Mittwoch, 13. August 2025

Ritterliche Bundeswehr: Ohne Drohne auf dem Feld der Ehre

Bundeswehr, Weltraumkommando, Drohnenflotte, Boris Pistorius, Zeitenwende, Leopard-Panzer, Friedensdividende
Die Bundeswehr hat ein Weltraumkommando, aber keine Drohnenflotte. Auf moderne Kriegführung ist das neue Massenheer von Boris Pistorius nicht eingerichtet.  

Ob der drohende Frieden wirklich kommt, mit Friedhofsruhe an der Ostfront, oder ob sich die Europäer mit ihrer Forderung an den US-Präsidenten durchsetzen, das Völkerringen an der Ostflanke nicht ausgerechnet jetzt zu beenden, wo die EU beschlossen hat, die Ukrainer weiterhin bei ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen, weiß niemand.  Trump agiert ohne Absprache und Rückendeckung, seine Verbündeten müssen wie ihre Feinde Rätselraten, was genau er bezweckt und wie sie sich taktisch am klügsten verhalten, um ihn nicht zu verärgern.  

Leben von der Friedensdividende 

Es hängt viel davon  ab, dass das gelingt, gerade für das alte Europa, den Kontinent, der sich darauf eingerichtet hatte, bis in alle Ewigkeit von der Friedensdividende der 90er Jahre zu leben. Keine Rüstung mehr, nur noch symbolische Armee.  Die Heere in der Produktion, wo sie fleißig Maschinen, Anlagen und Markenware für die ganze Welt produzierten. Der Mechanismus der Weltwirtschaft war ein einfacher: Deutschland und China lieferten Dinge, die USA kaufen sie mit Geld, das sie sich von den beiden Lieferländern geborgt hatten, denn die verfügten dank ihrer Exportüberschüsse über jede Menge davon. China bekam im Gegenzug US-Investitionen. Europa bekam militärischen Schutz.

Ein Modell, das der russische Angriff auf die Ukraine nachhaltig zerstörte, ehe es der neue US-Präsident Donald Trump in den Abfalleimer der Geschichte warf. Seine Überkapazitäten würde China, so hofften die Europäer, künftig dazu nutzen, die EU preisgünstig zu versorgen. Die eigenen aber würden umgestellt auf Waffen, Munition, Panzer und Raketen. 

Im stählernen Stachelschwein 

Das "stählerne Stachelschwein", das die frühere deutsche Verteidigungsministerin  Ursula von der Leyen als EU-Chefin zum Leitbild ausgerufen hatte, es würde ganz und gar europäisch gerüstet sein. "Re-armed", wie es die Frau nennt, die aus den seinerzeit noch kampftauglichen Resten der Bundeswehr eine Trachtentruppe gemacht hatte, die kaum mehr über zwei Bataillone in Stiefeln  verfügte.

Das muss jetzt alles anders werden. Nicht seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, sondern seit dem amerikanischen Überfall auf den ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus ist wirklich Zeitenwende. Boris Pistorius, ein ehemaliger Gefreiter, marschiert voran. Sein Ziel ist es, die deutschen Streitkräfte bis zum erwarteten Angriff der Russen im Zeitraum 2028 bis 2030 massiv auszurüsten. Für bis zu 25 Milliarden Euro sollen neue Panzer und Fahrzeuge bestellt werden. Der Wirtschaftsdienst "Bloomberg" hat aus den Investitionssummen, mit denen Pistorius plant, die Anschaffung von 1.000 Leopard-2-Panzer und 2.500 Kampffahrzeugen errechnet. 

Das Weltraumkommando zu Fuß 

Mehrere neue Nato-Brigaden seien auszurüsten, sieben soll Deutschland bis 2035 stellen. Im Jahr 2021 hat Deutschland zugesagt, bis 2030 zehn Einheiten zu je 5.000 Soldaten kampfbereit zu machen. Acht sind zumindest auf dem Papier so weit, die Rumpftruppe der neunten steht in Litauen auf, sie soll ab 2027 gefechtsbereit sein. 

Auf der Hardthöhe, von der aus die Bundeswehr im kalten Krieg schon ihre Beteiligung an einem denkbaren Dritten Weltkrieg geplant hatte, wird der Begriff bis heute traditionsbewusst verstanden. Das Verteidigungsministerium hat sich zwar bereits vor zwei Jahren ein eigenes "Weltraumkommando" zugelegt. Doch das muss mangels deutscher und europäischer Raumflugkapazitäten noch auf unabsehbare Zeit weiter als Kostümeinheit exerzieren.

Der letzte Versuch, 80 Jahre nach der ersten V2 wieder ein Geschoss bis ins Weltall zu bringen, war im Frühjahr tragisch gescheitert. Zuvor schon hatte sich die neue "Ariane" als Rohrkrepierer erwiesen. Boris Pistorius setzt deshalb auf Waffen, die am Boden bleiben: Leopard-Panzer und Boxer-Schützenpanzer, hergestellt von Rheinmetall und KDNS, rollen gegen den in der Ukraine zu beobachtenden Trend an, Kriege ferngesteuert mit Drohnen zu führen. 

Deutschland braucht keine Drohnen  

Diese unbemannten und vielfältig einsetzbaren Flugkörper haben sich an der Ostflanke als Hauptwaffe für alle Einsatzfälle entpuppt. Sowohl die Ukraine als auch Russland setzen kleine, größere und ganz große Drohnen zur Aufklärung ein, im Luftkampf und zur Bekämpfung von Bodenziele. Die billig, aber massenhaft hergestellten Flieger sind als Kamikaze-Drohnen im Einsatz und als Ersatz für Aufklärungstrupps. Die beiden kriegsführenden Seiten setzten täglich hunderte Drohnen ein, große Fabriken liefern einen nie nachlassenden Strom an Ersatzflugkörpern, die beständig verbessert werden. Ohne Drohnen, so sagen Soldaten auf beiden Seiten, wäre dieser Krieg nicht zu führen. Die Seite, die keine einsetzen würde, hätte ihn binnen weniger Wochen verloren.

Das sind Nachrichten, die im deutschen Verteidigungsministerium skeptisch betrachtet werden. Hier, wo der moderne Panzerkrieg erfunden wurde, mag sich heute noch niemand vorstellen, dass der nächste Krieg mit dem Joystick oder gar automatisch von Künstlicher Intelligenz geführt wird. Mit einem Verteidigungshaushalt von aktuell 62,43 Milliarden Euro hat sich die Bundeswehr bisher rund 600 Drohnen zugelegt. Nicht alle gehören ihr, viele sind geleast. 

Unmoralischer Fernkrieg 

Die meisten sind unbewaffnet, weil Grüne und SPD den ferngesteuerten Krieg für unmoralisch halten - aus Sicht der beiden Parteizentralen müssen in einem ehrlichen Kampf Soldaten Mann gegen Mann antreten, es muss Blut fließen und Menschen müssen aus Gründen von Moral und Völkerrecht zahlreich sterben.

Unter dem Druck der Frontlage sind die völkerrechtlichen, verfassungsrechtlichen und ethischen Bedenken gegen eine Kriegsführung  nach der Art des 21. Jahrhunderts zwar vollkommen verstummt. Doch ungeachtet dessen halten die deutschen Kriegsplaner an der romantischen Vorstellung fest, dass der Abwehrkampf gegen die 2028 oder spätestens 2030 angreifenden Russenheere mit ihren klapprigen Restbeständen an fehlender Munition, kaputten Panzern und Rollstuhlsoldaten wie gehabt auf dem Feld der Ehre geführt wird. 

Ehrlich Mann gegen Mann 

Aus dem Panzer und dem Schützenloch, in der Luft geschützt von den Urenkeln des roten Barons in  35 brandneuen Kampfjets des Typs Lockheed Martin F-35A Lightning II, die planmäßig ab 2026 2027 geliefert werden, soll der Endkampf gegen den Aggressor stattfinden. Allen aktuellen Plänen zufolge sind für das kommende Jahr 82,69 Milliarden Euro an Rüstungsausgaben eingeplant, für 2027 93,35 Milliarden Euro und für das Jahr 2028 sogar 136,48 Milliarden Euro. Doch der Kampfwert von Drohnen erscheint den Pistorius' Einsatzplanern weiterhin so zweifelhaft, dass die Bundeswehr  zunächst nur in kleinem Maßstab Drohnen anschaffen wird, um selbst zu testen, ob es stimmt, dass Drohnen die Kriegsführung revolutioniert haben. 

Nur nichts übers Knie brechen. Und nicht einem regelrechten Hype folgen, der in einem Bereich stattfindet, in dem die Bundeswehr vor mehreren Jahrzehnten weltweit führend war, ehe die Truppenplaner beschlossen, dass deutsche Soldaten ehrlich kämpfen und "der beklagenswerte Ausstattungsstand der deutschen Streitkräfte" (hartpunkt.de) auf diesen Bereich ausgeweitet werden muss. 

Allen Zeitenwenden zum Trotz 

Allen Zeitenwenden zum Trotz hielt die alte und hält auch die neue Bundesregierung, bekannt geworden für die Vielzahl in kürzester Zeit gebrochener Versprechen, in diesem Bereich Kurs: Bei Waffenkäufen wird aufs Tempo gedrückt, doch um gegen die russische Bedrohung gewappnet zu sein, stattet die Bundesregierung die deutschen Verteidiger ausschließlich mit den Waffen aus, die vor 84 Jahren erfolgreich beim deutschen Vormarsch Richtung Moskau eingesetzt wurden. 

Eines Tages sollen zwar "alle deutschen Soldaten Drohnen einsetzen" können. Bisher aber dienen die beiden einzigen Verträge zur Belieferung der Truppe mit sogenannten Kamikaze-Drohnen allein dem Erprobungsbetrieb -  im Unterschied zu anderen Streitkräften ist die deutsche Armeeführung noch keineswegs überzeugt davon, es hier mit der wichtigsten Waffe der Zukunft zu tun zu haben. 

Die technologische Revolution der Kriegsführung führt in Deutschland nicht zur Gründung einer neuen Waffengattung und nicht einmal zur Ausstattung der bestehenden Teilstreitkräfte mit bewaffneten Drohnen und Drohnen zur Drohnenabwehr.

Ritterlich in den nächsten Krieg 

In den nächsten Krieg, der allen Planungen der obersten Heeresführung zufolge nur noch 36 Monate entfernt liegt, wird die Bundeswehr wie gehabt in Panzer und Schützenpanzer in die Schlacht ziehen, als hochmoderne Truppe daran erkennbar, dass diesmal keine Pferdefuhrwerke mehr eingesetzt werden. Offen und ehrlich und Mann gegen Mann, so ritterlich plant Deutschland das Abendland zu verteidigen, ohne neugierige Blicke von oben auf die eingegrabenen und verbunkerten Stellungen des Gegners und ohne hinterlistige Angriffe bewaffneter Drohnen.

Stacheldraht und Peitsche: "DDR, ich vermisse sie!"

Als es den Bundesgrenzschutz noch gab, warnte er kurzangebunden vor einem Verlassen der damals noch BRD genannten Bundesrepublik.

Es ist ein Tag wie jeder andere, nicht einmal rund. Das muss nicht gefeiert werden. Das Jubiläum des Mauerbaus damals in der DDR fällt diesmal ins Sommerloch. Kaum Bilder von Kampfgruppenkommandos im Kampf gegen den Faschismus. Kaum Aufregung über historische Parallelen, die nur mit einem bösartigen Blick zu entdecken sind. Der Sozialismus, zu Lebzeiten gezwungen, seine Untertanen einzusperren und mit seinem Tod zu einer der vielen abscheulichen Voodoopuppen in der Leichenhalle der Geschichte vertrocknet, hat seinen Ruf längst wieder aufpoliert.

Der Sozialismus, Deine Welt 

Nur ihm allein, so heißt es bis in die Kreise, die sich selbst zur demokratischen Mitte ihrer Demokratie erklärt haben, sei zuzutrauen, dass er alle Probleme lösen könne. Gerechtigkeit und Glück, Geld genug für jeden, Klima, Gleichheit, Kredite, was auch immer. Wenn der Sozialismus im nächsten Anlauf zu einem großen Menschenversuch endlich richtig umgesetzt werden, kläre sich alles von selbst. "Alles allen, bis alles allen ist", war eine Forderung der jung verstorbenen Bewegung der Klimakinder. Eigentum ist Diebstahl. Nur offene Grenzen für jedermann können bewirken, was die geschlossenen Grenzen damals nicht vermochten.

Wer war schuld, wer hat's verbrochen? Wer hat sein Volk eingemauert und sich selbst aus der Gemeinschaft der Demokraten ausgeschlossen? Der Sozialismus, diese noch etwas mühselige Vorstufe des Kommunismus, war es jedenfalls nicht. Ihm innewohnend ist ein großes Maß an Souveränität, denn er muss nicht mehr mühsam produzieren, Technologien entwickeln und nach Besserem streben, weil er das Bessere ist. Gesine Lötzsch, eine der Altvorderen der heutigen Linkspartei, hat es vor Jahren schon beschrieben: "Bildung, Gesundheit, Pflege, Kultur sind die wichtigsten Beschäftigungsmotoren der Zukunft und die Basis einer modernen Volkswirtschaft". Selbstbeschäftigung wird großgeschrieben, Warenhandel möglichst klein.

Ein taktischer Fehler 

Wer braucht das noch. Es war damals ein taktischer Fehler der DDR-Führung, als sich Walter Ulbricht gegen den Rat aus Moskau durchsetzte und die Mauer um sein Volk herumbaute. Erst geschützt vor schädlichen Einflüssen, vor Hetze, Hass und über die Medien gestreute Fake News und Zweifel konnte im Schatten der Mauer am richtigen Sozialismus gebaut werden. Familien wurden getrennt, Genossen standen vereint. Es gab ein böses und ein besseres Deutschland. 

Hüben turnte Ulbricht, ein Mann aus dem Volk. Drüben war Willy Brandt zu sehen, mit gefurchter Miene, gebeugt unter Last der Geschichte. Kennedy, ausgetrickst von seinen kommunistischen Gegenspielern, die ihn vorher informiert hatten, er aber nicht seine Freunde in Bonn. Ein verwirrendes Geschichtskapitel, das mehr Schachspiel um die Macht in Mitteleuropa war als Armdrücken am Checkpoint Charlie. Im Rückblick schrumpelt alles auf zwei Sätze zusammen: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen" und "Ich bin ein Berliner". 

Schaut auf diese Stadt


Nie wird mehr gelogen als vor dem Krieg und nach dem Ende einer Beziehung. Ulbricht hatte die Absicht und Kennedy war nie Berliner. Ernst Reuter rief: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt! Und was ihm seinerzeit hoch angerechnet wurde, wäre heute Ausweis einer rückwärtsgewandten völkischen Ideologie. Völker? Was soll das sein? Der moderne Interessenstaat kennt nur noch eine Bevölkerung.

In Berlin, der Hauptstadt des Bevölkerungstaates, kam es am 13. August 1986, der heute auch kein rundes Jubiläum hat, zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Ost-Offizieren und West-Abgesandten. Nach "provokanten Ausschreitungen ehemaliger DDR-Bürger gegenüber Ostberliner Grenzsoldaten" hatte die DDR-Seite die West-Polizei zur Entgegennahme einer Protestnote an den Mauerstreifen geladen. Niemand wusste so richtig, ob man einander und wenn ja, wie man sich begegnen sollte. Jeder Handschlag hätte wie Verbrüderung gewirkt. Jeder Blick roch nach Augenhöhe.

Blut in Bernau 

Ein Offizier, der in einem kurzen Beweisfilm des längst vergessenen historischen Ereignisses aussieht, als hätte ihn der große deutsche Regisseur Dieter Wedel auf der Castingcouch für ein Doku-Drama mit dem Titel "Stacheldraht und Peitsche - Blut in Bernau" entdeckt, liest empört, aber flüssig, eine dringende Mahnung vor, dass es so nicht weitergehen kann. Der Westberliner Polizist, den ein gnädiges Schicksal in diese und nicht in die andere Uniform gesteckt hat, lauscht aufmerksam und liest dann seinerseits ohne Stocken und Betonung vor: "Ich weise Sie darauf hin, dass dieses Treffen rein technischer Natur war."

Bei Youtube hat ein Nutzer unter das bizarre Filmchen "DDR, ich vermisse sie!" geschrieben, ein Hilfeschrei voller Sehnsucht nach etwas, das es nie gegeben hat. Auf die Mahnung eines Spätergeborenen, dass die Mauer gar nicht existiert habe, wenn aber doch, nicht so schlimm gewesen sei, versetzt ein anderer "Ich wusste es doch, ein Wessi, der seine Bildung nur aus den Medien hat. Deine Südfrüchte kannste behalten und Steine und Mörtel hab ich noch. Bin schon fleißig am Bauen. Schönen Abend noch und bitte bleib auf deiner Seite." 

An der Youtube-Grenze


Lässt man sich weitertreiben, entlang der flimmernden Youtube-Grenze, bekommt das Leiden ein Gesicht. "Leise erklingt ein Lied im Grenzgebiet", jodelt ein singender Grenzssoldat zur Gitarre. Grün war seine Waffenfarbe, groß ist nun die Sehnsucht nach schlechten alten Zeit.

Hubertus Knabe, ein West-Folklorist, der sein Auskommen nach dem Ende der Mauer mit Hilfe der DDR fand, hält es schon lange für höchste Zeit, ein bisschen DDR auch im neuen, schöneren Deutschland zu pflegen. Dass sich Menschen in DDR-Uniformen auf dem Pariser Platz zurechtstellen, um sich gegen Geld von Touristen fotografieren zu werden, müsse schleunigst unterbunden werden, urteilte er vor Jahren, angewidert von einem Zustand, der die DDR-Diktatur zu einer Folkloreveranstaltung machte. 50 Jahre nach dem Mauerbau sei es an der Zeit, dass die Bundesregierung "dieses geschmacklose Treiben" verbiete, erklärte Knabe, denn er "kenne kein anderes Land, in denen man in den Uniformen einer gestürzten Diktatur auf der Straße frei herumspazieren kann."  

Zwar ist das sowohl in Russland als auch in den USA möglich, auch Ungarn, Polen, Frankreich und Spanien gehen nicht gegen Träger von Diktaturuniformen vor und China verlangt von seinen Soldaten sogar, sie im Dienst zu tragen. Doch Knabe hält es da mit den anderen Diktaturvergleichern, die stets zur Stelle sind, um Parallelen zu entdecken, wenn es passt. Nie aber, wenn es Parallelen zu entdecken gibt. Zweifellos wäre es zum Schutz der Demokratie notwendig, ein Gesetz vorzulegen, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ein Verbot des öffentlichen Tragens von DDR-Uniformen schafft. 

Die Bundesregierung, geplagt von allerlei Bewerbchen, könnte damit deutlich zeigen: Größere Sorgen haben wir nicht.

 
Es war nicht alles schlecht
Mauerfall: Wir feiern raus
Tanz an der tragenden Wand
"...konnten wir manche ökonomischen Gesetze nicht einhalten"
Pissen verboten: Neues vom Unrechtsstaat
Hurra, sie ist wieder da: Pilgern zur Pappmauer
Mielkes miese Mauerdrähte
Die DDR ist größer als der Rest der Welt
Triumph der Republik, die sie DDR nannten
Aderlass im Anschlussgebiet
Ja, so schön ist Panama
Weil heute Dein Geburtstag ist




Dienstag, 12. August 2025

Sie ist wieder da: Die beste aller Bundesrepubliken

Das beste aller Deutschlands
Sie ist wieder da: Das beste aller Deutschlands ist auch die beste aller Bundesrepubliken. 

Wenn es kein anderer tut, muss man es eben selber machen. Das ZDF ihre deutsche Börsenreporterin Sina Mainitz in Marsch gesetzt, um zum Kern der Dinge vorzubohren. Dominik H. Enste, ein Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsethiker, der als Leiter des Clusters Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik an Marcel Fratzschers Institut der deutschen Wirtschaft in der Durchhaltparolenproduktion tätig ist, liefert bei solchen Anfragen prompt und passgenau. Positivismus ist Enstes Fachgebiet, seine rosarote Brille legt der 58-jährige Illusionskünstler aus Arnsbach niemals an.  

Augenzu und durch 

Den anhaltend schlechten Nachrichten von der Wirtschaft, aus der gespaltenen Gesellschaft und aus dem westlichen Bündnis setzt Enste ein klares Augenzu und  besser woanders hinschauen entgegen. Schon vor Jahren, als Deutschland erstaunt auf sich selbst schaute und plötzlich bemerkte, welche verheerenden Schäden die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie angerichtet hatten, tröstete der Ökonom neuen Typs. Deutschland stehe im Vergleich sehr gut da, "sowohl was den Zusammenhalt angeht als auch das Vertrauen in die Politik oder Wirtschaft", hatte Enste herausgefunden. "Das ist auch das Ergebnis von 75 Jahren positiver Wohlstandsentwicklung."

Die ist seitdem beendet, aber die Mission des Wirtschaftsvoodoopriesters nicht. Wie alle bei ZDF und ARD hat auch Sina Mainitz Enstes Nummer unter "Besser geht's nicht" abgespeichert. Immer, wenn Schlagzeilen aus einer Parallelwelt gebraucht werden, in der Deutschland nicht abschmiert, auf die Inflation keine Rezession folgt, die Lage nicht ausgerechnet für die einst so stolze Exportnation besonders düster ist und  die Renten-Krise mal wieder zum Wohlstandsverlust für alle führen muss, wird Dominik Entse angerufen. 

Kein Grund zum Meckern 

Egal, wie es ist, es ist sehr gut.
Der bestätigt dann selbst noch aus der Sauna, aus dem Strandkorb oder dem spanischen Steakhouse auf Sylt, was alle ohnehin jeden Morgen beim Aufstehen als Allererstes vermuten: "Den Deutschen geht es besser denn je". Für all das "Gemecker übers Wetter, Inflation, Krisen" (Mainitz) gibt es keinen wirklichen Grund. Denn "objektiv gesehen hat es nie eine bessere Zeit zu leben gegeben" sagt Dominik Entse, der Verhaltensökonom ist und es sicher besser weiß als alle, die ein ganz anderes Gefühl haben.

Man müsse sich doch nur umschauen, um die Wahrheit zu sehen.  "Wir sind immer noch eines der Länder mit der besten Gesundheitsversorgung weltweit", sagt Enste und er betont das "noch". Aus der Hoffnung, dass das noch eine Weile so bleiben könne, könne Hoffnung ziehen, wer an Märchen glaubt. Vertrauen ist die Grundlage von allem, und wem könnte das Volk mehr vertrauen als dem nächsten Kanzle, der ein neues Wirtschaftswunder verspricht, sich zumindest öffentlich grundlos optimistisch zeigt und bei seinen seltenen Auftritten im Inland regelrecht entkoppelt von der Realität wirkt?

Tiefes Misstrauen 

Eine Mehrheit der Menschen hielt schon den Umgang der Ampel mit der Wirtschaftskrise für inkompetent, teils sogar undemokratisch. Eine noch größere Mehrheit spricht der aktuellen schwarz-roten Koalition die Fähigkeit ab, das Richtige zu tun. Aus den hohen Umfragewerten der AfD sind noch höhere geworden, die ein tiefes Misstrauen gegenüber der Arbeit der Regierung bezeugen.

Das ZDF als eine jener "Institutionen, die mit öffentlichen Mitteln arbeiten", wie Kulturstaatsminister Wolfgang Weimer die staatsnahe Institution beschrieben hat, sieht sich in der Verantwortung dafür, die Lage schön zu zeichnen. Und jemand wie Dominik Enste ist erste Adresse, wenn es darum geht, mit Durchhalteparolen gegen die Realität zu argumentieren. 

Besser als gut 

Am Fratzscher-Institut haben sie zu diesem Zweck schon das Recht auf Wohnen zu einem Recht aus urbanes Wohnen für alle abgeleitet. Sie haben der Generation X ins Stammbuch geschrieben, dass sie die "positiven Effekte einer Haushaltshilfe unterschätzt" und sich besser umgehend eine zulegen. Und sie haben den 40 Prozent der Deutschen, die  sämtliche Alternativen zum Umbau der Alterssicherung als ungerecht empfinden, nachgewiesen, dass dabei einem "entscheidungstheoretisch gut nachgewiesenem Trugschluss" unterliegen, "dass man die Wahl hätte zwischen der sicheren Alternative, den Status Quo beizubehalten, und einer unsicheren Zukunftsalternative".

Gar nicht. Dominik Enste knüpft an Angela Merkels Zusicherung von  2015 an, dass "unser Deutschland das schönste und das beste Deutschland, das wir haben" ist. Mag das Land, "in dem wir gut und gerne leben" auch als einiges von wenigen weltweit seit fünf Jahren kein Wirtschaftswachstum mehr vorweisen können, mag es auch gesellschaftlich tiefer denn je gespalten sein und zerfressen vom Neid zwischen Ost und West, Jung und Alt und Rechts und Links. 

Teure Billigtarife 

"Wir zahlen weniger Geld für Handytarife als noch vor vielen Jahren, fliegen verhältnismäßig günstig in den Urlaub, haben ein Riesen-Angebot an Musik oder Filmen, die wir kostengünstig streamen können", hält Dominik Enste den Skeptiker entgegen, für die jedes Glas immer nur halbleer ist.

"Nie gab es eine bessere Zeit zu leben als heute", sagt der Forscher und er erinnert die Bürgerinnen und Bürger damit an eine längst vergangene Zeit als eine beim Weltwirtschaftstreffen in Davos vorgestellte Studie die Sache auf den Punkt brachte: Eine einzigartige Mischung aus "guter Führung, starkem Mittelstand und hoher Lebensqualität" machten Deutschland damals zum unumstritten "besten Land der Welt". Ein einfach nur perfekter Staat mit hochgerüsteter Moral, der mächtigsten Frau der Welt an der Spitze und dem Willen, als Leuchtfeuer für die andere Völker an beiden Enden zu brennen, bis die gesamte Menschheit am deutschen Wesen genesen ist.

Völker der Welt, schaut auf diesen Staat

Völker, ruft Dominik Enste heute, schaut auf diesen Staat! Es sind doch nicht nur die gesunkenen Handytarife, bei denen Deutschland nach wie vor zu den teuersten Ländern gehört, selbst im Vergleich mit anderen EU-Partnerstaaten. Der Preis für ein Gigabyte Datenvolumen liegt hier bei einem Euro oder 50 Cent, während es in Italien nur acht Cent sind, in Frankreich bei 19 und in 35 Cent. Doch hierzulande, betont Enste, "können "Kleinkinder früher in frühkindliche Bildungseinrichtungen geschickt werden und auch im Rhein kann man heute schwimmen, weil er sauberer ist als noch vor 20 Jahren". 

Wie überzeugend das Agument ist, zeigen Zahlen, die die ZDF-Meisterwerkstatt für Mediale Manipulation (MMM) vor einem Jahr einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert hatte: Längst gehöre Deutschland zu den "Top 5 der attraktivsten Arbeitsländer". Statt nach Norwegen, Dänemark, in die Schweiz, nach Schweden, in die Niederlande oder die traditionellen Einwanderertraumziele USA, Australien und Kanada zu ziehen, entscheiden sich immer mehr Leistungsträger aus aller Welt, das Land mit der "kaputtgesparten Infrastruktur" (Lars Klingbeil), mit den marodierenden Nazibanden, dem mangelnden Wohnraum und der fehlenden Breitschaft, auf E-Mobilität umzusteigen, zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt zu machen. 

Die Liste des Guten 

"Die Liste des Guten", sagt Dominik Entse, "könnte man noch länger fortsetzen". Doch der Forscher weiß: Es würde nichts bringen. So wie Neid nur das Blumenbeet sieht, aber nicht den Spaten, sieht der Deutsche die Servicewüste, die hohen Baupreise, den starken Anstieg bei Steuern, Abgaben und Lebenshaltungskosten und die schwache Regierung, die eine schwache Vorgängerregierung mit markigen Sprüchen abgelöst hat, deren Politik aber seitdem konsequent fortsetzt.

Es fehle "bei vielen Deutschen an innerer Zufriedenheit", hat Enste ermittelt. Statt wie er gleich "acht Arten von Kapital" heranzuziehen, um angesichts der wachsenden Zahl von Armen, Arbeitslosen und Bürgergeldberechtigten auf ermutigende Zeichen für einen grassierenden Wohlstandszuwachs zu kommen, schauen die Traditionalisten nur auf Brieftasche, Beruf und die Lage im Bekanntenkreis. Überall sieht es mau aus, Depression ist der Normalzustand und Hoffnung auf Besserung rar.

Einfach mal zufrieden sein 

Es war der von Haus aus wenig fantasiebegabte Olaf Scholz, der angesichts der aussichtslosen Situation schon vor Jahren vorgeschlagen hatte, sich beim Wohlstand nicht mehr mit Schwergewichten wie den USA, der Schweiz und Norwegen zu vergleichen. Inspiriert von einer großen Relotius-Reportage über Bhutan, das bettelarme "einzige klimaneutrale Land der Erde" (Spiegel) müsse der Begriff "grüne Glückseligkeit" an die Stelle der vergeblichen Jagd nach mehr Einkommen, ein besseres Auskommen und größerer Wettbewerbfähigkeit treten, wie sie die EU sich vom früheren EZB-Chef Mario Draghi ins Stammbuch hatte schreiben lassen. 

Dominik Entse hat sich eine Reihe von Indikatioren ausgedacht, bei denen das technologisch abgehängte Deutschland nicht nur mit neuen Rekordschulden und cleveren Haushaltstricks glänzen kann. Stolz verweist er auf die industrielle Basis, die immerhin immer noch da sei. Dazu "kommt Sozialkapital, ein gesellschaftlicher Zusammenhalt, Familie, Freunde". 

Abbröckeln ignorieren 

Ebenso wichtig sei Humankapital, also Wissen und Bildung, die zwar fortwährend abbröckeln, aber in Spuren noch zu erahnen sind. Für das Wohl eines Landes sei es überdies entscheidend, dass es auch kulturelles Kapital gebe. "Dazu gehören Museen, Religionen und Bauwerke." Zusammen mit dem "körperlichen" und dem  spirituellen Kapital, also der physischen und psychischen Gesundheit und dem Geist einer inneren Zufriedenheit bilde das Naturkapital die entscheidende Grundlage eines Wohlbefindens, dem sich niemand verweigern könne.

Nur Kleingeister und Feinde unserer Demokratie schauen auf Statistiken, Zahlen und ernüchternde Daten. Nur Schwarzmalen, Zweifler und Hetzer quengeln über eine Bevölkerung, die ihrer eben erst gewählten Regierung mehrheitlich ablehnend gegenübersteht, über die vielen Risse quer durch Land und die zunehmenden Mangelerscheinungen selbst bei den Waren täglichen Bedarfs. "Demokratie  erhöht das Wohlbefinden", hält Entse dagegen. 

Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen  

Die seit Jahren schrumpfende Wirtschaft könne man doch auch mal für ihr "minimales Wirtschaftswachstum" loben und behaupten, dass sich "die allermeisten Dinge hierzulande doch gut entwickelt" hätten. Dass eine Mehrheit im Land Umfragen zufolge skeptischer denn je auf öffentliche Institutionen aller Art schaut, veranlasst Enste zu einem überschwänglichen Lob. "Weil sich die meisten Menschen hier wohlfühlen und Vertrauen in die Institutionen haben." Den wichtigen Beweis dafür, wie gut es letztlich läuft, schiebt Dominik Enste am Ende nach: Wir sind ein Rechtsstaat, wir müssen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen und die Demokratie."

AfD im Umfragehoch: Land der zwei Geschwindigkeiten

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Am Ende der Brandmauer-Debatte steht der nächste Aufschwung der AfD.
 
Es ist nur noch einen Monat hin, und auf einmal ist sie wieder da. Die AfD, durch die bockstarken ersten Auftritte einer zu allem entschlossenen neuen Bundesregierung in ihrem Aufstieg gestoppt, hat nicht lange gebraucht, um auch die jüngsten Rückschläge im Kampf für sich zu nutzen. In den neuesten Umfragen hat sich die zeitweise in Gänze als gesichert rechtsextremistisch bezeichnete Partei wieder an die führende Union herangeschoben. Bei Forsa liegt sie gar wieder gleichauf mit der Merz-Partei.  

Ende der Brandmauer 

Die Folgen des Endes der großen Brandmauer-Debatte sind überall zu sehen. Verzweifelt versuchen die Grünen, sich zum Teil delegitimierende Regierungskritik lieb Kind bei abtrünnigen Wählerinnen und Wählern zu machen. Der atemberaubende Aufstieg der Linken, die vorübergehend zur beliebtesten Partei der Medien geworden war, scheint beendet. Das BSW stagniert weit unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Die SPD kann machen, was sie nicht will und Geld ausgeben, das sie nicht hat. Ihrem Zuspruch bei den Bürgern nützt es nichts. Er geht weiter zurück.

Und aus einem lange Zeit auf die entleerten Flächen Ostdeutschland begrenzten Rechtsruck droht nun  ein gesamtdeutscher zu werden. Immer schon hatten die Rechtspopulisten in den erfahrenen Demokratien der elf westdeutschen Länder mehr Wähler als im Osten, der erst seit 35 Jahren von den geschenkten Vorteilen der freiheitlichen Demokratie profitiert. Zuletzt aber stiegen die Beliebtheitswerte der ursprünglich von westdeutschen Professoren gegründeten eurokritischen Protestpartei hüben unübersehbar. Die AfD hat sich auch in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Zwölf Jahre nach ihrer Gründung - damals in Oberursel im Taunus - droht die AfD zu einer fest etablierten politischen Kraft auch im Westen zu werden, die nicht mehr nur im abgehängten Ostdeutschland erschreckende  Wahlergebnisse erzielt. 

Der Westen hinkt hinterher 

Unabhängige Experten der Amadeu-Antonio-Stiftung hatten es schon lange vermutet. Der Westen hinke dem Osten bei der AfD-Zustimmung nur knapp vier Jahre hinterher, hieß es Anfang des Jahres in einer Analyse, die aufzeigte, dass die ehemaligen Rechtspopulisten "die stärksten Sprünge in den Bundesländern", machten, "in denen sie bislang am schwächsten waren". Bis zur stärkten politischen Kraft, werbewirksam weniger durch spezielle Inhalte als durch das Alleinstellungsmerkmal der einzigen Partei auf der anderen Seite der Brandmauer, ist es noch ein Stück Weg. Doch bundesweit legte die  Partei in den zurückliegenden zwölf Monaten fünf Prozent zu. 

Einen ähnlichen Mobilisierungserfolg schaffte nur die Linkspartei, der allerdings ein einziger Sprung im Februar half, als die als "Ostmulle" geschmähte Heidi Reichinnek den deutschen Politikbetrieb auf dem Höhepunkt der drohenden Machtübernahme der Rechtsfaschisten mit einer Wutrede auf den Kopf stellte. Seitdem geht es seitwärts, das Wählerpotential der Linkspopulisten scheint ausgeschöpft. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Sozialismus teilen trotz Bildungsmisere wohl wirklich nur höchstens 15 Prozent der Wahlberechtigten.  

Mit Schwankungen aufwärts 

Bei der AfD dagegen geht es unter geringen Schwankungen aufwärts. Kein Mittel, kein Werkzeug und keine Waffe hat daran bisher etwas ändern können. Ob Ausschluss aus der Diskussion oder Verbotsdiskussion - in den Ostländern sind die Rechten als stärkste Kraft fest etabliert. Allmählich aber zeigt sich auch im Westen ein bemerkenswerter, wenn auch längst vorhergesagter anhaltender Aufstieg. Die Pariapartei schickt sich an, ihre beeindruckende Erfolgsgeschichte aus dem Osten im Westen zu wiederholen: Erreichte sie auf dem Gebiet der Ex-DDR bereits bei der Bundestagswahl 2017 überraschende 22 Prozent der Stimmen, liegt sie heute in mehreren westdeutschen Flächenländern schon in der Nähe dieser Marke und in Bayern sogar exakt darauf.

Eine Fast-Verdopplung in nur acht Jahren. In Sachsen und Thüringen dauerte es nach 2017 nur noch vier, bis die AfD zur stärksten Kraft wurde. Und im gesamten Osten nur sieben, bis die jüngste Partei im Bundestag die CDU in den ostdeutschen Ländern mit durchschnittlich 34 Prozent hinter sich ließ, mit Spitzenwerten wie 38,6 Prozent in Thüringen und 37,3 Prozent in Sachsen. Diese Zahlen spiegeln eine mittlerweile eingeübte Gewohnheit wider, es "denen da oben" und ihrer elitären Auffassung von "unserer Demokratie" mal so richtig zu zeigen. Bis sie nicht nur sagen, dass sie verstanden haben. Sondern tun, was ihnen gesagt wird.

Nicht mehr nur Protestpartei 

Nur stundenweise sieht es immer mal so aus. Dann aber setzt sich die politische Routine des Politbetriebes in Berlin durch. Dies geht nicht, das darf nicht, hierfür gibt es keine Mehrheit, dafür braucht es eine Kommission. Als beste Wahlkämpfer für die Feinde der Demokratie entpuppen sich Mal um Mal des besten Demokraten.

Studien zeigen zwar, dass die AfD nicht mehr nur als Protestpartei wahrgenommen, sondern auch ihre Lösungsvorschläge angesichts des Scheiterns der zaghaften Versuche der Wettbewerber auf immer mehr Zustimmung treffen. Kaum jemand aber zweifelt daran, dass der AfD-Aufschwung an dem Tag beendet wäre, an dem eine andere Partei beginnen würde, Politik nicht mehr hauptsächlich für sich selbst, sondern für die Bürgerinnen und Bürger zu machen.

Dass die AfD, eine Partei mit überwiegend drittklassigem Personal, der Hebel ist, die anderen in Bewegung zu versetzen, diese Erkenntnis setzt sich im Westen Deutschlands langsamer durch als im Osten, wo die Menschen ihren Brüdern und Schwestern die Erfahrung des Zusammenbruchs der DDR voraushaben. Ostdeutsche erinnern sich, dass kein System bleiben kann, wie es ist, wenn eine kritische Masse der Bürger es infrage- und sich demonstrativ auf die Seite seiner größten Feinde stellt. Im Westen gibt es solche Erinnerungen nicht. Hier ist alles, wie es immer war. Seit Helmut Kohl sein Amt antrat, hat sich am mehr und mehr ritualisierten Vollzug der Demokratie nichts geändert.

Von elf auf unter 20 

Der von den elf auf knapp unter 20 Prozent beinahe verdoppelte Zuspruch der Westdeutschen zu ausgerechnet der Partei, die fast die Hälfte aller ostdeutschen Abgeordneten im Bundestag stellt, ist umso beunruhigender als ihr Wachstum bis 2021 stagnierte. In Schleswig-Holstein, home of the brave Robert Habeck, scheiterte sie 2022 sogar am Wiedereinzug in den Landtag. Doch seit 2023 zeigt sich ein grundlegender Wandel, der vom Verlieren der Geduld bei denen erzählt, denen ein Langmut mit der politischen Klasse mit den ererbten Häusern, Bankguthaben und etablierten Verbindungen in Köln, Stuttgart und München zufällt.

Bei den Landtagswahlen in Hessen holten AfD-Abgeordnete 18,4 Prozent und Bayern 14,6 Prozent. Bei der Bundestagswahl reichte es zu 17,6 Prozent im Westen. Aktuelle Umfragen unterstreichen diesen Trend. In Rheinland-Pfalz und Hessen kämen die Blauen derzeit auf jeweils 19 Prozent, selbst in bisher schwachen Regionen wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein reicht es zu 17,8 Prozent  und 16,3 Prozent.

Eine beschleunigte Dynamik ist unübersehbar, die Parallelen zur früheren Entwicklung im Osten zeigt.  Eine Analyse von Wahlergebnissen und Umfragewerten legt eine zeitversetzte Kongruenz zwischen Ost- und Westdeutschland nahe: Der Aufstieg der AfD im Osten begann etwa mit der Bundestagswahl 2017, als die Partei in den neuen Bundesländern durchschnittlich 22 Prozent erreichte. Im Westen werden ähnliche Werte erst jetzt erreicht. 

Ein Abstand von sieben Jahren 

Die Daten deuten auf einen zeitlichen Abstand von etwa sieben Jahren hin, nicht vier. Die Dynamik der Zuwächse verstärkte sich dabei in nachlassenden Schüben: In Ostdeutschland verdoppelte die AfD ihre Stimmenanteile zwischen 2013 und 2017 von 4,7 auf 22 Prozent. Danach folgte ein Anstieg um ein Drittel auf heute über 30 Prozent. Im Westen vollzog sich in der verspäteten ersten Phase zwischen 2021 und 2025 eine ähnliche Verdopplung: Aus acht Prozent wurden um die 17. 

2025 ist in NRW, Baden-Württemberg und Hessen, was 2017 für Sachsen, Thüringen und Brandenburg war. Die AfD scheint im Westen nun jenen Wachstumspfad zu beschreiten, den sie im Osten bereits hinter sich hat, denn die damals nur im ärmeren, ausgegrenzten und allenfalls schiefangeschauten Ostdeutschland maßgeblichen strukturelle Faktoren wirken jetzt auch jenseits der früheren innerdeutschen Grenze. 

Alarmrufe sorgen für Harthörigkeit 

Wirtschaftliche Unsicherheit, Zurücksetzungsgefühle durch die hohe Zuwanderung, Vertrauensverlust in die Institutionen und ein Gefühl der politischen Entfremdung gegenüber Politikern, die jedes Maß in jeder Hinsicht verloren zu haben scheinen, greifen nun auch im Westen Raum. Aktuelle Krisen wie der Ukrainekrieg, die Inflation und die sichtliche Hilfslosigkeit aller jemals an einer Bundesregierung beteiligten Parteien tun ein übriges. Alle Bemühungen der inzwischen vom Staat auskömmlich finanzierten Zivilgesellschaft verpuffen. Die andauernden Alarmrufe der Medien haben zu Harthörigkeit geführt. Selbst Hitlervergleiche und Weltuntergangsbeschwörungen kommen bei den Adressaten einfach nicht mehr an.

Die AfD lebt von der Ausgrenzung, sie gedeiht am besten unter Sonne der Ablehnung derjenigen, die sie ablehnen. Im Westen  war die Partei lange auf urbane und strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet beschränkt gewesen, weil es ihr an Personal fehlte, das bereit war, die öffentliche Verdammung zu tragen, fasst sie jetzt Fuß in ländlichen und konservativen Gebieten von Bayern oder Baden-Württemberg. Jede Ankündigung, ihre Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu werfen, jeder Lauschangriff  und jeder Bürgermeisterkandidat, der zum Schutz des Gemeinwesens schon vort dem Wahltag aus dem Rennen genommen wird, hilft der Partei bei der Mobilisierung.

Verzögerter Westeffekt 

Im Westen wirkt dieser Effekt verzögert, weil die etablierten Parteien hier bisher keinen Grund hatten, die AfD als ernsthaften Mitbewerber zu fürchten. Doch die letzten vier, fünf Generaldebatten um Migration und innere Sicherheit, um Trusted Flagger und Meinungsaufsicht und eine hasserfüllte Medienkampagne gegen eine Bundesregierung, die vermeintlich "Verbrechen gesprochen" haben soll, haben die Partei auch im Westen gestärkt. Ein Land, zwei Geschwindigkeiten: Die AfD hat in Ostdeutschland eine Zukunft hinter sich, die im Westen noch vor ihr liegt. Während die Partei im Osten bereits als stärkste Kraft etabliert ist, wird sie es im behäbigeren Westen vermutlich erst in etwa sieben Jahren sein. 


Montag, 11. August 2025

Trump und Putin: Gipfeltreffen der Bösen

Trump und Putin: Gipfeltreffen der Bösen
Trump und Putin: Gipfeltreffen der Bösen.

Ausgegrenzt, abgehängt und ungefragt. Als US-Präsident Donald Trump sein erstes großes Treffen mit  dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ankündigt, ging eine Angstfantasie der Europäer in Erfüllung. Seit seinem Amtsantritt schon behandelt der Mann im Weißen Haus die Verbündeten in Übersee nicht mehr wenigstens symbolisch wie Partner, sondern auch auf offener Bühne wie Befehlsempfänger. Sie dürfen ihm zustimmen und gelegentlich ihre Meinung sagen. Entschieden aber wird weder in Brüssel noch in Berlin, auch nicht beim Nato-Hauptquartier in Brüssel. Sondern demonstrativ in Washington.

Trump und Putin: Gipfeltreffen der Bösen 

In Europa hat das zu großer Frustration geführt. Dass ein Mann, dem man gemeinschaftlich über ein halbes Jahrzehnt nachgesagt hatte, er sei ein Faschist, Kriegstreiber, Diktator, vom Kreml gekaufter Doppelagent und ausgewiesener Feind der Freiheit, seine erklärten Gegner ähnlich barsch behandeln könnte, wie die ihn behandelt hatte, erschien unvorstellbar. Obschon selbst Trumps malader Vorgänger Joe Biden es strikt vermieden hatte, Ratschläge und Strategiehinweise aus der alten Welt anzunehmen, war doch immer ausgemacht gewesen, dass alle wenigstens so tun, als agierten sie auf Augenhöhe.

Trump hat damit Schluss gemacht. Er kanzelte den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj vor laufenden Kameras ab, weil er seine Forderung, Amerika müsse ihm die Fortsetzung des Verteidigungskrieges gegen Russland auf unbestimmte Zeit finanzieren, für unverschämt hielt. Er ließ sich von Friedrich Merz die Füße küssen. Er schickte Ursula von der Leyen nach drei Monaten, in denen die EU-Kommission um einen günstigen Zolldeal gebettelt hatte, mit demselben Zollsatz nach Hause wie die Taliban in Afghanistan. 

Strikte Ablehnung in Europa 

Dass die Europäer es strikt ablehnen, auch nur den Versuch zu machen, mit Putin  über Bedingungen für ein Ende der Kämpfe in der Ostukraine zu verhandeln, stört den Präsidenten wie die pro-palästinensische deutsche Linkspartei  der von der SPD erzwungene neue Anti-Israel-Kurs der Bundesregierung. Trump vereinbarte das Gipfeltreffen mit Putin. Die Einwände aus Europa wird er vermutlich nicht einmal zur Kenntnis genommen haben. Der Mann, der nach seinem historischen Handschlag mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un in Europa partei- und lagerübergreifend bescheinigt bekam, dass er alles falsch mache. Man schüttelt nicht die Hand eines mordenden Monsters, nur um einen Atomkrieg zu verhindern.

Trumps "mangelnde Geschäftsfähigkeit" (Daniela Vates) habe den US-Präsidenten nicht nur seine "Maske fallen" lassen. Der "Milliardär" (Spiegel) habe einem der schlimmsten Diktatoren der Welt auch noch "die Legitimierung seiner Herrschaft durch den Führer der westlichen Welt" geschenkt hat. Seine Versuche, den Ukraine-Krieg zu beenden, stehen unter einem ähnlich hämischen Stern: Dass es nach den von Trump im Wahlkampf versprochenen 24 Stunden nicht geklappt hatte, ließ die deutschen Medien nicht traurig und enttäuscht reagieren, sondern schadenfroh. Lieber sollten Ukrainer und Russen weiter sterben als dass man Trump den Triumph gönnte.

Kommt der Friedensnobelpreis 

eu rote linien trump putin
Europa zieht rote Linien.
Noch einen! Schon  Armenien und Aserbaidschan hatte Trump zur Unterzeichnung einer Friedensvereinbarung gezwungen. Die Gefechte zwischen Thailand und Kambodscha beendete der Präsident so schnell, dass ihn Kambodscha für Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat. Auch Indien und Pakistan bewegte er fernmündlich zu einem Waffenstillstand. Und den Iran nahm Trump mit einem einzigen Luftschlag zumindest vorübergehend von der Landkarte der Terrorstaaten

Die kleine, aber als bedrohlich empfundene Aussicht, dass Donald Trump im Zwiegespräch mit Putin Ähnliches gelingen könnte, hat in Deutschland ein breites Medienecho ausgelöst. Schwankend zwischen Ablehnung, Skepsis und tiefem Misstrauen, wird der Gipfel in Alaska zumeist als eine Art Verrat des mächtigen Verbündeten gewertet. Dass Trump nur "vage Andeutungen über den Inhalt der Gespräche" (DPA) gemacht habe, wird als Zurücksetzung empfunden. Dass er nicht einmal in Berlin um Zustimmung zu seiner Friedensinitiative bat, weckt Befürchtungen, dass wieder einmal über die Köpfe der Europäer hinweg entschieden werden solle.

Nur kritische Punkte 

"Tagesschau", der "Focus" und der Bayrische Rundfunk sind sich einig in der Bewertung, dass ein solches Treffen eigentlich nicht stattfinden können, so lange Putin nicht wenigstens einem Waffenstillstand zugestimmt habe. Als kritischen Punkt sehen T-Online und die "Tagesthemen", dass Trump den Russen wohl territoriale Zugeständnisse der Ukraine zugesagt habe, nur um ein Ende des Krieges zu erreichen. Die Bereitschaft zur Fortsetzung des Krieges, wenn eben ohne Amerika, dann ohne Amerika, sie ist in Kiew groß, aber nicht einhellig. Vitali Klitschko, Ex-Boxweltmeister und heute Bürgermeister in Kiew, brachte sich mit einem Plädoyer für eine Verhandlungslösung als Selenskyj -Ersatz ins Spiel. "Wir müssen eine diplomatische Lösung finden", sagte Klitschko er.

Doch wo "Europas Kerninteressen auf dem Spiel" stehen, wie es die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas formuliert hat, geht es nicht nach den Wünschen der kriegsmüden Ukrainer. Die EU will weiterkämpfen lassen bis zum letzten ukrainischen Soldaten, denn Russlands Aggression dürfe nicht belohnt werden. 

Strenge Regeln für Russen 

Selbst Einfluss nehmen kann die Frau aus Estland nicht, die als Premierministerin dafür sorgte, dass ihr Land strenge Remigrationsregelungen für sogenannte Nichtbürger (lettisch nepilsoņi, russisch неграждане) erließ. Es hilft nur bitten und betteln und der Appell, dass die vorübergehend russisch besetzten Gebiete weiter zur Ukraine gehörten und der Kampf deshalb weitergehen müsse, bis "Moskau das Gefühl habe, dass es nicht mehr weitermachen könne".

Vizepräsident JD Vance hat den Ukrainern das freigestellt, auch dürften die Europäer den Abwehrkampf der Ukrainer künftig ruhig weiter finanzieren. Donald Trump aber will das ganze Thema möglichst bald vom Tisch haben. "Unser Erfolg wird nicht nur in den Schlachten liegen, die wir gewinnen, sondern auch in den Kriegen, die wir beenden können" hat der Präsident gedroht und dem Kreml-Herren "einen gewissen Gebietsaustausch" im Gegenzug zu einem Friedensschluss in Aussicht gestellt. 

Friedensplan der Europäer 

Zum eilig geschmiedeten eigenen "Friedensplan" der Europäer, der weiterhin erst eine Waffenstillstands oder eine "Verringerung der Feindseligkeiten" beinhaltet, ehe mit Putin darüber verhandelt wird, "dass internationale Grenzen nicht mit Gewalt verändert werden dürfen", hat der US-Präsident keinen Kommentar abgegeben. Auch die von Freidrich Merz telefonisch noch einmal geforderte "Einbindung der Ukraine" war schon vorher abmoderiert worden: "Sowohl die Russen als auch die Ukrainer werden am Ende des Tages wahrscheinlich unzufrieden damit sein", äußerte sich JD Vance zur Vorstellung, Europa können einen Krieg, den es absehbar nicht gewinnen können werde, am Verhandlungstisch in einen glorreichen Triumph verwandeln.

Gerüchten zufolge soll es Putin gewesen sein, Trumps Unterhändler Steve Witkoff ein Waffenstillstandsangebot unterbreitet habe. mit hohen moralischen Kosten: Russland würde seine Angriffe angeblich einstellen, wenn Kiew seine Truppen aus den von Moskau beanspruchten vier Oblasten im Osten der Ukraine zurückzieht. später müsse die internationale Gemeinschaft die gewonnenen Territorien als russisches Staatsgebiet anerkennen, zudem dürfe die Ukraine niemals Nato-Mitglied werden.

 Angst vor einem "Diktatfrieden"

Trump scheint das angemessen, den deutschen Medien und der deutschen Politik nicht. Die Angst vor einem "Diktatfrieden" (RBB) ist groß. In den ersten gut drei Jahren hatte sich Deutschland leidlich an das anhaltende Schlachten im Osten gewöhnt. Nicht einmal die Aussichten auf einen baldigen Atomkrieg erschreckte abgebrühte Sofakrieger mehr. Dann erst lebte die Furcht auf, die klapprige Weltmacht könne nach einer Million eigener Toter und Verletzte auf den Geschmack gekommen sein und mit ihren letzten Panzern, den Rollstuhlsoldaten und der fehlenden Munition auf breiter Front gegen das größte Militärbündnis der Welt antreten.

Einzig Trumps Wahl von Alaska als Treffpunkt, naheliegend aufgrund seiner geografischen Nähe zu Russland, wird als schlauer diplomatischer Zug gelobt. Der US-Bundesstaat auf der anderen Seite der Beringstraße hatte bis 1867 zum Zarenreich gehört. Trump und Putin treffen sich damit nach Ansicht deutscher Leitmedien fast auf neutralem Boden. 

Was wird aus dem Haftbefehl 

Mit Erwägungen dazu ersparen sich die Berichterstatter eine Beschäftigung mit der Frage, was nach Putins Landung auf demokratischem Boden aus dem Haftbefehl wird, den der  Internationalen Strafgerichtshof (IStGH)  in Den Haag am 17. März 2023 gegen den russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin erlassen hatte. Weder die USA noch Russland haben sich der Rechtssprechung des IstGH unterworfen. Putin nicht festzunehmen, würde allerdings zwingend eine Reaktion der EU erfordern, die sich schon früher Angriffe auf den Strafgerichtshof verbeten hatte.

Trumps Plan, ohne europäische Beteiligung, ohne Segen der EU und ohne Unterstützung internationaler Gremien wie dem IStGH zu verhandeln, bricht die multilaterale Diplomatie der Biden-Ära, als nicht immer klar war, wer die Vereinigten Staaten regiert. Jetzt hat dort einer das Sagen, dem offenbar daran liegt, sicherzustellen, dass wirklich "über die Köpfe der Europäer und Ukrainer hinweg" (Merz) eine Entscheidung getroffen wird. Hauptsache Frieden, notfalls einem Trump-Putin-Deal, den der Osteuropa-Experten Alexander Dubowy als potenziell "katastrophal für die Ukraine und Europa" bezeichnet. Selbst wenn die aktuellen Frontlinien nur eingefroren würden, bekäme Russland Gebiete wie den Donbass zugeschlagen, ohne dafür Garantien für einen dauerhaften Frieden abgeben zu müssen.

Beilegung der Feindseligkeiten  

Wie die aussehen könnten, sagt Dubowy nicht. Es wäre auch schwierig,. Wer seinem Gegenüber unterstellt, es sei nicht an Verhandlungen interessiert, wird selbst kaum ernsthaft verhandeln. Und wer glaubt, die andere Seite strebe nur nach Verhandlungsergebnissen, um die geschlossenen Verträge schnellstmöglich zu brechen, dem bleibt zur Beilegung der Feindseligkeiten eigentlich wirklich nur noch das komplette Auslöschen der Gegenseite. 

Dass Europa in den Verhandlungen de facto keine Rolle spielen wird, ist so womöglich nicht die "Tragödie", die Alexander Dubowy sieht, sondern die wichtigste Voraussetzung dafür, überhaupt mit der Arbeit am Anfang eines Endes anfangen zu können.

Ist der Ruf erst ruiniert: Einknicken für den Koalitionsfrieden

Für ihre zurückhaltende Kritik an der Union in der Brosius-Gersdorf-Affäre bekam die SPD ihren Wunsch erfüllt, Deutschland möge seine Staatsräson aufgeben.

Dass Friedrich Merz der SPD etwas dafür würde geben müssen, um seinen Koalitionspartner für die gemeinsam erlittene Schmach bei der Verfassungsrichterwahl zu entschädigen, lag auf der Hand. Dass es Israel sein würde, kam aber doch eher überraschend. Bisher galt der Judenstaat als Fundament deutscher Staatsräson: Nach den Vereinbarungen des 1952 geschlossenen Luxemburger Abkommen zahlte Deutschland bis zum Jahr 2007 etwa 25 Milliarden Euro als Entschädigung für das den Juden zugefügte Leid an den israelischen Staat und an einzelne Holocaustüberlebende.   
 

Jeder und jede 

 
2008 legte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel dann bei einem Besuch in der Knesset fest, wie weiter verfahren werden würde. "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet", sagte sie. "Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes - das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar." 
 
Worte wie Donnerhall. Zwar versuchten später Politiker wie Robert Habeck und Annalena Baerbock, an der Basis der Merkelschen Beschlüsse zu sägen und zu feilen. Die beiden grünen Spitzenkader hintertrieben im Bundessicherheitsrat jede Genehmigung für Waffenlieferungen an Israel, während sie nach außen hin behaupteten, dass es selbstverständlich kein Waffenembargo gegen Israel gebe. Ausfuhrgenehmigungen für Waffen gar es allerdings auch nicht. Erst müsse der Judenstaat feierlich schwören, dass er deutsche Waffen nicht verwenden werde, um einen Völkermord zu begehen, forderten die Grünen.  
 

Die Enkel der Täter 

 
Eine notwendige Bedingung, die die Enkel der Täter den Enkeln ihrer Opfer stellen müssten, um sich selbst gegen eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Völkermord zu schützen. Die Angst, noch einmal erwischt zu werden, blockierte Lieferungen über Monate. Bis Olaf Scholz, obschon als Kanzler eine eher israelkritischen und mehr als nur ein wenig in den Traum von Palästina verliebten Partei auf einen ähnlichen Kurs festgelegt, seine Minister im Bundestag überbügelte.  "Wir haben Waffen geliefert, und wir werden Waffen liefern", versicherte er, ohne in Details zu gehen.
 
Die Staatsräson hatte die romantische Vorliebe der Außenministerin für Geldlieferungen nach Gaza ganz ohne Völkerrechtsschwur und die völkerrechtlichen Verdachtsmomente ihres eher aus der Schweinezucht kommenden früheren grünen Vorstandskollegen noch einmal besiegt. 
 
Dass Habeck "die Hungersnot, das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die Angriffe im Gazastreifen" als mit dem Völkerrecht nicht vereinbar" angeprangert hatte, noch ehe die Klage des strahlenden Menschen- und Völkerrechtsreiches Nikaragua vor dem Internationalen Gerichtshof verlesen worden war, entfaltete auch keine Nachwirkungen.  
 

Der Mörder als Ankläger 

 
Der IGH weigerte sich, Deutschland zur sofortigen Einstellung seiner Waffenlieferungen an Israel zu verpflichten. Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega, einer der letzten kommunistischen Diktatoren in Südamerika, der in seinem Staat seit seiner ersten Präsidentschaft vor 40 Jahren erfolgreich sämtliche Oppositionspolitiker ermorden oder einsperren lassen hat, blieb bei der Behauptung, die Bundesregierung unterstütze Israel bei der Errichtung eines "Systems rassischer Diskriminierung in den besetzten palästinensischen Gebieten". 
 
Scholz blieb bei seiner Position, dass sich der Judenstaat nach dem Angriff der Terrorarmee Hamas auf seine deutschen Freunde verlasen könne. "In solchen schwierigen Zeiten kann es nur einen Platz geben: den Platz an der Seite Israels", sagte Scholz.
 
Es musste erst eine Bundestagswahl samt Machtwechsel im Kanzleramt kommen, um diese Position ins Wanken zu bringen. Ausgerechnet Friedrich Merz, der Christdemokrat, der der Ampelkoalition stets mangelnde Unterstützung Israels vorgeworfen hatte, stoppte den Export von Rüstungsgütern nach Israel "bis auf Weiteres", um das "vom israelischen Kabinett beschlossene, noch härtere militärische Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen" zu sanktionieren. 
 
Die Bundesregierung "bleibe zutiefst besorgt über das fortdauernde Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen", begründete Friedrich Merz seine einsame Entscheidung, die Medienberichten zufolge zwar mit SPD-Chef Lars Klingbeil, aber nicht mit der eigenen Partei abgesprochen war. 
 

Reaktion auf Umfragewerte 

 
Merz reagiert damit auf die eigenen desaströsen Umfragewerte, auf die weiter abbröckelnde Zustimmung zur SPD und auf den die Wünsche einer Mehrheit der Deutschen, ihre Regierung möge den imaginären Palästinenserstaat neben Israel, den die beiden palästinensischen Regierungen im Gaza-Streifen und im Westjordanland bisher immer abgelehnt haben, endlich anerkennen. Ostdeutsche, Junge und Linke verschaffen der Forderung die deutliche Mehrheit, obwohl in Merz' eigenen Reihen nur eine Minderheit dafür ist. 
 
Für Friedrich Merz aber muss nicht CDU und CSU gefallen. Die Schwesterparteien haben niemand anderen, den sie an seine Stelle setzen könnten, sie werden an Merz festhalten, was immer auch geschieht. Nach der gemeinsamen Blamage von Union und SPD bei der missglückten Wahl der von der SPD nominierten Juristin Frauke Brosius-Gersdorf für zur Verfassungsrichterin ist der 69-Jährige vielmehr an der außenpolitischen Front im Einsatz, um seine Regierung zu retten. 85 Prozent der Wähler der Linken sehnen sich nach einem Staat Palästina, bei den Sympathisanten der Grünen sind es 66, bei denen verbliebenen Anhängern der SPD 52 Prozent. Seit Scholz abgetreten ist, werden die Stimmen in der früheren Arbeiterpartei immer lauter, deutsche Waffenexporte nach Israel zu beenden
 

Abschied von der Staatsräson 

 
Staatsräson hin, Staatsräson her. Nach einer medial befeuerten Kampagne, die verfälschte Bilder und direkt von der Hamas gelieferte Zahlen strategisch nutzt, um Mitleid für die armen, unschuldigen Opfer der israelischen Verteidigungsbemühungen gegen den seit Jahrzehnten anhaltenden Terror der palästinensischen Terrororganisationen zu wecken, entschloss sich Friedrich Merz, eine weitere seiner vermeintlichen Grundpositionen kampflos zu räumen, um der SPD einen Gefallen zu tun. 
 
Deren Terrorversteher propagieren schon lange ein Einlenken Israels. Wenn die Regierung Netanjahu nicht einlenke, erfordere es die "humanitäre Katastrophe für die palästinensische Zivilbevölkerung" und "der Bruch des Völkerrechts durch die Regierung Netanjahu", zu Erziehungsmaßnahmen zu greifen.
 
Dem Ruf des zehnten Bundeskanzlers kann die Kehrtwende weg von der Seite Israels kaum mehr schaden. In seinen nicht einmal 100 Tagen im Amt ist Friedrich Merz schon häufiger umgefallen als jeder seiner Vorgänger in ihren kompletten Amtszeiten. Der Mann aus dem Münsterland hat die Schuldenbremse beerdigt und seine Entlastungspläne für die hart arbeitende Mitte aufgegeben. 
 
Er ist bei US-Präsident Donald Trump nicht selbstbewusst aufgetreten, sondern als nahezu wortloser Bittsteller und er hat es bei der Nato nicht einmal gewagt, seinen Vorschlag zu wiederholen, beim Zwei-Prozent-Ziel für Rüstungsausgaben auch zivile Ausgaben anrechnen zu dürfen. Stattdessen nickte er ein neues Fünf-Prozent-Ziel ab - nur 48 Stunden, nachdem es zum ersten Mal erwähnt worden war.
 

Verlorener Glaube 

 
Inzwischen kommt es auf nichts mehr an. Merz' Zustimmungsraten sind im Keller, das Vertrauen in seine Fähigkeiten als Regierungschef liegt irgendwo zwischen "so schlecht hätte es Scholz auch gekonnt" und "womöglich wäre gar keine Regierung die bessere Alternative". Selbst an den großen geheimnisvollen Masterplan zur Sanierung von Grund auf, den Merz Gerüchten im politischen Berlin zufolge haben soll, glaubt kaum mehr jemand. 
 
Zwar klingt es aufgrund der bisher getroffenen Entscheidungen seines Kabinetts durchaus schlüssig, anzunehmen, dass der Christdemokrat den Karren erst noch viel weiter in den Dreck fahren will, um die Bereitwilligkeit zur Erduldung auch großer Belastungen bei Bürgern, Bürokratie und Beamtenapparat zu erhöhen. Doch das Irrlichtern des Regierungs- und Parteichefs weckt mehr und mehr den Verdacht, auch dabei könnte es sich nur um Ablenkungsmanöver handeln. 
 

Fürchterlichste Zwischenbilanz 

 
Für Merz bedeutet das fürchterlichste Zwischenbilanz, die je ein deutscher Kanzler nach 100 Tagen ziehen musste, dass er immer freier in seinen Entscheidungen wird. Ist der Ruf erst ruiniert, regiert es sich völlig ungeniert. Wer sowieso niemandem mehr gefällt, braucht gar nicht erst versuchen, jemandem zu gefallen. Nach dem Verrat an den Wählerinnen und Wählern, die sich vom  neuen Mann im Kanzleramt erhofft hatten, er werde entlasten, reformieren, 551 Fragen beantworten, Sümpfe trockenlegen und zurückkehren zu einer realitätsorientierten Politik des gesunden Menschenverstandes, folgt der "Verrat an Werten und Verantwortung".  
 

Eingeknickter mächtigster Mann 

 
Demonstrativ knickt der mächtigste Mann der Republik, zugleich zumindest theoretisch auch mächtigster Mann Europas, vor der "pro-palästinensischen" (DPA) Fankurve ein. Seine Entscheidung sei "ein Tiefschlag gegen einen Verbündeten, der für Deutschland mehr ist als nur ein geopolitischer Partner", urteilt selbst n-tv, im "Medienvielfaltsmonitor" dem Konzern Bertelsmann zugeordnet, der im Zweiten Weltkrieg zum größten Literaturlieferanten der Wehrmacht wurde. 
 
Doch Merz kann kein "Verrat an Deutschlands Werten, seiner historischen Verantwortung und der globalen Sicherheit"mehr erschüttern, denn er bekommt Lob von dort, wo es wichtig ist. Adis Ahmetović, einst von heutigen SPD-Fraktionschef Matthias Miersch vor der Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina gerettet und in die SPD-Nachwuchskaderschule aufgenommen, hat ausdrücklich begrüßt, "dass der Bundeskanzler unseren Forderungen folgt und einen Stopp von Waffenlieferungen ankündigt".  Als nächstes müsse Deutschland mit weiteren strengen Beschränkungen nachlegen. "Sanktionen gegen israelische Minister dürfen kein Tabu mehr sein."

Sonntag, 10. August 2025

Gefährliche Rede: Freiheit, die sie meiden

 Ursula von der Leyen lobt die grenzenlose Meinungsfreiheit, während ein Missbraucher abgeführt wird.

"Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim."

Bundesverfassungsgericht, 4. November 2009,  1 BvR 2150/08

Die ältere Frau steht auf der Bühne, flankiert von zwei großen Männern, und sie hat sichtlich sehr gute Laune. Ursula von der Leyen hat zuletzt jeden Wahlkampf gescheut, doch nicht, weil sie kein Talent für große, wirkungsmächtige Auftritte vor großen Menschenmengen hat. Die EU-Kommissionsvorsitzende hält es mit der alten Weisheit der Pferdezüchter ihrer niedersächsischen Heimat: Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss.  

Ins Amt hineingeboren 

Und von der Leyen musste gar nicht springen. Die geborene Europäerin durfte sich sicher sein, dass sie alle Kräfte der Bewahrung der Stabilität auch so hinter sich hat. Nach einem neuen Chef für die Nato hatten die europäischen Mitglieder, die diesen Frühstücksdirektorenposten an der Seite des US-Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa traditionell besetzen müssen, so lange gesucht, dass der Vertrag des Inhabers des Sessels mehrfach verlängern musste. Noch eine Baustelle, auf der Kesselflicker um den rechten linken Kandidaten zanken, konnte Europa nicht gebrauchen. 

Von der Leyen gewann also im Spaziergang eine Wahl, bei der sie nicht kandidiert hatte, bei der sie aber zweifellos auch als strahlende Siegerin vom Platz gegangen wäre, hätte sie sich entschieden, der Form halber anzutreten. Denn dass die 69-Jährige bei öffentlichen Auftritten so souverän agiert, dass ihr Wählerinnen und Wähler aus der Hand fressen, zeigt ein kurzer Ausschnitt aus einem Film, der die Triumphatorin im Zollstreit mit den USA bei einem Besuch in Finnland zeigt. 

Die ihre Seele herausbrüllen 

Von der Leyen ist zu sehen, wie sie den Finnen die Vorteile der freiheitlichen Verfasstheit ihrer Union erklärt, vor allem denen vor der Bühne, die, wie sagt "schreien und ihre Seele herausbrüllen". Gemeint sind einige Protestierer, denen Ursula von der Leyen von oben herab ins Stammbuch schreibt, wie froh sie sein sollten, in einem Land und einer Gemeinschaft zu leben, "in der das Recht auf freie Rede keine Grenzen hat". Wären sie in Moskau, schiebt die Chefin der größten und in sämtlichen Belangen erfolgreichsten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte nach, "wären sie in zwei Minuten im Gefängnis". 

Die Kamera schwenkt daraufhin weg von der Bühne und dorthin, wo die Schreie herkommen. Und zu sehen ist, wie ein Polizeibeamter einen der Protestler mit sanftem Druck abführt. Freiheit, die sie meinte, denn Ursula von der Leyen schaut von oben zu. Sie macht keine Anstalten, den Polizisten davon abzuhalten, den Störer in Gewahrsam zu nehmen oder zumindest vom Platz entfernen. 

Von der Leyen und ihr Freiheitsbegriff 

Als "Synchronizität" hat der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung das Phänomen beschrieben, bei dem scheinbar unzusammenhängende Ereignisse so zusammentreffen, dass sie einen neuen Sinn ergeben oder eine neue Erkenntnis zutage fördern. Von der Leyen und ihr Freiheitsbegriff, bisher ausgedrückt durch komplizierte und kaum einem gewöhnlichen Menschen vollständig bekannte EU-Richtlinien, Erlasse zur Einrichtung von Meldestellen und Versuche, dem allgemeinen Begriff von "freier Rede" eine Art europäische Deutung entgegenzustellen, treffen hier im Norden, am Rande der EU, auf die tatsächliche Auslegung des theoretischen Prinzips. 

Das eine hat mit dem anderen so viel zu tun wie die EU mit Wirtschaftswachstum, neuen Technologien und gemeinsamen Werten. Mit Blick auf Ungarn hat von der Leyen die Schließung der Grenzen immer scharf kritisiert. Nach Finnland hatte sie für die Grenzschließung ein dickes Lob mitgebracht.

Immer, wie es gerade passt. Moral ist keine starre Kategorie, sie fluktuiert je nach Nützlichkeit, sie beruht auf Prinzipien, die so fest sind wie die Entschlossenheit der 27 Mitgliedsstaaten zur Solidarität mit dem von Terrororganisation Hamas angegriffenen Israel. 

Die personifizierte EU 

Doch das zufällige Zusammentreffen der personifizierten Europäischen Gemeinschaft, einer Frau im Rentenalter, die sich straff gehalten hat, aber schwer darunter leidet, von Staatschefs rund um den Globus nur ernst genommen zu werden, wenn sie mit Geschenken kommt, und der Realität ist alles andere als ein Zufall, der nicht durch Kausalität erklärt werden kann. 

Weil Ursula von der Leyen Schwierigkeiten mit Meinungsfreiheit hat, bekanntermaßen schon lange vor ihrer Notabordnung nach Brüssel, musste ein solcher Moment geschehen. Ihre private Ansicht darüber, dass jeder sich glücklich fühlen muss, der unter ihrer Ägide leben darf, und die reale Ausprägung dieses Glücks, sie liegen so weit auseinander, dass eine friedliche Koexistenz faktisch nur möglich ist, solange sich beide nicht zufällig doch einmal über Weg laufen. 

Ein  Aha-Graben überall 

Wenn es dann passiert, wird ein Abgrund kenntlich, der zuvor nur durch günstigen Lichteinfall nicht zu sehen war. Am Bundestag in Berlin wird das Prinzip in Gestalt eines sogenannten Aha-Grabens architektonisch umgesetzt: Ein Zaun und eine zehn Meter breite Grube sollen in Bälde "das Praktische mit dem Ästhetischen verbinden" (Der Spiegel). 

Der Graben zwischen dem Haus, in dem die Volkstreter tagen, und ihrem Volk wird aus der Ferne nicht einmal zu erahnen sein, obwohl er einer Seite mit einer Böschung und auf der anderen mit einer steilen Wand versehen ist. Der Name Aha-Graben leitet sich daraus ab: Erst der entschlossene Schritt ganz in die Nähe des architektonisch mit allen Denkmalschutzregeln gewaschenen Abgrunds, wachsam geht der Blick dabei zu den patrouillierenden Streifen, löst das Aha-Erlebnis aus. Dann erst sieht der Besucher, wie tief die Kluft zwischen Volk und Volksvertretern wirklich ist.

Die Siegerin gegen Street View 

Ein Aha-Erlebnis, das Rückkehrer von einem Berlin-Besuch den Daheimgebliebenen eines unaufhaltsam nahenden Tages kaum mehr beschreiben können werden. Ilse Aigner, die heutige Präsidentin des bayrischen Landtages, hatte in ihrer Zeit als Bundesverbraucherschutzministerin dafür gesorgt, dass Deutschland sich von technischen Neuerungen und Internettrends erfolgreich abkoppelte. Der große Kampf der Frau aus Oberbayern gegen den amerikanischen Internetriesen Google und dessen Street-View-Programm war ein Lehrstück in politischem Populismus und intellektuellem Versagen. 

Wie ein Indio-Medizinmann, der in einem Fotoapparat ein Gerät erkennt, das Seelen raubt, beschwor die gelernte Rundfunkmechanikerin vor 15 Jahren den Untergang des Abendlandes. Der sei unumgänglich, wenn deutsche Häuserfassaden im Netz zu sehen seien.  

Aigner trommelte monatelang gegen Google und für härtere Maßnahmen, sie ließ eine elektrische Einspruchsmaschine als überhaupt ersten deutschen Beitrag zur Digitalisierung erfinden und fand am Ende tatsächlich zehntausend besorgte Bürger, die bei Google  datenschutzrechtlich Bedenken einreichten. Gemeinsam sorgten Ministerin und beunruhigte Immobilienbesitzer damit sorgten, dass Deutschland fast anderthalb Jahrzehnte ein weißer Fleck auf der Street-View-Karte blieb.

Abgeparkt im Landtag 

Jungs "Synchronizität" braucht keine gemeinsame Zeit, sie kann sich auch durch ein inneres Ereignis  wie einen Traum, eine Vision oder Emotion zeigen, das auf ein äußeres, physisches Ereignis trifft und plötzlich wie eine manifestierte Spiegelung des einen im anderen erscheint.

Ilse Aigner, die sich nach ihrem Sieg über den Fortschritt im Street-View-Fall in die bayrische Landespolitik zurückzog, im Machtkampf gegen Markus Söder aber unterlag, pflegt zu Meinungsfreiheit und Freiheitsrechten insgesamt eine ähnliche Liebesbeziehung wie Ursula von der Leyen. Prinzipiell ist das alles gut, aber, wie der frühere DDR-Staatssicherheitschef Erich Mielke einmal formuliert hat, die Sache muss unter Kontrolle bleiben. 

Aigner handelt nach dieser Maxime, bisher unausgesprochen, doch bei X hat die 60-jährige CSU-Politikerin jetzt erstmals auch beschrieben, worum es ihr im Kern geht. "Wehrhafte Demokratie bedeutet: Wir wehren uns gegen gefährliches Reden", stellte sie unumwunden klar, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit künftig gezogen werden. Nicht dort, wo die Amerikaner sie seit 1791 wähnen, als die  freie Rede als Zusatzartikel in der Verfassung landete. Sondern nur bis dorthin, wo Ilse Aigner argwöhnt, dass sie die Demokratie gefährdet.

Ein neuer Feind im Ring 

Waren es bei Rot-Grün-Gelb noch eine Kompanie aus  Zweifel, Hetze, Hass und Hohn, Fake News und Schwurbelgeschwätz, die unter dem Verdacht stand, den Staat staatsfeindlich zu delegitimieren, tritt mit der "gefährlichen Rede" ein neuer Feind in den Ring. "Gefährliche Rede" kann alles sein, denn nichts gibt die sichere Garantie, dass daraus nicht "gefährliches Tun" (Ilse Aigner) werden könnte. Gefährliche Rede ist schon allein dadurch gefährlich, dass sie weder im Grundgesetz noch in den Strafrechtsvorschriften erwähnt wird. 

Die Mütter und Väter der deutschen Verfassung haben hier mit Absicht Spielräume eröffnet: Ihren Vorgaben gemäß hat "jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten", die "Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden" zudem "gewährleistet" und eine Zensur findet nicht statt. Doch weil diese Rechte ihre "Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre" finden, wird es leicht fallen, das allgemeine Schutzniveau mit mit einem "Gesetz gegen gefährliche Rede" (GgegeR) deutlich zu erhöhen.