschlossen ans Werk gegangen. Jetzt aber ist time for a break, Zeit für Strand und Ferien vom Staatsstress. Am Wunder der Wiederauferstehung wird natürlich zu gegebener Zeit weitergearbeitet werden. Aber nicht sofort. 

Acht knappe Wochen Zeit nimmt sich der Berliner Politikbetrieb, um mal runterzukommen vom Dauerwahlkampf um Brandmauern, Verfassungsrichterinnen, Wohnungsbauoffensive und Umstellung auf Kriegswirtschaft. Es werden Monate sein, die auch auf das Land beruhigend zu wirken versprechen: Wenn die Regierenden samt Parlament 50 Tage Ferien vom Staatsstress machen können, mitten in einer weltgeschichtlichen Phase mit multiplen Krisen, dann kann es so übel um die Dinge nicht stehen.

Für Friedrich Merz und Lars Klingbeil aber kommt der Sommerurlaub gerade richtig, um nicht nur  auszuspannen, ein gutes Buch zu lesen und sich an alldem zu erfreuen, was bisher bereits geschafft wurde. Sondern auch, um mal über die Dinge in einem größeren Rahmen nachzudenken.

Besser geht's nicht 

Fakt ist, dass es besser nicht hätte laufen können. Die Stimmung ist zwar noch nicht wie geplant in der ganzen Bevölkerung aus tiefer Depression in Richtung grundlosem Optimismus gekippt. Doch die überwiegend vom Staat finanzierten Wirtschaftsforschungsinstituten sehen schon Licht am Horizont und den Anflug eines Silberstreifens. 

Abgesehen davon, dass niemand wissen könne, was die EU im Zollstreit genau mit Donald Trump aushandelt, wie es an der Ostflanke weitergeht und ob der Karlsruher Richterstreit am Ende nur durch einen Bruch der Koalition gelöst werden kann, gebe es viele Gründe, fröhlich zu sein.

Der Sommer! Sonne! Strand! Nur für Merz und Klingbeil gilt es, im Urlaub strategisch zu denken, um  sich von inneren und äußeren Feinden nicht noch einmal auf dem falschen Bein erwischen zu lassen. Für den Kanzler, heißt es in seinem engeren Umfeld, sei es ein Alptraum gewesen, auf den letzten Metern eines Wahlkampfes, der ihn absehbar ins Kanzleramt führen würde, alle seit Monaten fertigen Pläne und Strategien für den Fall der Regierungsübernahme verwerfen und plötzlich improvisieren zu müssen. 

Umplanen im Urlaub 

Schulden statt Schuldenbremse, it's the rearmament statt it's the economy, kontrollierte statt geschlossene Grenzen und notgedrungene Bücklinge vor Amerika anstelle von selbstbewussten Ansagen. Friedrich Merz, von Haus aus ein politischer Planwirtschaftler, der sich Ziele für abrechenbare Termine setzt, bezog das Kanzleramt als erster neuer Regierungschef ohne durchgerechnete Strategie. Der 69-Jährige war einzig und allein ausgestattet mit dem Eindruck dringender Handlungsnotwendigkeit, nachdem Donald Trump den Verbündeten der USA erstmals deutlich signalisiert hatte, dass es ein Weiterso nicht geben werde. 

Doch was und wie und wozu? Nicht nur im Wahlkampf hatte eine plötzliche Entdeckung des bereit zwei Jahre laufenden Ukrainekrieges als Ereignis mit direkten Konsequenzen für Deutschland keine Rolle gespielt, sondern auch in den Planspielen der CDU-Strategen. Als legendär gelten unter den engsten Mitarbeitern des CDU-Vorsitzenden und seines SPD-Kollegen heute schon die Stunden im Führerbunker, als sich die ganze Wahrheit zu zeigen begann: Schnell und informell hatten sich beide Seiten auf ein zweites und ein drittes Sondervermögen geeinigt. 

Unklarer Umfang 

Unklar erschien allein der notwendige Umfang der neuen Schulden, weil niemand sagen konnte, wofür sie überhaupt gebraucht werden würden, abgesehen von den beiden Hauptzwecken, der Bevölkerung den Ernst der Lage zu verdeutlichen und der Regierung vorsorglich Handlungsspielräume zu verschaffen. Wie viele Panzer die Bundeswehr denn eigentlich benötige, um den Russen zurückzuschlagen, wurde gefragt. 

Doch genau sagen konnte das niemand. Ebenso blieb die Frage unbeantwortet, was so ein Panzer genau koste. Merz habe Klingbeil angeschaut, der den Kopf schüttelte. Jemand habe fragend "Boris?" gesagt, doch der Verteidigungsminister konnte nur mit "drei bis 30 Millionen" antworten.

Letztlich sei gegoogelt worden, wie auch später beim Infrastrukturpaket, bei dem die Wiederaufbaukosten für die Dresdner Carolabrücke in Höhe von 100 Millionen Euro als Grundlage für eine Hochrechnung genutzt wurden, die letztlich auf ein Gesamtvolumen des Infrastrukturtopfes von 500 Milliarden hinauslief. Niemand wusste es besser. 

Großzügig durchgewunken 

Niemand widersprach. Nicht im alten Bundestag, der seinen letzten Dienst am Vaterland leistete, indem er die erst wenige Jahre zuvor von ihm selbst beschlossene Schuldenbremse verwarf. Und nicht in Brüssel, wo die EU-Kommission hofft, für ihr großzügiges Durchwinken der brachialen deutschen Verstöße gegen die völkerrechtlich bindenden Maastricht-Kriterien zu gegebener Zeit mit ähnlicher Großzügigkeit belohnt zu werden.

In den Ferien aber müssen Merz und Klingbeil liefern. Statt durchzuschnaufen, zu wandern und ein erstes Buch über das bisher Geleistete zu schreiben, steht konzeptionelle Arbeit an. Wohin nur mit dem ganzen Geld, das jetzt schon überall fehlt? Wie kann es ausgegeben werden, ohne allzu viel Schaden anzurichten, weil alle, die nichts abbekommen, sich nicht wertgeschätzt, missachtet und zurückgesetzt fühlen werden? 

Durcharbeiten in den Ferien 

Schwere Fragen, die Suche nach Antworten wird dauern. Obwohl Bundeskanzler Friedrich Merz und sein Kabinett seit ihrem Amtsantritt noch nicht einmal hundert Tage absolviert haben, ist im politischen Berlin schon lange nicht mehr die Rede davon, sich in diesem Jahr aufgrund der drängenden Probleme nur ein verkürzte parlamentarische Sommerpause zu gönnen. 

Der Kanzler wird durcharbeiten, aber in aller Stille, beim Nachdenken darüber, wie es weitergehen soll mit den großen Projekten: Wird Frauke Brosius-Gersdorf doch noch Verfassungsrichterin? Wie werden sich Trumps Zölle nutzen lassen, um das vierte Rezessionsjahr zu begründen? 

Samstag, 19. Juli 2025

Zitate zur Zeit: Mit einem offenen Geschwür am Bein

Die Leute fingen an, sich zu fragen, was für ein Ungeheuer auf dem Thron saß. Aber immer noch, wenn Heinrich der Achte durch seine Hauptstadt ritt - ein dicker, blaurot angelaufener Mann mit einem offenen Geschwür am Bein -, jubelte ihm die Menge zu wie vor dreißig Jahren, als er noch der goldlockige Knabe war.

"Lang lebe unser König!" gellte es. Vor dem scheinbar so mächtigen Herrscher, der doch nur ein Spielball politischer und religiöser Wechselströme war, wagte der kleine Bürger nicht aufzumucken. 

Philippa Carr, Geheimnis im Kloster, 1974

Transparente neue Steuer: Fenstersoli gegen die Altersarmut

Transparente neue Steuer: Fenstersoli gegen die Altersarmut
Ein Fenstersoli ("Fenstersteuer") wäre nur gerecht: Wer auf großem Fuß mit viel Licht lebt, müsste seinen Teil zur Finanzierung einer auskömmlichen Rente für alle beitragen.

Es sollte alles ganz flott über die Bühne gehen, so rasch, dass zumindest noch ein paar Reste des alten Systems da sind, die hinübergerettet werden können in das neue. Aber wie soll das aussehen? Wer soll es bezahlen? Wer die vielen Widerstände überwinden, die zwischen denen stehen, die auf ihre zugesicherten Besitzstände nach 20, 30 oder 45 Jahren Beitragszahlerei pochen? Und denen, die nur wenig eingezahlt haben, mit den daraus resultierenden Renten aber nun  von jeder vernünftigen Teilhabe ausgeschlossen sind?

Finanznöte der Sozialversicherung 

In den Koalitionsverhandlungen hatten sich Union und SPD beschlossen, schnell zu machen, aber nichts üebrs Knie zu brechen. Die Finanznöte der Sozialversicherung, hieß es, seien nicht in einem Jahr entstanden, sondern in zehn, zwanzig oder 30. An die Verantwortlkichen komme jetzt niemand mehr heran, deshalb werde nur der mühsame demokratische Weg blieben: Expertenkommissionen, Parlamentsanhörungen, Talkshowauftritte der Verfechter verschiedener Lösungen, die alle keine sind.

Die Beamten in die Solidaritätspflicht zu nehmen, wagte niemand ernsthaft. Eine als "Boomer-Soli" verkaufte neue Strafsteuer für alle Rentner mit mehr als 1.078 Euro Monatseinkommen gefiel dern Grünen, denn sie schöpften Hoffnungen, dass derart ausgenommene Senioren sich umgehend sowohl von SPD als auch von den Unionsparteien abwenden würden. Aus demselben Grund fiel der Vorschlag bei den beiden Regierungsparteien sofort durch. Merz und Klingbeil hatten die Fallstricke sofort erkannt und beschlossen, darüber nicht auch noch zu stolpern.

Guter Rat wird immer teurer 

Statt in Hektik auszubrechen, weil guter Rat immer teurer wird, beschlossen beide, aufs Tempo zu drücken und vor der parlamentarische Sommerpause gar nichts mehr zu tun. Acht Wochen Ferien, kündigte Merz auf seiner sommerlichen Pressekonferenz in Freienstimmung an. Danach könne die Zeit wieder drängen, die Diskussion um die Demographie fortgeführt werden und die Probleme müsse man dann "auch schneller lösen, als wir sie im Augenblicke meinen lösen zu können."

Nötig wäre dazu eine neue Art der Finanzierung der Defizite der Rentenversicherung, günstigstenfalls so angelegt, dass sie die Löcher in der Rentenkasse stopft, ohne dass das Geld jemandem weggenommen wird, der es selbst brauchen könnte. Der Solidarökonom Marius Quatscher hat mit einem Forscherteam de Climate  Watch Institutes (CWI) im sächsischen Grimma entsprechende Vorschläge ausgearbeitet. Nichts ganz neu, aber bewährt. Die Idee: Nicht wer im Alter horrend hohe Einkommen von mehr als 1.078 Euro im Monat hat, soll einen kleinen Teil davon an ärmere Rentner abgeben. Sondern wer sichtlich auf großem Fuß lebt. 

Eine Kolumne von Marius Quatscher 

Die Rentenversicherung in Deutschland steht vor einer dringenden Reform. Eine Fenstersteuer, wie sie historisch in mehreren Ländern existierte, könnte eine innovative Lösung bieten, um Altersarmut zu bekämpfen, ohne die jüngere oder die ältere oder auch nur die mittlere Generation weiter zu belasten, wie es andere aktuelle Vorschläge je nach politischer Colour der Vorschlagenden vorsehen. 

Es führt kein Weg an der bitteren Erkenntnis vorbei, dass die Alterung der Gesellschaft und der demografische Wandel keine fürchterlichen Zukunftsszenarien mehr sind. Sie sind Realität und stellen eine akute Herausforderung für die gesetzliche Rentenversicherung und damit für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft dar. 

Die zentrale Frage lautet: Wie können wir die Kosten dieser strukturellen Veränderung so verteilen, dass die, die zahlen sollen, sich nicht noch mehr ausgenommen fühlen? Und die ihr Leben lang viel weniger eingezahlt haben, dennoch genug herausbekommen, dass sie auch bei der nächsten Bundestagswahl wieder demokratisch wählen?

Zu wenig Geld, zu wenig Ideen 

Es hilft wenig, über soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Notwendigkeiten und politisch tragfähige Lösungen zu schwadronieren. Alle bisherigen Ansätze der Rentenpolitik – kein höheres Renteneintrittsalter, steigende Renten und an Haltelinien festtackerte Beitragssätze – ändern nichts am Grundproblem. Es ist zu wenig Geld da, auf das zu viele ein Anrecht haben, zumal die, die keins besitzen, auch bedacht werden müssen. Natürlich lässt sich die jüngere Generation leicht immer weiter belasten. Kaum ein heute 25-Jähriger überblickt die Konsequenzen, zumal die fehlenden Rentenbillionen bis 2050 bei TikTok und Instagram kein Thema sind.

Der Staat könnte also weiterwurschteln wie gehabt, Lasten in die Zukunft verschieben und angesichts der Gefahr eines russischen Angriffs im Jahr 2029 davon ausgehen, dass sich die Rentenfrage in wenige Jahren von selbst gelöst haben wird. Doch das ist weder nachhaltig noch generationengerecht. Es braucht eine neue Verteilungsperspektive. Nicht nur zwischen Jung und Alt, sondern auch innerhalb der älteren Generation von Vermögenden zu Bedürftigen.

In England längst bewährt 

Hier setzt der Vorschlag einer Fenstersteuer an, den das Climate Watch Institut (CWI) unter meiner Leitung entwickelt hat. Diese Steuer, die auf die Anzahl der Fenster in Wohnhäusern erhoben wird, könnte gezielt Einnahmen generieren, um Altersarmut zu reduzieren, ohne die Erwerbstätigen zusätzlich zu belasten. Die Idee ist simpel und er wurde in England, Frankreich und den Niederlanden bereits über lange Zeiträume erprobt: Eine moderate Abgabe, die auf Wohnhäuser mit vielen Fenstern – ein Indikator für größere und wertvollere Immobilien – erhoben wird, könnte die Rentenkasse stärken und höhere Rentenansprüche für Menschen mit niedrigen Alterseinkommen finanzieren.

Da der Fenstersoli einkommensunabhängig erhoben wird, blieben soziale Härten aus. Berechnungen des CWI zeigen, das eine solche Steuer die Armutsrisikoquote im Alter von 18 auf etwa 14 Prozent senken könnte, wenn die Einnahmen gezielt in die Rentenkasse fließen. Dabei bliebe die Belastung für mittlere und kleinere Immobilienbesitzer moderat – oft unter vier Prozent des Immobilienwerts, ausgedrückt als  Jahresmiete durch Fensteranzahl. Gedacht ist an eine Grundabgabe von etwa 50 Cent pro Quadratmeter Fensterfläche. Über den deutschen Fenstergesamtbestand gerechnet ergibt sich daraus laut CWI-Prognose eine Gesamteinnahme von etwa fünf bis neun Milliarden Euro jährlich.

Mehr Fenster, mehr Wohlstand, mehr Steuer 

Sozial vollkommen verträglich gestaltet. Mehr Fenster bedeutet eine höhere Abgabe, wer weniger hat, spart deutlich. Im Gegensatz zum historischen Vorbild, das in England zwischen 1696 bis 1851 erhoben wurde, wäre eine moderne Fenstersteuer jedoch so zu gestalten, dass sie soziale Härten vermeidet. Eine progressive Staffelung würde nicht nur die Anzahl der Fenster, sondern auch deren Größe berücksichtigen.

Kleine Fenster, wenig Steuer, große Panoramafenster höhere Sätze – mit dieser Formel würden wohlhabendere Haushalte stärker einbezogen, ohne ärmere übermäßig zu belasten. Im Gegensatz zu anderen Reformvorschlägen, die nur Senioren belasten, hätte die Fenstersteuer den Vorteil, dass sie unabhängig von der Einkommenshöhe ist, weil sie nur auf Mieter von Wohnungen oder Eigentümer von Häuser rekurriert und deren Fensteranzahl zum Maßstab für den fälligen Solidaritätsbeitrag nimmt. 

Auch zugemauerte Fenster 

Die historische Lehre, die dabei zu beachten sein wird, ist einfach: In früheren Fenstersteuerstaaten kam es dazu, dass Fenstersteuerpflichtige ihre Fenster zumauerten, um Steuern zu sparen – mit gravierenden sozialen Folgen wie Lichtmangel und Gesundheitsproblemen. Das wäre einfach zu vermeiden, indem der Gesetzgeber von Anfang an klarstellt, dass auch zugemauerte Fenster steuerpflichtig bleiben. Steuervermeidung zum Schaden der Solidargemeinschaft wäre damit wirksam der Weg verstellt.

Simulationen des CWI zeigen: Die Fenstersteuer ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Durch die Bekämpfung von Altersarmut würde die Kaufkraft einkommensschwacher Rentner steigen, was die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbelt. Mehr Menschen könnten in größere Wohnungen mit mehr Fenstern ziehen, dadurch würden die Einnahmen steigen, die zur Stabilisierung des Rentensystems zur Verfügung stehen. Das stärkt das Vertrauen in den Sozialstaat, was langfristig das Wirtschaftswachstum und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. 

Satz je Quadratmeter Glas

Im Vergleich zu komplexen Änderungen der Rentenformel, die verfassungsrechtlich und administrativ aufwendig sind, ist die Fenstersteuer einfach umsetzbar. Sie könnte über das Steuersystem schnell eingeführt und bei Bedarf flexibel angepasst werden, da der Satz je Quadratmeter Fenster je nach Finanzbedarf jeweils im Jahressteuergesetz festgelegt werden könnte. Zudem würde sie gezielt jene einbeziehen, die auf großem Fuß leben, weil sie von den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders profitiert haben. 

Im Gegensatz zum mittelalterlichen England oder dem royalen Frankreich der Zeit vor der europäischen Einigung wäre heute auch der Aufwand zur Steuer-Steuerung überschaubar. Moderne Kontrollmechanismen wie Luftbildaufnahmen oder digitale Katasterdaten würden eine einfache Erhebung ermöglichen, ohne die Privatsphäre der Bürger über Gebühr zu verletzen. Nahezu jeder Bürger würde zudem profitieren. Eine stabile Rente, auskömmlich und zukunftsfähig, vermindert gesellschaftliche Friktionen, indem sie die Last des demografischen Wandels gerechter verteilt.

 

Riesiger Vorteil zu  bisherigen System

Ein riesiger Vorteil zum bisherigen System. Das lastet den Druck der fehlenden Finanzmittel fast ausschließlich dem Politikbetrieb auf. Der soll mit "Reformen" gegen die Mathematik anregieren, ein System, das nur von einem Teil seiner Anspruchsberechtigten finanziert wird, immer wieder retten, ohne Zahlungsfähige so viel stärker zu belasten, dass sie auf die Seite der Solidarbedürftigen wechseln.

Über den Fenstersoli wären die, die von günstigen Wohnkosten, stabilen Arbeitsmärkten und einem starken Sozialstaat profitiert haben, zur Zahlung eines Beitrages zur Sicherung des Generationenvertrags verpflichtet. Gerade wer in Bad und Küche Fenster hat, kann den eigenen Beitrag zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht mehr künstlich klein halten.

Pragmatisch, gerecht und wirtschaftlich sinnvoll  

Eine Fenstersteuer ist ein pragmatisches, gerechtes und wirtschaftlich sinnvolles Instrument, um Altersarmut zu reduzieren und die Rentenfinanzierung nachhaltig zu sichern. Deutschland steht vor einer sozialpolitischen Herausforderung: Die Alterung der Gesellschaft, gepaart mit dem nahenden Ruhestand der geburtenstarken Jahrgänge, stellt die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung auf eine harte Probe. 

Die zentrale Frage lautet: Wer trägt die Kosten dieses demografischen Wandels – werden es die Bürger sein? Oder die Steuerzahler? Springt der Staat ein? Und geht es sozial gerecht und zukunftsfest zu? Die Zeit für kleine Korrekturen ist vorbei – es braucht Mut für eine gerechte Altersvorsorge, die alle einbezieht. Die neue Bundesregierung sollte diesen Vorschlag ernsthaft prüfen. Das ist erforderlich, um die Stabilität des Sozialstaats, den Erhalt des Wohlstands und den Generationenvertrag zu sichern.