Sonntag, 21. Dezember 2025

An und zu Weihnachten: Brutale Übersetzungen

Der Trend zum "an" ist unaufhaltsam.

Das sind so Erklärungsversuche, die fehlgehen, weil der Suchansatz nicht stimmt. Wie beim fürchterlichen "macht Sinn" folgt auch das "an Weihnachten" oder das noch schlimmer missverstandene "an Silvester" einem Vorbild aus dem Englischen. Wie "make sense" als Brutalübersetzung das früher gebräuchliche "hat Sinn" verdrängt hat, schiebt sich das halbverdaute "at christmas" seit Jahren langsam wie ein Schreitbagger über das traditionelle deutsche "zu Weihnachten". Es hat keinen Sinn. Denglischt sich aber ohne eine Silbe Englisch an die Macht.

Aus zu wird an 

Kann man noch hinnehmen, weil Amerikaner mit "at christmas" eben nicht den Weihnachtstag, sondern die Weihnachtszeit meinen. Bei Silvester wird es dann aber kompliziert, der 31. ist halt nur ein Tag und deshalb wäre "on" richtig. Deutschland aber ist das längst alles egal. Aus "zu" wird "an". Der Sprachverstand setzt aus. 

Ob Süd, Nord, Ost, West spielt dabei - subjektiv beobachtet - eher die kleinere Rolle. Mode ist ausschlaggebend: Wer "macht Sinn" sagt, sagt auch "an Weinachten", wer genau hinhört, wird drumherum übrigens jede Menge Begriffe wie "genau", "absolut" und "tatsächlich" bemerken. Ein Gebimmel an Leerformeln unterm Baum, die aus dem Englischen, das mehr oder weniger das Amerikanische ist, in die Jugendsprache sickern. Und von dort aus den Sprachgebrauch der älteren Generationen verseuchen, die es ursprünglich einmal besser gewusst haben.   

Die Tradition liegt noch vorn 

Noch liegt das althergebrachte "zu Weihnachten" knapp vorn. Doch während die europäischen Institutionen, Parteien und Regierungen sich anschicken, in einen Unabhängigkeitskrieg mit den Vereinigten Staaten zu ziehen, geht das Kräftemessen an der Sprachfront verloren. In den Metropolen staunen die Alteingesessenen mit den günstigen Mietverträgen, dass ihnen nach dem Stadtbild auch das Sprachbild verloren geht

In den Alltag außerhalb schwappen die modernistischen Sprechübungen der Fernsehansager. Was mit *innen im ersten Anlauf nicht klappen wollten, weil Sprechpausen und Fantasiesatzzeichen von zu vielen als von oben erzwungene Unterwerfungsgesten empfunden wurden, verläuft beim An-wanzen ans Amerikanische heimlich, still, leise und reibungslos.

Definitionsmacht eines Trendwortes 

Der kleine sprachliche Unterschied hat große Definitionsmacht. Zwischen "an Weihnachten" und "zu Weihnachten" verläuft ein Graben, der früher geografischer Natur war. Der Duden verortet "an Weihnachten" im Süden, "zu Weihnachten" im Norden. Beide Präpositionen zulässig, die nördliche Variante dominierte lange, ihr Übergewicht aber endet langsam. An Weihnachten ist heute nichts mehr  zu. Langsam schwingen sich die Verwendungskurven des "an" auf, die des "zu" fallen ab. 

Wer auf der Höhe der Zeit sein will, feiert an Weihnachten. Wer unterm Baum richtig zulangt, ist am späteren Heiligabend ordentlich "zu", wie die Ostdeutschen den Zustand nennen, der keine tiefsinnigen Gespräche über den Wandel der Sprache in unsicheren Zeiten mehr zulässt. Zwischen der An-Armee und der Zu-Zivilisation klafft längst auch ein Bildungsgraben: Handwerker, Angestelltinnen und Krankenschwestern tendieren zum zu. Höhergebildete, die politische Magazine schauen und den "Spiegel" lesen. Bis zum Jahr 2000 lag "zu Weihnachten" dort mit 3.800 Verwendungsfällen deutlich vor "an Weihnachten". Mittlerweile werden beide Fügungen gleich oft verwendet.

Der Süden gewinnt 

Der Tod der Feierlichkeiten zu Weihnachten ist nahe. Ein Gemeinplätzchen, das auf dem bunten Teller  liegt, zwischen Lebkuchen und der alten Weisheit "Ostern und Pfingsten sind die Geschenke am geringsten." Der Sprachsüden hat sich mit dem Drang der Deutschen zur globalen Verbrüderung verbündet und gemeinsam verhöhnen sie die letzten Sprachsensiblen, die ihr gewohntes "zu" kaum noch gegen das trendige "an" verteidigen können. 

Lange wird der Jubel über den Sieg nicht währen. Aktuelle Präpositionsbewegungen deuten auf eine salomonische Lösung. Weder "zu" noch "an" haben noch eine große Zukunft, selbst wenn  Weihnachten als eines der großen Winterfeste überleben sollte. Im Zuge des allgemeinen Kulturverfalls sagen die einen "an Weihnachten bin ich zu Hause". Die anderen greifen zum doppelten zu. Immer mehr Menschen aber lassen die zum Verständnis der Kernbotschaft letztlich überflüssige Präposition einfach weg: Es heißt dann schlicht: "Weihnachten bin isch Mama" und "Silvester von isch Neuköln".

Das Jahr ohne Sommer: Der März des Erwachens

Ein neuer Mann, vor Tatkraft strahlend: Mit Friedrich Merz legte sich Deutschland im März wieder einen Kanzer zu, der zupacken wollte.

Bedenken verfliegen
in milderem Wind
die Sonne zeigt sich
ungefährdet
Horizonte weiten sich
nach Süden
wir atmen wieder 
freier auf 

Ende Merz, Hans-Christoph Neuert 

Es war ein Jahr zum Vergessen und vielen gelang das außerordentlich gut. Der neue Kanzler wusste schon nach Wochen nicht mehr, was er versprochen hatte. Seine Hilfstruppen von der SPD hatten verdrängt, dass sie wiedermal eine Wahl verloren hatten. In der Welt draußen wendete sich einiges zum Besseren. Deutschland aber blieb mit klarem Kompass auf Kurs. 

Der Rückblick auf 2025 zeigt zwölf Monate, die es in sich hatten. Nie mehr wird es so sein wie vorher.
 

Der Wonnemonat für alle die, die noch hoffen. März 2025, ein Neubeginn. Gewählt, noch nicht im Amt. Friedrich Merz hat noch Dinge zu ordnen, bevor seine frisch geschmierte Maschine aus Kompromissen loslegen kann. Symbolisch startet Europa seine Hoffnungsrakete zu Monatsbeginn: 30.330 Tage nach dem gelungenen ersten Vordringen eines menschengemachten Gegenstandes ins Weltall schafft es der deutsche Nostalgie-Nachbau von Isar Aerospace, "Spectrum" genannt, bis in schwindelerregende 500 Meter Höhe. Dann stürzt das High-Tech-Geschoss erfolgreich in den Ozean vor Norwegen.

Ein majestätischer Absturz 

Ein majestätischer Absturz außerhalb der EU. Isar Aerospace hatte ins freie Skandinavien ausweichen müssen, um Europas Ambitionen" auf die Eroberung des Alls zu untermauern. Die Sicherheits- und Umweltschutzregeln in der EU ließen Start nicht zu. Nach der Ariane 6 vom Airbus-Staatskonzern hat Europa nun einen zweiten Mann im Spiel, um die leidige Abhängigkeit von SpaceX zu beenden. Nur noch fliegen muss das Teil.

So ist das mit allen Ambitionen, die von Bürokraten ausgedacht werden. Schöner scheitern, gezahlt wird später, geschützt von Regeln, die Lügen verbieten, und Steuern, die ewig währen. "Leistung muss bestraft werden", flüstert die SPD in den Koalitionsgesprächen, gestützt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, dass der Soli bleiben darf, bis die Einheit vollendet ist. Als Termin wird  2030 festgelegt. Dann ist die DDR ein halbes Jahrhundert her und eine Generation Pleite trägt die Last, die Honecker, Mittag, Mielke und Konsorten nicht einmal mehr aus dem Schulunterricht kennen. 

Das Lachen bleibt im Halse stecken, denn Deutschland ist von allen Seiten unter Feuer. Trump will Zölle, die EU will viel mehr Geld. Die Ukraine braucht Waffen.  Das Klima jeden Einzelnen. Nach drei Jahren Krieg an der Ostflanke kommt die Botschaft in Deutschland endlich an, dass eine Zeitenwende nicht bedeutet, dass sich die Zeit wendet und alles andere so weitergeht.

Gegenkurs zum Bundeswehr-Bashing 

Mit hektischem Eifer steuern die Sender und Postillen Gegenkurs zum jahrzehntelangen Bundeswehr-Bashing: Die vormilitärische Erziehung, Wehrtüchtigkeit, Nachrüstung und solide Sondervermögen für den Wiederaufbau einer prächtigen Panzerarmee - das alles ist keine üble NATO-Propaganda mehr, sondern Wunsch und Wille einer über Nacht entstandenen Mehrheit.

Keiner hat im Wahlkampf davon gesprochen. Eine besondere Absurdität in bewegten Zeiten: All das, was wichtig ist, darf nicht erwähnt werden. Es könnte Teile der Bevölkerung verunsichern. All das, was keine Rolle spielt, wird auf der Bühne verhandelt: Man werde die Grenzen sofort schließen, heißt es. Bis zum Sommer einen Stimmungsumschwung befehlen. Das werde dem "Frust", der der AfD als Treibstoff diene, die Luft abdrücken. 

Kein Plan, aber eine letzte Chance 

Ein Rezept, das alternativlos ist, denn einen Plan für seine erste Amtszeit hat Friedrich Merz so wenig wie Olaf Scholz einen für seine zweite gehabt hätte. Erstmal ankommen. Erstmal umschauen. Merz sagt, er sehe in sich die "letzte Chance der Mitte". Genauso startet er: Der Richtige zur richtigen Zeit, jederzeit bereit, für die Macht ein Linsengericht aus winzigen sozialdemokratischen Zugeständnisseen zu schlucken.

Hätte ihn nicht schon Scholz von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin erfinden lassen, hätte der Schulden-Euphemismus "Sondervermögen" ein echter Merz werden können. Nachdem er aus dem Bett gestiegen ist, in das er sich mit der Linkspartei gelegt hatte, um die finanzielle Basis für seine ersten vier Amtsjahre zu schaffen, geht der CDU-Vorsitzende als strahlender Sieger in die Koalitionsverhandlungen. Die Hetze der grünen Wahlverlierer, die versuchen, sein Bündnis als "Kleiko" zu verhöhnen, um die Grundwerte der Demokratie infrage zu stellen, kommentiert er nicht einmal. Merz erkennt Neid, wenn er ihn sieht.

Es hagelt Hiobsbotschaften 

Draußen vor der Tür hagelt es üble Nachrichten, wie ein Bombenteppich regnet es Pleitemeldungen und Mitteilungen über Massenentlassungen. Keine Stunde, in der die Führer der früheren Volksparteien beieinandersitzen, ohne dass irgendein Großunternehmen bekanntgibt, tausende Mitarbeiter entlassen zu wollen. Insolvenzen überall. Zaghaftigkeit bei Investoren. Laute Klagen. Ein Feuersturm der Vernichtung, der eine Wirtschaft trifft, die nach drei Jahren Corona-Notstand und zwei Jahren Kriegszustand schon ein ganzes halbes Jahrzehnt lang kein Wachstum mehr generiert hatte.

Es braucht einen wie Merz, der die Aufgabe annimmt. Kanzler! Wie lange hat er davon geträumt. Dem Vorurteil, dass es mehr nie gewesen ist, tritt er entschlossen entgegen: Festlich begeht die Republik die alljährliche "Stunde der Dunkelheit", auf Medienberlinerisch "Earth Hour". Der Letzte macht das Licht aus, wenn es vorüber ist, erscheint die allgemeine Trübnis wie strahlender Sonnenschein.

Die Koalition des Aufbruchs 

Psychologie, das ist alles, womit die Koalition des Aufbruchs, die auf die "Fortschrittskoalition" folgt,  gegen die Wirklichkeit ankämpfen kann. Das Versprechen steht, dass jetzt alles aufgearbeitet wird, was so viele verletzt hat. Wie konnte es zu den 551 Fragen kommen? Was ritt Klingbeil, als er an der Brandmauer klagte, der Konservative habe verbotenerweise im Bundestag abstimmen lassen, obwohl er wusste, dass die Falschen ihm beipflichten werden? Und was, viele fragen sich auch das, wird mit Karl Lauterbach?

Das C in CDU stand für "Corona", das P in SPD für Pandemie, das G in Grüne für Herdenimmunität und das F in FDP für "Durchimpfung" (DPA). Doch es ging um mehr bei dem großen Gesellschaftsexperiment. Es ging um die wichtige Erkenntnis, wie viel Macht sich mit wie viel Druck ausüben lässt, ohne dass sie selbst kaputtgeht. Fünf Jahre danach, nach dem zweiten Regierungswechsel wieder zurück in der ursprünglichen Farbkombination, steht fest: Keiner tut einem was. 

Großmacht der Grundrechte 

Deutschland, die Großmacht der unveräußerlichen Grundrechte, war eines der Länder, das in der allerersten Not am entschiedensten Bürgerrechte beschnitt, Grenzen sogar innerhalb des Landes schloss und seine Medien gleichschaltete. Doch der Jubel darüber, dass eine Kanzlerin nach Beratungen in einem von der Verfassung nicht einmal erwähnten Gremium sogenannte "Einschränkungen" verkündete, weil "wir in einer Zeit leben, wo der Primat der Wissenschaft gilt" (Armin Laschet), schallt sogar weiter, nachdem diese Kanzlerin der Feme ihrer Partei verfallen ist.

Wissenschaft. Wenn man nur wüsste. Die einen sagen dies, die anderen sagen das. Alle sind einig, dass die Energiepreise wohl doch zu hoch sein, ein bisschen. Aber erwiesen ist, dass  Robert Habeck sie gesenkt hat und Europa bereitsteht, zu helfen, wo es kann. Solange Deutschland Geld bereitstellt. 

Der Russe kommt 

Die ernsthaftesten Vorschläge, an die Wurzel der Probleme zu gehen, finden den geringsten Widerhall in einer Atmosphäre, in der das Kriegsgeschrei aus den Büros der Ministerien gellt. Binnen wenigen Tage haben sich alle Pandemieexperten, die zu Kampfgegenrechts- und Klimaexperten umgeschult hatten, in Militärstragen verwandelt. Sie fordern, dass der Rüstungsgigant Rheinmetall seine Panzerproduktion schnell hochfahren müsse. Der Russe komme, heißt es erstmals fest terminiert, spätestens 2030. Mit einer Jahresproduktion von 50 Leoparden lässt sich Putins Schrottlawine nicht aufhalten. Ältere erinnern sich: 1944 verließen 10.000 leichte und rund 17.000 mittelschwere und schwere Panzer deutsche Fabriken. Und selbst das reichte nicht.

Trotzdem verweigert das politische Berlin jede Diskussion um den Plan B, den ein Team aus Militärökologen im März vorlegt: Statt die Rüstungsbillarde für Waffen und Munition zu verpulvern, um einen Krieg zu führen, der nicht einen Knochen eines preußischen Grenadiers wert ist, schlagen sie eine typisch russische Lösung vor: Die mehr als 300 Milliarden Euro, die Europa jährlich in seine Streitkräfte stecke, ohne je verteidigungsbereit oder gar kriegstüchtig zu werden, ließen sich effizienter verwenden.

Eine Friedensprämie für Putins Soldaten

Und zwar, in dem jedem der 1,35 Millionen Offiziere und Soldaten Putins ein lukrativer Teil der ohnehin als frische Schulden aufgenommenen Summen als Friedensprämie gezahlt werde. Natürlich nur so lange, wie er bei einem Angriff nicht mitmacht. Das wären pro Kopf etwa 250.000 Euro und das nicht einmalig, sondern jedes Jahr.

Weniger Blut. Mehr Sicherheit. Die ausgelobte Belohnung liege beim Siebzehnfachen des russischen Durchschnittslohnes von etwa 14.000 Euro. Tun müssten der einfache Muschik wie sein vorgesetzter Offizier dafür im wortwörtlichsten Sinne "einfach gar nichts". Doch so überzeugend das Konzept, so unwillig reagierte die Politik in Berlin wie in Brüssel. Die beiden großen Dampfer waren gerade erst auf Abfangkurs gesetzt worden. Eine erneute jähe Wendung, so zumindest glaubten die noch nicht einmal ins Amt gewählten Verantwortungsträger, drohe die letzten Reste von Vertrauen  in die eigenen Fähigkeiten zu Lenkung der Welt und der Gestaltung der Zukunft infrage zu stellen.

Alle im Chor 

Europa, das versicherten alle im Chor, ist bereit, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen. Geld genug ist nach dem Abriss der Brandmauer nach links da, selbst wenn sich niemand so in einen Rüstungsrausch steigern mögen, wie es die Deutschen tun. Der Pazifismus hat sich an den linken und an den rechten Rand zurückgezogen. Ein Hufeisen aus würdeloser Wehrlosigkeit. Die Mitte steht fest. Nie wieder ist jetzt, das Jahr ohne Sonne hat gerade erst begonnen. 

Ein März ganz anderer Art: 



 

Samstag, 20. Dezember 2025

Zitate zur Zeit: Ende einer Ära

Ich glaube, Trump ist eine jener Figuren in der Geschichte, die von Zeit zu Zeit auftaucht, um das Ende einer Ära zu markieren
Auch die Süddeutsche Zeitung war der Wahrheit bereits auf der Spur.

Ich glaube, Trump ist eine jener Figuren in der Geschichte, die von Zeit zu Zeit auftaucht, um das Ende einer Ära zu markieren und sie zu zwingen, ihre alten Ansprüche aufzugeben. 

Das bedeutet nicht unbedingt, dass er das weiß oder über eine großartige Alternative nachdenkt. Es könnte einfach ein Zufall sein.

Vor sieben Jahren stellte Henry Kissinger Mutmaßungen über Donald Trump an 

Das Jahr ohne Sommer: Der Februar der Willigen

Die heiße, leidenschaftslos absolvierte letzte Wahlkampfphase im Februar 2025 war der Höhepunkt der Entwicklung der Demokratie zu "UnsereDemokratie".

 Bei Trompeten und Gitarren
drehn wir uns im Labyrinth
und sind aufgeputzte Narren
um zu scheinen, was wir sind.

Der Februar, Erich Kästner  

Es war ein Jahr zum Vergessen und vielen gelang das außerordentlich gut. Der neue Kanzler wusste schon nach Wochen nicht mehr, was er versprochen hatte. Seine Hilfstruppen von der SPD hatten verdrängt, dass sie wiedermal eine Wahl verloren hatten. In der Welt draußen wendete sich einiges zum Besseren. Deutschland aber blieb mit klarem Kompass auf Kurs. Der Sommer der Stimmungswende fiel ins Wasser. Der Herbst der Reformen folgte ihm leise.

Der Rückblick auf 2025 zeigt zwölf Monate, die es in sich hatten. Nie mehr wird es so sein wie vorher. 

Ach, sie sind immer noch da. Und sie leben noch. Das Land, es lebt, es lebe hoch – nur liegt es am Boden und kann sich kaum rühren, weil Merz und Esken sich gerade gegenseitig die Fußfesseln anlegen. "Koalition der Willigen" nannte das mal jemand aus Amerika, damals wollte Deutschland am Rande stehen. Jetzt mag es gern mitmischen, aber die großen Parteien sind klein geworden. Union und SPD, alt, stolz und unbeugsam, kommen in Umfragen vor der Wahl gemeinsam gerade mal 45 Prozent der Stimmen. Sie sagen trotzdem, sie seien das Volk. Wer soll es denn auch sonst sein.

Renten sicher, Freiheit unsicher

Hauptsache stabil. Die Wahlkampfparolen klingen wie Medikamentenwerbung. Merz verspricht den Rentnern goldene Zeiten, Klingbeil der Werktätigen einen Aufschwung nach Maß. Niemand wird später irgendetwas bezahlen müssen. Das mache der Staat. Irgendwie. Später. Immer später.

Die SPD, plattgefahren wie eine Kreuzung nach drei Ampeljahren, spielt auf Sieg. Scholz, der farbloseste Kanzler seit Kiesinger, murmelt sich durch Wahlkampfveranstaltungen, zu denen nur Genossen zugelassen sind. Saskia Esken, die stille Sympathieträgerin, die niemand leiden kann, sitzt  daneben und lächelt dünn. Sie hat gelernt: Willste was gelten, mache dich selten. Ihre Social-Media-Kanäle sind so leer wie die SPD-Parteikasse – Strategie oder Resignation? Ungesehen überleben, darum geht es.

Merz, der Gefesselte

Friedrich Merz, der Mann mit den unbeugsamen Prinzipien, ist bereit, bei allem nachzugeben, ehe das überhaupt jemand gefordert hat. Der CDU-Spitzenkandidat in einer Wahl, die niemand wollte, spielt den Asketen, den Vernünftigen, den Mann, der endlich aufräumen wollte, würde er aufräumen dürfen. Es läuft die ganze Zeit auf eine Hochzeit mit der SPD hinaus und eine Regierung unter Aufsicht von Lars Klingbeil, der plötzlich der starke Mann der schwachen Partei ist. Welch ein Triumph.

Während die Volksparteien so tun, als ob, feiert die AfD ihre Verbannung. Jeder Abend, den die anderen in einem Fernsehstudio verbringen, um ihre Ratlosigkeit als Worthülsen auf die Zuschauer abzufeuern, bringt Prozente. Opposition war noch nie so einfach. Die Demos gegen rechts, eine Manifestation des medialen Volkswillen, wirken wie eine Düngergabe auf Rechtspopulismus. Die Sehnsucht ist bei vielen groß, endlich mal das Gegenteil zu wählen statt Lähmung mit Moral.

Kurz ist ein Projekt namens "Wost" im Gespräch, ausgedacht von einem Thinktank. es läuft auf Spaltung und klare Verhältnisse hinaus: Alle, die rechts von Ricarda Lang wählen, ziehen freiwillig in den Osten, alle anderen bleiben im Westen. Im neuen Osten gibt es dann Bratwurst und Meinungsfreiheit, im neuen Westen Klimaneutralität und Gendersternchen. Friedliche Koexistenz durch komplette Trennung – das wäre ein Highlight in jedem Koalitionsvertrag. Die Formulierung, schlagen die Forscher vor, könnte "regional differenzierte Transformationsgeschwindigkeit" lauten. Die Mauer fiel, damit sie 2025 als Brandmauer wiederkehren kann, errichtet aus ideologischen Betonfertigteilen.

Die verstaatlichte Zivilgesellschaft

Die Union aber ist kein festgefügter Block, sondern ein gäriger Haufen. Mit 551 Fragen konfrontiert sie die scheidende Regierung – wer genau finanziert eigentlich Campact, Correctiv, HateAid, die Amadeu-Antonio-Stiftung und die ganzen anderen Hobby-Demokratie-Retter? Und warum? Zu wessen Nutzen? 

Die Empörung ist groß, vor allem bei denen, die das Geld bekommen haben. "Frontalangriff auf Unseredemokratie!" ruft es aus der SPD, die einen Gutteil der Genossen in den NGOs als neuen öffentlichen Dienst begreift, nur ohne Tarifvertrag und mit besserer Moral. Die Drohung der CDU, die Fördertöpfe auszutrocknen, nimmt niemand wirklich ernst. Doch die staatliche finanzierte Zivilgesellschaft zeigt demonstrativ ihre Muskeln: Wer, wenn nicht sie, könnte das nächste Mal die Demos gegen rechts organisieren? Die Hakenkreuzplakate drucken, die Merz zeigen? 

Kraftprobe vor der Wahl 

Es ist eine Kraftprobe noch vor der Wahl und sie geht gut aus. Später wird nie mehr die Rede von Fragen, Kürzungen oder Prüfungen sein. Auch nicht von der heiligen Energiewende. Die Kohlekraftwerke laufen still, das Licht leuchtet. Robert Habeck, der hinter einer Maske aus aufgesetztem Optimismus schon weiß, dass ihm ein Debakel bevorsteht, übt im Märchenwald Reden,  dass früher alles besser war, als er noch den Wirtschaftsminister spielte. 

Ebenso hält es Angela Merkel, die die Basis für die große Deindustrialisierung gelegt hat, und dafür jetzt als "Angela Antifa" gefeiert wird. Mit ihr hätte es das alles nicht gegeben. Sie hat auch keine Grenze geöffnet. Sie hat alles vom Ende her gedacht., Und das ist es nun, dick und unangenehm. Tja. Die Ostdeutsche aus Hamburg hat gut Lachen, denn schon lange vor dem Wahltag ist klar, dass die neue und kleinste Große Koalition aller Zeiten im Grunde ihre vierte Amtszeit ist, nur ohne sie. 

Merz ist der neue Merkel 

Merz macht Merkel, nur schlechter, dazu muss er nicht einmal Kanzler sein. Auch sein Wahlkampf, wie der von Scholz und Habeck der Leute wegen immer im geschlossenen Saal vor handverlesenem Publikum, ist leidenschaftlich wie eine Butterdose. Dieser Mann wird die moralische Großmacht Deutschland mit Zuversicht aus der Krise führen, so viel ist sicher was ihn selbst betrifft.

Draußen im Land spaltet der Wahlkampf wie gehabt. Familien, Freundschaften, Nachbarschaften, sie alle trennen sich entlang der Glaubensbekenntnisse. Die Frage ist nicht, wer das Richtige sagt. Sondern wer es nur tut, damit die Leute auf ihn hereinfallen.

Die anstehende Wahl ist aufgeladen mit der Erwartung einer neuerlichen Rettung der Demokratie. Dass das Ergebnis auf eine Koalition hinauslaufen wird, die gemeinsam nicht mal mehr 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint, ist ein Schönheitsfehler. Die siegreiche Große Koalition der Verlierer wird von den Grünen später als "KleiKo" verspottet werden. Doch ein Friedrich Merz als Kanzler ist für eine ausreichend große Minderheit in Deutschland noch die beste Alternative angesichts keiner Auswahl. 

Bis zum Wahltermin am 23. Februar gilt es, jeden Streit um die großen Themen zu vermeiden. Die Angst vor dem Rechtspopulismus ist wichtiger als die aufschimmernde Deindustrialisierung, vor einem Panorama aus Resignation ziehen die Wahlkämpfer durchs Land. Klingbeil kündigt an, mit Merz niemals zusammenarbeiten zu können. Merz macht klar, dass die SPD wird können müssen, will sie das Land retten. Staatspolitische Verantwortung überstrahlt selbst den anstehenden Endkampf mit den USA. 

Dass alle Parteien der Mitte sich schon wenige Wochen später diskussionslos dafür aussprechen werden, die deutschen Rüstungsausgaben nicht nur auf zwei oder drei, sondern gleich auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, wird im Meinungsstreit in der heißen Phase des Wahlkampfes von keiner Seite auch nur angedeutet. 

Die Katze im Sack

Als es geschafft ist, offenbart sich Auszehrung der Parteien mit aller Macht. Die FDP verschwindet, die Linke ersteht neu aus der eigenen Asche. Die Grünen verlieren ihre führenden Repräsentanten. Weder Annalena Baerbock noch Robert Habeck haben nach der krachenden Niederlage noch Lust, sich dem notwendigen Neuaufbau in der Opposition zu widmen. Die Überlebenden der Zeitenwende entsenden die altbekannten Verhandlerinnen und Verhandler in die Koalitionsverhandlungen. Hauptsache Stabilität. Eine Regierung als Rettungsmission. Neue Erneuerungsversprechen, verbrämt mit der bekannten Symbolpolitik.

Der Neuanfang, den viele hatten wählen wollen, fällt aus. Die alte Garde von CDU, CSU und SPD scheuen disruptive Veränderungen. Die Verhältnisse müssen keine Kettensäge fürchten. Pragmatismus als Notnagel: Die absehbar bald unfinanzierbaren Renten werden als "sicher" deklariert. Sozialausgaben symbolisch gekürzt. Grenzen zeichensetzend geschlossen. Irgendwann später werden Infrastruktur und Energiepreise neu gestaltet und repariert werden. Auszuhandeln bleibt, wie beide Seiten der Regierungsbank ihre eigenen Prestigeprojekte werden durchsetzen können.

Partner statt Freunde 

Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer Weltsicht, die nicht die wirklich existenzielle Bedrohung in den Mittelpunkt stellt, der ein Land ausgesetzt ist, wenn es sein Geschäftsmodell verloren hat. Stattdessen gelten Radikalisierung und Spaltung des Landes, verursacht durch das Gefühl vieler Menschen, dass genau das gerade passiert, als Kern der Probleme ausgegeben. Als Friedensangebot an den ehemaligen Gegner SPD, der jetzt der neue Partner ist, beendet die CDU ihren Frontalangriff auf die staatlich finanzierte Zivilgesellschaft. Die "Kleine Anfrage", mit der Friedrich Merz im Wahlkampf  551 Fragen zur Finanzierung von NGOs an die Bundesregierung gestellt hatte, verschwindet im Orkus.

Der "Angriff auf die Demokratie", als den SPD, Grüne und Linke das Auskunftsersuchen gewertet hatten, ist beendet. Die Hoffnung auf die massive Ausweitung der finanziellen Förderung und Institutionalisierung von staatlichen Initiativen mehren die Erwartungen beim neuen Typus des öffentlichen Dienstes, dass die selbsternannte Zivilgesellschaft sich weiter dem Kampf gegen wird widmen dürfen.

Die Luft ist raus 

Der Rest muss sich neu finden. Die Luft ist raus, die Sehnsucht nach Veränderung gestillt. Die neuen Ziele der Parteien, die das Land in unterschiedlichen Kombinationen miteinander genau hierhergeführt haben, an diesen Punkt der Verzweiflung, sind die alten. Die politische und gesellschaftliche Debatte endet um 18 Uhr am Wahltag. Eine neue Phase von gegenseitigen Schuldzuweisungen, laut gefeierter Symbolpolitik und nur mühsam kaschierter Ratlosigkeit beginnt. 

Die neue Regierungsmannschaft verfügt über mehr Geld als jemals eine deutsche Regierung auf Vorrat angehäuft hatte. Dass sie es restlos ausgeben, aber zugleich beklagen wird, dass es hinten und vor nicht reicht, ist das einzige, was schon vor dem Ende der Koalitionsverhandlungen feststeht.

Der Winter des Missvergnügens: 




 

Freitag, 19. Dezember 2025

EU-Machtdemonstrationen: So viele traurige Siege

Weitere Kerben im Flintenschaft der EU: Nach 25 Jahren gehen die Verhandlungen über das Mercosur-Abkommen in die nächste Verlängerung. Und Russlands Vermögen bleiben russisch.

So viele Siege! In nicht einmal 24 Stunden gelang es der Europäischen Staatengemeinschaft, gleich zwei ihrer ehrgeizigen Vorhaben den Sand zu setzen. Zuerst musste die Unterzeichnung des seit einem Vierteljahrhundert mit  Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay verhandelten Mercosur-Abkommens ein weiteres Mal auf die lange Bank verschoben werden.  

Und in der Nacht dann fiel auch noch Friedrich Merz von der Leiter: Die ultimative Forderung des deutschen Kanzlers, die EU müsse sich Zugang zu russischen Auslandsvermögen verschaffen, um die Ukraine weiter zu finanzieren, lief ins Leere. 

Erneute peinliche Pleite 

Obwohl die deutsche EU-Chefin Ursula von der Leyen an Merz' Seite gefochten hatte, die Idee stammte ursprünglich ja auch von ihr, und sowohl die Außenbeauftragte Kallas als auch der portugiesische Ratsvorsitzende António Costa den Staatschefs gedroht hatte, sie dürften nicht nach Hause gehen, bis sie zugestimmt hätten, ließen sich nach Belgien, Ungar und der Slowakei auch Italien und Frankreich nicht davon überzeugen, dass es klug ist, das Völkerrecht zu brechen, um kurzfristig finanzielle Entlastung zu finden. 

Noch kurz vor dem Schicksalsgipfel der EU in Brüssel sprach Friedrich Merz noch einmal Klartext. Es gehe um sehr viel für Europa. Die EU rufe er zur Entschlossenheit auf. Meinungsverschiedenheiten beiseite. Unterschiedliche Interessenlagen auf Pause. Wichtig sei ein "klares Signal an Russland", das auch in den Vereinigten Staaten verstanden wird. Europa lässt sich nicht mehr herumschubsen. Europa steht für sich selbst ein. Und wenn die USA kein Partner mehr sein wollen, dann sucht sich die mächtigste Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte eben andere.

Die neuen Bündnisse, so alt 

 


Der Plan stand schon seit dem vorübergehenden Ende der Zollkriege mit Donald Trump. Wenn der nicht, dann eben andere. Indien, Indonesien und Südamerika waren als Ersatz auserkoren. Sie sollten den ohnehin langsam versiegenden Strom von Waren und Anlagen aus den verbliebenden Fabriken in Europa aufsaugen, die China und die Amerikaner nicht mehr haben wollten. 

Mit dem Mercosur-Abkommen, einem Freihandelsvertrag, den die EU seit sagenhaften 25 Jahren mit Südamerika verhandelt, lag ein Ball auf dem Elfmeterpunkt. Es waren nur noch einige wenige EU-interne Meinungsverschiedenheiten abzuräumen, und dann ein mächtiges Zeichen ausgesendet werden an alle, die an der "auf einmal doch ziemlich mächtigen" (Die Zeit) EU gezweifelt hatten. Vier Kommissionschefs hatten sich daran versucht. Doch da nur Romano Prodi und  Jean-Claude Juncker keine zweite Amtszeit vergönnt war, sind es eigentlich sechs Amtszeiten, die Hochkaräter wie  José Manuel Barroso und Ursula von der Leyen benötigten, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Gut abgehangen 

Das liegt jetzt auf dem Tisch, noch brandheiß: Die eigentlich geplante feierliche Unterzeichnung des Freihandelsabkommens der EU mit vier südamerikanischen Staaten findet doch nicht statt. Neben  Frankreich, Polen und Österreich, die nicht zustimmen wollen, aber überstimmt werden könnten, hat sich auch Italien nicht überzeugen lassen, das große Zeichen auszusenden. Auch Giorgia Meloni will vorher mehr Schutz für ihre Bauern. Ein Argument, das schon ihr französischer Kollege Emmanuel Macron vorgebracht hatte, um Sonderkonditionen für sein Land auszuhandeln.

Der Versuch, in letzter Minute eine sogenannte Schrödinger-Mechanik in die ausgehandelten Papiere  zu schummeln, scheiterte. Das EU-Parlament hatte diese "Schutzmechanismen" eigenhändig ausgedacht und ins Spiel gebracht, die dafür sorgen sollten, dass das Abkommen in Kraft tritt, aber keine Wirkungen entfaltet. Doch es half nichts. Vertreter des Parlaments müssen nun nicht mehr mit dem Rat der 27 EU-Staaten über den Vorschlag verhandeln, die mit dem Abkommen abgeschafften Zölle wieder einzuführen, wenn die Einfuhren bestimmter Produkte wegen der gefallenen Zölle ansteigen und in der EU die Preise drücken. 

Der umgefallene Habeck 

Unter Robert Habeck, als Grünen-Chef noch ein ausgewiesener Gegner des Handelsvertrages, war das "quasi fertige Mercosur-Abkommen noch einmal deutlich nachhaltiger und damit besser geworden", wie Habeck selbst sagte. Die Forderungen der Grünen nach einem "Stopp des Abkommens vor dem Hintergrund von Klimaschutz und Menschenrechten" verwandelten sich ein "Eigeninteresse Europas, weitere Handelsabkommen abzuschließen", um "die richtige Antwort" auf drohende Zölle etwa aus den USA und China zu geben. 

Wie bei TTIP, dem letztlich am Widerstand von progressiven Kräften und Medien gescheiterten Chlorhühnchenvertrag mit den USA und Kanada, triumphierten Hass und Hetze gegen den Freihandel. Der Versuch der Abschottung vor der unerlässlichen Globalisierung und ein systematischer Anti-Amerikanismus, der undurchschaubaren US-Machteliten hinterhältige Strategien zur Unterjochung der gesamten Welt unterstellte - sie hatten gezeigt, wie das Handwerkszeug moderner Demagogen funktioniert. 

Krude Thesen gegen Genfood 

Krude Thesen gegen Genfood, die als bedrohlich ausgemalte Harmonisierung von Produktionsstandards und den Wegfall von Importhemmnissen: Im Kampf dagegen vereinten sich Links und Rechts zu einem Hufeisen, das die Blaupause liefert für den Anti-Globalisierungskampf der EU. Unter dem Banner der Bedenkenträger gelang es der Gemeinschaft, länger über die Paragrafen eines Handelsabkommens zu feilschen, als die Weimarer Republik existierte. 

Die EU selbst, mit den Maastrichter Verträgen 1993 aus dem Taufbecken gehoben, ist mittlerweile 80 Prozent der Zeit ihrer Existenz damit beschäftigt, am Mercosur-Vertrag  zu feilen. Selbst mit der Schweiz, die 2014 mit der gegen walle Warnungen aus Brüssel erfolgreichen Volksabstimmung über die Ausschaffung von Ausländern aus der Gemeinschaft der zivilisierten Völker ausgeschieden war, wird noch nicht so lange über ein neues Rahmenabkommen verhandelt.

Es wird wieder nüscht 

Kurz vor Weihnachten sollte es etwas geben. Und nun wird es wieder nüscht. Wie alle Jahre wieder. Es ist ein kleines Jubiläum, wenn Ursula von der Leyen ihren Klimaflug zum Festakt in Brasilia absagt. Zum letzten Mal sollte Mercosur im Dezember  2024 unterzeichnet werden. Auch damals durfte die quicke Bewohnerin des 13. Stockwerks im Berlaymont-Gebäude daheimbleiben. Die große Reise der Ursula von der Leyen nach Montevideo wurde vertagt. Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay waren einverstanden. Die EU musste intern nachverhandeln. War es wirklich eine gute Idee, die Zölle auf 91 Prozent aller zwischen der EU und dem Mercosur gehandelten Waren abzuschaffen? Um ein Zeichen zu setzen?

Offenbar nicht. So sehr der neue Kanzler sich auch immer wieder "grundsätzlich für ein selbstbewusstes Auftreten Deutschlands und Europas in einer Welt stark" macht, "die sich gerade in einem epochalen Umbruch befindet", so schwer fällt es Brüssel, 27 widerstreitende Interessen zusammenzubinden. Wenn dann der Regenwald stirbt? Das Klima kippt? Der Amazonas als "eine Lebensversicherung für die Zukunft von uns Menschen auf diesem Planeten" ausfällt?

Kniefall des deutschen Außenstürmers 

Merz möchte "nicht dabei zusehen, wie die Welt neu geordnet wird". Der deutsche Außenstürmer war von Anfang an entschlossen, das vom lauen Olaf Scholz beschädigte Bild deutscher Führungsmacht neu zu malen. Merz sieht sich als echten Weltpolitiker, der einer Großmacht vorsteht, auf die andere hören müssen. Versuchte Scholz noch, Gefolgschaft zu mobilisieren, indem er Mitleid erregte, ist sein Nachfolger der Faustaufdentisch-Typ. Basta!

Mit seinem Wechsel auf die Seite derjenigen, die Ursula von der Leyens wagemutigen Plan zur Enteignung russischer Vermögen in Belgien unterstützten, zeigte Merz sein Merz-Gesicht. Erst hüh, dann hott und am Ende auf dem Bauch, nur noch darum bemüht, die krachende Niederlage zu einem klug herausgespielten Sieg zu erklären.

Kein Russengeld für die Ukraine 

Dass die EU der Ukraine nun kein russisches Geld überreicht, um den Aggressor mit den eigenen Waffen zu schlagen, wird als pragmatische Lösung verkauft. All die Aufregung um die Aushöhlung des Völkerrechts, die Angst vor Bestrafungen durch Russland und die Furcht davor, dass ganz am Ende doch alles selbst bezahlt werden muss, sie lösten sich im Verlauf einer Nacht wie von selbst auf. Der gefundene Kompromiss ist ein ganz einfacher: EU gibt der Ukraine 90 Milliarden Euro Kredit.

Dafür haften sollen nicht die unwilligen Mitgliedsstaaten, sondern der von den Mitgliedsstaaten finanzierte EU-Haushalt. Ursula von der Leyen hat damit ihr Hauptziel erreicht, wieder gemeinschaftliche Schulden produzieren zu dürfen, die von den EU-Verträgen ausdrücklich verboten werden. Die drei unwilligen Mitgliedsstaaten müssen nicht mitmachen beim Senden des großen Signals der Einheit nach Moskau, denn formal nimmt die EU-Kommission den Kriegskredit auf. 

Die krachende Niederlage als großer Triumph

Friedrich Merz hatte sich noch in der Nacht der schicksalhaften Entscheidung eine Erklärung aufschreiben lassen, warum das komplette Scheitern des 200-Milliarden-Coups von Brüssel einer seiner größten persönlichen Erfolge ist. Man haben nur die Reihenfolge umgedreht, indem man jetzt keinen Versuch starte, sich  die russischen Guthaben anzueignen. Das werd erst erfolgen, wenn Russland nach Kriegsende keine Entschädigung an die Ukraine zahle. Dann werden "wir in völliger Übereinstimmung mit dem Völkerrecht die russischen Vermögenswerte für die Rückzahlung heranziehen."

Merz selbst ist wahrscheinlich wirklich überzeugt davon, dass "Russland dennoch am Ende die Zeche zahlen" wird. Der Mann, der betont, dass "wir kein Spielball von Großmächten" sind, ist ein Spielball der innereuropäischen Kleinstaaterei. Wie ein Flummiball getreten, flippert Merz hin und her und die verworrene Strecke, die er dabei zurücklegt, hält er selbst für seinen "klaren Kompass". Beim Diebstahl des Russengeldes wollen die einen nicht mitmachen. Seis drum. Beim Vorwärtsverteidigen des Westens im Donbass sträuben sich die anderen. Der US-Präsident redet nicht mit ihm. Mit dem russischen Präsidenten darf und mag er nicht reden.

Merz hatte Europa Führung versprochen und ein "klares Zeichen der Stärke". Seine Fankurve hatte schon von einem neuen starken Mann geträumt, dem der Kontinent folgen werde. Jetzt muss verbal beschwichtigt werden, damit der Aufschlag des Weltpolitikers in der Realität nicht allzu dröhnend zu hören ist: Die "EU will vorerst kein russisches Vermögen zur Ukrainehilfe nutzen", umschreibt die Hamburger "Zeit" mit Formulierungshilfe aus dem Kanzleramt, was die Eu nicht kann.

Das Jahr ohne Sommer: Der Januar der Schmerzen

Empörende Vorfälle im Januar des Jahres überzeugten Millionen davon, dass es sich bei CDU und FDP doch nicht um verlässliche Parteien der politischen Linken handelt.

 An diesem Tag ist es endlich soweit,
zum ersten Mal wird es geschehn.
Ich fühle es, ich bin nun bereit
bis zum Äußersten heute zu gehn.

 Poldi Lembcke 

Es war ein Jahr zum Vergessen und vielen gelang das außerordentlich gut. Der neue Kanzler wusste schon nach Wochen nicht mehr, was er versprochen hatte. Seine Hilfstruppen von der SPD hatten verdrängt, dass sie wiedermal eine Wahl verloren hatten. In der Welt draußen wendete sich einiges zum Besseren. Deutschland aber blieb mit klarem Kompass auf Kurs. Der Sommer der Stimmungswende fiel ins Wasser. Der Herbst der Reformen folgte ihm leise.

Der Rückblick auf 2025 zeigt zwölf Monate, die es in sich hatten. Nie mehr wird es so sein wie vorher.  

Die Brandmauer, sie ist nur drei Buchstaben entfernt vom Brandstifter, doch ein gesamtgesellschaftliches Feuer entzünden, an dem sich Millionen für Wochen die Hände wärmen, das kann sie auch. Als im Januar eines Jahres, von dem sich eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger einen entschlossenen Neuanfang versprechen, die Masken im Bundestag fallen und die einen gemeinsam mit den anderen abstimmen, fegt ein Sturm durch Wasserglas wie zuletzt nach den Remigrationsvorwürfen gegen AfD-Hinterbänkler und ausländische Extremisten.

Deutschland in Not 

Deutschland in Not! Niemand weiß mehr Rettung, außer in der Vergangenheit. Das A in "Angela" steht plötzlich wieder für Antifa, das M in "Merz" für Missbrauch der Meinungsfreiheit. Die Demokratie erfindet sich neu, Mehrheit ist, wer lauter schreit. Wenigstens diese Gewissheit, seit Generationen im Flüsterton weitergegeben, erst vom Reichsrundfunk, dann von ARD, ZDF, Correctiv und Campact, sie ist geblieben.

Mit dem Untergang der "Letzten Generation", die angekündigt hatte, als "Neue Generation" zurückzukehren, scheitert auch der Plan vom großen Umbau. Friedrich Merz, nach außen knochenhart, innen windelweich, ist der passende Mann für den Übergang. Im unnachahmlichen Stil eines alten Politfunktionärs verspricht er allen das Richtige, um anschließend das Falsche zu tun. Im Januar nimmt er die eigene Partei in Geiselhaft, um dem Wahlvolk seine Entschlossenheit zu demonstrieren: Die Brandmauer, diese tragende Wand von Unseredemokratie, sie steht nicht mehr zwischen  ihm und denen, die denken wie er. 

Aufgepeitschte Massen 

Für die medial aufgepeitschten Massen ist es das Signal, alle Hemmungen fallen zu lassen. Die belanglose, rein symbolische Abstimmung im Bundestag, sie läutet nach allgemeiner Lesart das Vierte Reich ein. Alles demonstriert, was immer demonstriert, vor der CDU-Zentrale werden Transparente gereckt, auf denen "Merz = Höcke" steht. Beide gelten nun als Faschisten. Merz aber ist der Schlimmere.

Nach Milliarden und Abermilliarden, die Staat und Gesellschaft – Kurzcode "Wir" – in den "Kampf gegen rechts" (Angela Merkel) gebuttert haben, steht die CDU plötzlich da, wo die AfD vor einem Jahr war: als Verfassungsschutz-Verdachtsfall. Merz macht den Rücken gerade. Er ist noch nicht gewählt. Er muss noch an Prinzipien festhalten. 

Drumherum erfüllte sich erneut die Hoffnung nicht, dass am deutschen Wesen noch irgendjemand genesen will. Statt Bewunderung für ihre konsequente Politik der Wirklichkeitsverweigerung empfangen die Repräsentanten der demokratischen Mitte bei ihren gelegentlichen Ausflügen über die Grenzen Berlins vor allem ratlose Blicke und die stille Frage: Seid ihr noch bei Trost? Außerhalb der Blase kann jeder die Zeichen sehen, die auf Abstieg stehen.

So schnell geht es 

Dass es so schnell gehen kann mit einem Rückfall. Dass der hellste Stern der Hoffnung auf eine klimaneutrale Zukunft zur roten Laterne der wehrhaften Demokratie verglüht. Die Welt, die lange Zeit kaum Notiz genommen hatte von dem kleinen Land, das als letzte Großmacht der moralischen Überlegenheit mit Großkreuzen und Grundgesetzänderungen handelt, die keiner mehr geschenkt haben will, schüttelte nur noch den Kopf. 

Es war klar: Nur ein Verbotsverfahren gegen die schlimmste Konkurrenz könnte die Lage retten. Der Gedanke, die Demokratie mit Hilfe undemokratischer Maßnahmen vor den falschen Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger zu bewahren, ist nicht neu, erscheint aber in diesem Januar alternativlos. 

Ja, die Zeiten, in denen man die CDU noch faschistisch nennen konnte, ohne dass sie es tatsächlich war, sie sind lange vorüber. Wer das jetzt tut, heult mit Wölfen, die die Demokratie verteidigen. Verdachtsfall Bundestag, der Verfassungsschutz hat mutmaßlich längst ein Auge auf das Hohe Haus. Der Unsicherheit auf den Straßen ist nichts gegen die, die ein einziges AfD-Ja im Bundestag erzeugt. Ein kommender Kanzler, der mit den Rechtsextremisten paktiert. Die bürgerliche Mitte verstummt entsetzt. Wer die Gefahr nicht sieht, fragt sich besorgt: Bin ich jetzt auch schon so einer?

Spaten überall 

Familien spalten sich. Ehen werden geschieden. Kinder ziehen aus. Wutentbrannt. Verzweifelt. Wie zuletzt noch jeder Monat in jedem Jahr ist auch dieser Januar nach Kräften bemüht, die vorherigen alt aussehen zu lassen. Es geht noch hysterischer, noch lächerlicher, noch unterhaltsamer. Der "schlechteste Oppositionsführer, den Deutschland jemals hatte" (Faeser) stellt sich plötzlich als Retter der Grenzen dar, selbstbewusst mit Umfragewerten, mit denen früher niemand Anspruch auf eine Festanstellung als CDU-Ortsvorsitzender angemeldet hätte. 

Die Frau, die den Ereignissen das Bett bereitet hat, ist plötzlich wieder beliebter als alle Amtsinhaber zusammen. "Angela Antifa" ist ihr neuer Name. Die Erinnerung an sie, die die Lähmung als Stabilität zu preisen wusste, ist golden.

Wie auch nicht in einer Zeit, in der Begriffe wie "Faschismus", "Nazi" und "Rechtsruck" auf alles passen, was rechts von Heidi Reichinnek steht. CDU, CSU, FDP und die AfD sowieso kommen in den Genuss der Zuschreibung. Alle wollen sie spalten, Lager bauen, das Klima zerstören und die junge Generation mit unsagbaren Lasten erdrücken, um sich noch ein paar schöne Jahre zu gönnen.

Auf der Kippe 

Das Land steht moralisch und politisch auf der Kippe. Es ist ein Januar voller Zeitenwenden, symbolischer und realer Proteste, apokalyptischer Szenarien und dem ständigen Ruf nach neuen Lösungen gegen die Aushöhlung aller Gewissheiten. Linke, SPD und Grüne fordern eine brandneue Sozialpolitik, wer ihre Konzepte nicht gut findet, soll nicht mitbestimmen dürfen. Draußen im Land wächst die Verzweiflung. Es ist niemand da, den irgendjemand mit gutem Gewissen wählen könnte. Aber muss doch, den wie so oft ist Schicksalswahl.

Ein halbes Jahrhundert nach Willy Brandt haben es die demokratischen Parteien wirklich geschafft, den Saal nicht nur leerzuspielen, sondern gleich das ganze Theater abzubrennen. Wer im Februar noch wählen wird, wird es im Glauben tun müssen, wenigstens Schlimmeres zu verhindern. Mit Olaf Scholz hat die SPD eine Schlaftablette zum Spitzenkandidaten gemacht. Mit Robert Habeck kontern die Grünen mit einer Erlöserfigur. Merz, ein trockener Asket, spielt den Vernünftigen, der weiß, was das Drehbuch verlangt.

Trotzig das Gegenteil 

Alles bricht auseinander, weil längst nicht alle bereit sind, ihr Leben grundlegend zu verändern, auf Grenzen zu verzichten und sich Sprachvorgaben zu unterwerfen, die die Welt verbessern sollen. Sobald diese Menschen – oft in den weniger besseren Vierteln der Großstädte und draußen auf dem Land daheim – den Eindruck bekommen, jemand wolle ihnen etwas aufzwingen, fahren sie die Stacheln aus. Und wählen unbeirrbar das ganze Gegenteil, wie es Wolf Biermann schon wusste.

Der geplante Aufbau der neuen Welt, besiedelt vom neuen Menschen, ist schon kurz nach Neujahr abgesagt. Habeck rudert, doch er traut sich nicht auf die Marktplätze. So wird das nichts mit der großen Transformation, an der alle mit glühendem Herzen teilnehmen. Das Echo auf den "Bündniskanzler" kommt nur seiner eigenen Blase. Die Grünen, die ihr Schicksal unlösbar mit ihrem Sitzenkandidaten verbunden haben, wissen schon sechs Wochen vor der Wahl, dass ihre Zeit vorbei ist.

Das Ende einer Ära 

Leise verabschiedet sich eine Volkswirtschaft. Die CDU entdeckte ihre Leidenschaft für Sachpolitik, die SPD, dass ein ehemaliges Mitglied der Jusos kein Linker mehr ist, sobald es Klingbeil heißt. Die Reihen werden geschlossen, ein letztes Mal vielleicht. Aus dem Außenministerium werden bereits Telefonate geführt, um Anschlussverwendungen zu finden. Die Demos gegen rechts wirken im Rückblick wie die Abschiedsvorstellung einer Ära, die mit Teddybären und Jubel an den Bahnhöfen 15 Jahre zuvor begann. 

Abschied ist ein scharfes Schwert, das weiß Friedrich Merz, der viele Abschiede hinter sich hat. Jetzt ist er wieder da, ein Mann, der den Unbeugsamen spielt, dem Prinzipien wichtiger sind als die Macht. Man könnte jetzt schon sehen, dass es die Verlockung der Macht ist, die hin so prinzipienfest wirken lässt. Deshalb wohl auch gehen seine Umfragewerte nie durch die Decke, ungeachtet der Konkurrenz: Olaf Scholz, der Unsichtbare mit der Aktentasche. Weidel, die schrille mit dem Brandmal. Habeck, der Märchenerzähler. Lindner, der alles tun würde, um Minister bleiben zu können.

Wenig Wetter 

Es ist wenig vom Wetter die Rede, wenig von Klima und Katastrophe in diesem Januar. Dafür aber viel von der "wehrhaften Demokratie", einer nicht genauer umrissenen Idee, die eine höhere Moral bemüht, um niedere Beweggründe zu diskreditieren. Die Brandmauer-Strategie, mit der sich die Union in den sichersten und dynamischsten antifaschistischen Raum der Welt hatte verwandeln wollen, brauchte von der feierlichen Verkündung bis zum stillen Begräbnis genau einen Bundestagsantrag. Das Signal war gesetzt: Wer will, dass es anders wird, kann mich wählen. Wie genau es anders werden wird, wird allerdings erst später bekanntgegeben.

Die Sehnsucht nach tabula rasa, die Sehnsucht nach der Kettensäge, sie ist da, aber sie hat keine Mehrheit, das weiß auch Merz. Viel größer ist die Sehnsucht danach, dass alles wieder werden möge, wie es bei Merkel war. Mutti passt auf. Wenn die Küche brennt, kommt Mutti löschen. Manchmal schimpft sie. Aber immer ist zu spüren, wie gut sie es meint.

Ein verlorener  Ruf wie Donnerhall 

Und hat nicht Deutschland mit ihr an der Spitze noch einen Ruf genossen wie Donnerhall? Merkel gab den Startschuss für die deutsche Moraldiplomatie, Merkel zeigte, wie man eine Grenze öffnet, ohne sie zu öffnen. Merkel hätte nie ohne Rücksprache mit den anderen Blockparteien einen Antrag für eine Migrationswende abstimmen lassen, nur um sich auf der politischen Landkarte weiter rechts zu platzieren. 

Im Vertrauen auf sie konnte der Verfassungsschutz davon absehen, die Union als Verdachtsfall einzustufen. Jetzt aber muss die SPD die andere ehemalige Volkspartei proaktiv als Koalitionspartner ausschließen - ein Verzweiflungsakt zur Verteidigung der Demokratie, dem  auf dem Weg zur Enttäuschung und Enteignung der Mitte viele, viele weitere folgen werden.

Der Anfang vom Ende: 




 

Donnerstag, 18. Dezember 2025

Russengeld in Brüssel: Es hat nur ein anderer

Was ist die Gründung einer Bank, hatte schon Bertholt Brecht gelobt, gegen die Einziehung russischer Vermögenswerte.

Der Nikolaus stand noch vor dem Haus, da erlitt die Europäische Zentralbank (EZB) einen Anfall von Unabhängigkeit. EZB-Chefin Christine Lagarde sei gegen den Plan von Ursula von der Leyen und Friedrich Merz, der Ukraine mit sogenannten eingefrorenen russischen Geldern zu helfen, die nächsten beiden Jahre zu finanzieren. Sie wolle das Reparationsdarlehen nicht absichern, da das gegen EU-Vertragsrecht verstoße, hieß es. 

Belgien, die Slowakei, Ungarn und Italien schienen eine mächtige Verbündete erwachsen zu sein. Lagarde gilt als enge Vertraute von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron. Wenn sie die belgischen Zweifel an der Rechtssicherheit des geplanten Zugriffs öffentlich teilt, heißt das, dass ihr keine anderen Anweisungen vorliegen.

Der Krieg ist nicht verloren 

Einen Augenblick lang war der Krieg verloren. Das russische Geld wird gebraucht, um neue gemeinsame EU-Schulden abzusichern, die wiederum benötigt werden, um der Ukraine über die Jahre 2026 und 2027 zu helfen. Was danach wird, weiß niemand. Noch mehr russisches Geld müsste aus dem Kreml geholt werden. Doch was zählt, ist der Moment. Und in dem sieht es so aus, als sei faktisch keine andere Quelle für zusätzliche Milliarden verfügbar. Kein EU-Land kann mehr in den verlorenen Krieg buttern. Nach den Vorgaben der europäischen Verträge dürften es die meisten nicht einmal, weil ihre Schulden schon längst über Maastricht-Niveau liegen.

So bleibt nur das Auslandsguthaben der russischen Staatsbank. Das will die EU aus guten Gründen nicht einfach einziehen und nach Kiew überweisen. Ein solches Vorgehen wäre Diebstahl, vor keinem Gericht der Welt kämen von der Leyen, Merz und Macron mit einem so durchsichtigen Manöver durch. 

Ein ganz einfacher Plan 

Deshalb ist der Trick zur Aneignung um einiges komplizierter, als es die "Tagesschau" verkünden mag, bei der einfach russisches Geld an die Ukraine geschickt wird. Das Gegenteil ist der Plan: Das Geld bleibt russisch. Die EU eignet es sich nur insofern an, dass sie bei Banken als Sicherheit hinterlegt. Die wiederum zahlen frische Milliarden aus, die an die Ukraine gehen. Hat Russland dann  erst den Krieg verloren, der CDU-Wehrexperte Norbert Röttgen hat eben erst noch einmal verkündet, dass es "sehr, sehr unwahrscheinlich" sei, dass dieser Fall nicht eintrete, muss der Kreml in der Kapitulationsurkunde förmlich auf seinen Anspruch verzichten. Das Russengeld löst dann den Kredit ab. Fertig.

Lagardes Bedenken, von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen als "Skepsis der Europäischen Zentralbank" beschrieben, drohten, den größten öffentlich geplanten Eingehungsbetrug der Weltgeschichte  zu verhindern. Mit einer Chuzpe, die selbst für EU-Verhältnisse beeindruckend ausfiel, hatte die frühere deutsche Verteidigungsministerin es eben gerade erst geschafft, einen sogenannten "Mechanismus" in Kraft zu setzen, der das Handeln einfacher macht. 

Die Hände am Russenschatz 

Ohne große Ankündigung entschied eine einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten, dass es die bisher notwendige Einstimmigkeit bei der Entscheidung über den Russen-Schatz nicht mehr brauche. Es werde künftig reichen, dass eine Mehrheit einverstanden sei. Und nun quengelte Christen Lagarde, eine in der Regel so zuverlässige Europäerin. Eine offene Bedrohung inmitten einer Situation, die den Europäern ohnehin längst über den Kopf gewachsen ist.

Der Aufstand der vorbestraften Französin endete nach wenigen Minuten. Schon kurz nach ihrer Wortmeldung, den den Coup der EU-Kommission zu durchkreuzen drohte, ruderte Christine Lagarde so eilig zurück, dass die EZB-Chefin in vielen Medien als eine der eifrigsten Enteigner Russlands gefeiert wurde.  Ein von der EU vorgelegter neuer Plan, lobte die 69-Jährige, komme "dem Völkerrecht so nahe wie keine bisherige Lösung". 

Fast im Einklang mit dem Völkerrecht 

Herauszulesen war, dass Lagarde die Aneignung des Vermögens eines Staates durch einen anderen immer noch für nicht ganz konfliktfrei hält. Aber der Raub, den die EU plane, werde ja beschwören, dass niemand Russland "den Eigentumstitel an den Vermögenswerten entzieht". Das Geld habe zwar ein anderer. Es sei aber nicht weg. Christine Lagarde hielt das nun für "rechtlich am ehesten vertretbar".

Das muss sie auch, denn Friedrich Merz und Ursula von der Leyen haben die EU mit ihren Enteignungsfantasien auf sehr dünnes Eis geführt. Gelingt es den beiden nicht, den sogenannten "Reparationskredit" beschließen zu lassen, steht die EU ein weiteres Mal blamiert da. Kein Kredit auf Kosten der russischen Staatskasse, das wären Merz' 5.000 Helme

Keiner will bezahlen 

Gleichzeitig müssten sich die Friedenskrieger ehrlich machen: Der Ukraine kein Geld mehr zu geben, nur weil es nicht da ist, würde schon in absehbarer Zeit den Zusammenbruch des Landes bedeuten. Die Ukraine weiter zu finanzieren, hieße daheim Ärger zu bekommen. Bisher hat der Westen dem angegriffenen Land rund 600 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, den Großteil davon - etwa ein Drittel - haben die USA und Deutschland mit je 100 Milliarden aufgebracht. Das reicht für etwa ein halbes Kriegsführung auf einem Niveau, bei dem die Ukraine nicht verliert.

Nachdem sich die Amerikaner aber aus der Finanzierung zurückgezogen haben, droht für die verbliebenen Staaten alles noch teurer zu werden, bei gleichzeitige sinkenden Erfolgsaussichten. Niemand in der EU kann den US-Anteil zusätzlich finanzieren. Ohne das amerikanische Geld aber wird auch der Rest an europäischen Zahlungen nicht lange reichen, um die Front zu halten. 

Rechtsbruch als Signal

Deshalb, so eine Idee konnte nur aus dem sagenumwobenen 13. Stock des Berlaymont-Palastes in Brüssel kommen, hat es Ursula von der Leyen auf die russischen Milliarden abgesehen, seien es 90, 140 oder 210. Jeder Cent hilft, noch ein wenig weiterzuwirtschaften. Christine Lagarde wäre einverstanden,  wenn mit der Enteignung ein deutliches Signal an andere Investoren verbunden wird, dass die Beschlagnahmung und Weiterverwendung des Geldes "keiner Enteignung gleichkomme". 

Sie glaube, hat Largarde gesagt, "dass Investoren es zu schätzen wissen werden, dass die EU nicht versuche, Staatsvermögen einzuziehen, nur weil es uns gelegen käme". Man müsse ihnen dazu nur klarmachen, dass die derzeit geplante Einziehung "ein sehr, sehr außergewöhnlicher Fall" sei. So außergewöhnlich sogar, dass er einmalig ist: Weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg wurde dergleichen versucht. In beiden Kriegen wurde erst der Sieger ausgefochten. Und dann über das Geld des Verlierers entschieden.

Es hätte nur ein anderer 

Aktuell wäre das russische Geld ist nicht weg. Es hätte nur ein anderer. Um so weit zu kommen, haben die Experten der EU-Kommission unter Zuhilfenahme auch quantenphysikalischer Betrachtungsweisen Neuland erkundet. Die Konstruktion, die einen rechtmäßigen Zugriff auf fremdes Eigentum zulassen soll, teilt russisches Vermögenswerte nach ihrem physikalischen Status in "russisch" und "nicht-russisch" auf.

Weil die eigentlichen Guthaben seit Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 im Zuge der Sanktionen eingefroren worden sind, indem sie gegen Bargeld eingetauscht wurden, habe Russland seine Eigentumsrechte daran verloren, argumentiert die EU-Kommission. EU-Sanktionen verhinderten ja eine Überweisung der Guthaben an Moskau. 

Bargeld ist kein Vermögen 

Daher habe Russland kein Geld mehr im Ausland, sondern nur noch einen Forderungsanspruch, den die russische Regierung eines fernen Tages gegenüber den EU-Finanzinstituten, die die Gelder verwahren, geltend machen müsse. Nur "dieser Anspruch der russischen Zentralbank ist Russlands Vermögenswert", möchte die Kommission die zweifelnden Mitgliedsstaaten überzeugen. 

Die Methode ist etwa die: Weil A böse auf B ist, verkauft er dessen Auto, das zufällig bei ihm in der Garage steht. Als B insistiert, dass der eingenommene Kaufpreis aber immer noch ihm gehöre, versichert A, dass er sich selbst verboten habe, B das Geld zukommen lassen können zu dürfen. Und dass B deshalb nur noch das Recht haben, auf Herausgabe des Autos zu klagen.

Mit der Idee, dass  "Barguthaben nicht der Zentralbank der Russischen Föderation gehören" und  damit "nicht der Staatenimmunität unterliegen", hat die EU-Kommission sich Beinfreiheit für alle Fälle verschafft. Bisher galt im Geschäftsbetrieb zwischen souveränen Staaten das von allen Seiten anerkannte Grundprinzip des Völkerrechts, dass ein Staat grundsätzlich nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterliegt. Gleiches kann über Gleiches keine Herrschaft ausüben, das Recht des einen Staates ist nicht besser als das des anderen. Wäre es anders, könnten Regierungen einander fortlaufend wechselseitig vor die eigenen Gerichte zerren. 

Not kennt kein Gebot 

Doch Not kennt kein Gebot. Und der EU öffnet das selbst von der ehemals konservativen FAZ geforderte  "unmissverständliche Signal an Putin" die Chance, das seit den Zeiten des antiken Rom anerkannte Prinzips "Par in parem non habet imperium" über Bord zu werden. Die weltgrößte Staatengemeinschaft hat schon immer den Anspruch gehabt, als eine Art Weltregierung Standards zu setzen, gestützt auf ihre wirtschaftliche Macht in weit entfernte Regionen hineinzuregieren und mit ihrer leidenschaftlich gern geschwungenen Moralkeule Gefolgschaft zu erzwingen. 

Das hat nie geklappt. Gerade in den letzten Wochen musste die EU mit dem Verbrennerverbot und der Lichterkettensorgfaltsrichtlinie eine ganze Reihe ihrer hochfliegenden Pläne beerdigen.

Die Aneignung der russischen Milliarden könnte nun aber ein Zeichen setzen, dass inmitten der Trümmer der großen Planwirtschaft noch Entschlossenheit wohnt und nicht nur Verzweiflung. Bundeskanzler Friedrich Merz, lange ein entschiedener Gegner der offenkundig rechtswidrigen Aneignung des russischen Geldes, hat es als einer der Ersten erkannt. Bei der Enteignung der Russen  "geht um viel mehr als nur um eine Finanzierungsfrage", hatte er gesagt. Die auch als "Mobilisierung der Milliarden" umschriebene Attacke auf 2000 Jahre Völkerrecht seien "ein unmissverständliches Signal an Putin: dass die Europäer ihm entschlossen und geschlossen entgegentreten bei der Verteidigung ihrer Freiheit." 

Steuerprivilegien: Schlupflöcher für Lebensversicherte

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So hemmungslos feiern die Begünstigten von Lebensversicherungsverträgen aus den Jahren vor 2005: Sie müssen keine Steuern zahlen, obwohl es ihnen ohnehin sehr gut geht. Die Gesellschaft schaut in die Röhre.

Es ist ein überaus faires, transparentes Verfahren, über hunderte von Jahren antrainiert und perfektioniert. Wer in Deutschland Einkommen erzielt, der muss Steuern zahlen, wer vom verbliebenen Netto etwas kauft, muss Steuern zahlen. Und wer mit dem Rest spart, muss eventuelle Gewinne versteuern. Bleibt am Lebensende zu viel übrig, sind die Erben dran. Sie haben auf den Nachlass Steuern zu zahlen.

Doch das System ist bei weitem nicht perfekt. Wie das Spremberger Zentralinstitut für schwierige Gerechtigkeitsfragen (ZISGF) in einer Studie für das Bundesfinanzministerium feststellt, klaffen bei selbstangesparten Lebensversicherungen bis heute eklatante Lücken. "Wenn der Vertrag vor 2005 abgeschlossen wurde, bleibt die Auszahlung komplett steuerfrei", sagt Rolf Karvatz. Einzige Voraussetzung sei, dass der Vertrag mindestens eine Laufzeit von zwölf Jahren erreicht habe und Beiträge über wenigstens fünf Jahre lang eingezahlt worden seien.

Steuerfrei für Anspruchsberechtigte 

Nicht nur die Rückzahlung des angesparten Kapitals, sondern auch der sogenannte Ertragsanteil  werden dann steuerfrei an die Anspruchsberechtigten ausgeschüttet. Die könnten dann meist sogar wählen, ob sie sie ihr Geld als monatliche Rente bis zum Lebensende oder auf einen Schlag am Stück erhalten wollen. 

"Für die Berechtigten macht das keinen Unterschied", erklärt Karvatz. Bei der Entscheidung, auf welchem Weg das Geld in Empfang genommen werden soll, spiele nur eine Rolle, welche verbleibende Lebenserwartung der Vertragspartner für sich annehme. 

"Wer hochalt wird, ist mit einer monatlichen Auszahlung besser dran", hat Karvatz errechnet. Dazu reiche es oft schon, etwa 95 Jahre alt zu werden. Auch bei einer solchen Zahlung über Jahrzehnte falle nur eine Steuer auf den sogenannten Ertragsanteil an. Die sei so gering, dass mit den Beträgen kein Finanzminister große Sprünge machen könne. 

Ausgehebeltes BFH-Urteil 

"Zwar ist diese Praxis bereits 2021 vom Bundesfinanzhof (BFH) (VIII R 4/18) als ungesetzlich verworfen worden. Mit dem Jahressteuergesetz 2024 aber sei das BFH-Urteil gezielt ausgehebelt worden. "Die Versicherungsträger müssen Rentenzahlungen wieder als steuerpflichtige Einkünfte melden, die Finanzämter erheben dann Steuern darauf." Die Hoffnung des damaligen Bundesfinanzministers Christian Lindner sei gewesen, dass es um so geringe Beträge gehe, dass nur wenige Widerspruch einlegen. "Viele wissen ja nicht einmal, dass sie das könnten."

Aus Sicht nachhaltiger Gerechtigkeit, wie sie die Parteien der Mitte seit Jahrzehnten herzustellen angetreten sind, sei das ein Schritt in die richtige Richtung. Zugleich aber zeige das Vorgehen, wie tief die Kluft zwischen Menschen ohne Lebensversicherung, Menschen mit Renten aus Lebensversicherungsverträgen und Menschen sei, die sich für eine Kapitalauszahlung entscheiden. "Wer das tut", warnt Kravatz, "bekommt sein Geld nämlich weiterhin steuerfrei".

Rückkehr der Anlagebesteuerung

Zwar hätten  die damalige Bundesregierung und der Bundestag Anfang des Jahrtausends beschlossen, dass auch auf Gewinne aus langlaufenden Verträgen ab 2005 Einkommen- oder Abgeltungssteuer fällig wird. Doch Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich vorher einen entsprechenden Vertrag zugelegt hätten, seien bis heute privilegiert. 

Die Dimension des Steuerbetrugs ist erschreckend. "In Deutschland wurden im vergangenen Jahr knapp 100 Milliarden Euro an Versicherte ausgezahlt", klärt Experte Rolf Karvatz auf. Begünstigte vereinnahmen das angesparte Geld "in einem großen Happen", wie er formuliert. Bis zu 25 Milliarden Euro plus Solidaritätszuschlag entgingen der Gemeinschaft auf diesem Weg. "Das ist der Betrag, den die Finanzämter beanspruchen, wenn die Menschen in Fonds, ETFs oder Einzelaktien investiert haben, die sie mit Gewinn verkaufen." 

Ein Drittel für Vater Staat 

Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück hatte die bis dahin geltende Spekulationsfrist im Jahr 2008 abgeschafft, um kleine Anleger vor dem Zinseszinseffekt zu bewahren. Egal, wie lange Kleinsparer eine Aktie oder einen Fonds im Depot haben, beim Verkauf wird am Ende immer eine  Abgeltungssteuer auf Zinsen und Kursgewinne fällig. Diese kräftige Steuererhöhung hatte Steinbrück mit der notwendigen Vereinfachung bürokratischer Verfahren begründet. Statt komplizierte Steuervordrucke für Kapitalerträge auszufüllen, führen Deutschlands Anleger seitdem pauschal ein knappes Drittel ihrer Gewinne ans Finanzamt ab.

"Warum nicht auch bei Lebensversicherungen?", fragt der auf Finanzgerechtigkeit spezialisierte Gesellschaftsforscher Kravatz. Er hält die Steuerfreiheit für langjährige Lebensversicherte für ein äußerst fragwürdiges Privileg. "Wir reden hier schließlich von einer Generation, die oft freundlich als Boomer, zutreffender aber als Raff-Rentner beschrieben wird." 

Gewinne für Kreuzfahrten 

Gerade diesen Menschen, die ohnehin schon die besten Jahre der Republik  im sogenannten besten Alter hatten erleben dürfen, werde mit den häufig präferierten Einmalzahlungen "mit einem Schlag unsinnig viel Geld hinterhergeworfen, das sie oft gar nicht brauchen". Das seine ja häufig "genau die Leute, die zu zweit in viel zu großen Wohnungen mit niedriger Miete oder gar in einem eigenen abbezahlten Haus leben." 

Die Folge sei, dass das, was sie im Laufe der Jahre in der Lebensversicherung angespart hätten, "unsinnig für Kreuzfahren und Busreisen verpulvert" werde. "Oder sie stecken es in Aktien, Gold und Bitcoin." Und das in einem Land, das eine vollkommen verschlissene Infrastruktur mit bröckelnden Brücken und eine stillstehenden Bahn, zu wenig Geld für die Integration Schutzsuchender und kaum freie Mittel für die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine habe.

Schlupfloch für Superreiche 

Trotzdem weigere sich auch die neue Bundesregierung, dieses kaum bekannte Schlupfloch für Superreiche zu stopfen. "Dabei empfiehlt selbst der Internationale Währungsfonds, ungerechte Steuerregelungen zu schließen, die einseitig Ältere bevorteilen." Ein Federstrich würde aus Kravatz Sicht reichen. "Als Peer Steinbrück damals die Steuerprivilegien für Anleger abgeschafft hat, ging das doch auch." 

Dass die Ampel-Koalition trotz ihrer beständigen Geldnöte daran gescheitert sei, für eine Vielzahl immobilienbesitzende Steuerpflichtige und Immobilienunternehmer empfindliche Steuerverschärfungen durchzusetzen, dürfe das schwarz-rote Bündnis nicht abschrecken. "Aber schon im Koalitionsvertrag haben beide Seiten diesbezüglich für eine Leerstelle votiert."

Die CDU rückt von früheren Forderungen  ab 

 Für die CDU sei das zwar ein großer Schritt gewesen. "Sie hat ja über Jahre angekündigt, zum Halbeinkünfteverfahren zurückkehren zu wollen, um mehr Steuergerechtigkeit und verbesserte Anreize für die Anlage in Aktien zu schaffen." Dass die Regierung aber bei Alt-Lebensversicherungen immer noch "Geld mit vollen Händen aus dem Fenster wirft, kann kein Dauerzustand bleiben".

Wer höhere Vermögen- und Erbschaftsteuern fordere, um die schwächelnde deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen, könne nicht nur parallel Beiträge zu den Sozialkassen erhöhen und mit neuen Zöllen, Grenzabgaben und Klimabußen Dampf für mehr Wachstum machen. "Er muss auch zur Schließung von Schlupflöchern bei Lebensversicherungsbegünstigten bereit sein." Auch die Linksfraktion im Bundestag hatte schon bei der Bundesregierung nachgefragt, ob sie diese millionenschweren Schlupflöcher schließen will und warum nicht. Die Antwort der Bundesregierung war knapp und eindeutig: "Konkrete Maßnahmen im Sinne der Fragestellung sind aktuell nicht geplant".

Armutszeugnis für die Aufbruchskoalition 

Ein Armutszeugnis für eine Koalition, die von einem sozialdemokratischen Vizekanzler geführt wird, der nicht müde wird, seine leeren Kassen zu beklagen. Lars Klingbeil fehlen 172 Milliarden Euro in der Haushaltsaufstellung bis 2029, 30 Milliarden werden bereits für das Jahr 2027 benötigt. Doch weil im 146 Seiten langen Koalitionsvertrag kein einziges Mal das Wort Lebensversicherungsbesteuerung auftaucht, duldet auch der SPD-Chef das Fortbestehen der "skandalösen Gerechtigkeitslücke" (Rolf Kravatz). "Dabei weiß Herr Klingbeil genau, dass diese Ungerechtigkeit des deutschen Steuersystems unter Ex­per­t*in­nen seit Langem bekannt ist."

Mittwoch, 17. Dezember 2025

Kevin Kühnert: Das Wunder der Finanzwende

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Das gesamte "hauptamtlich arbeitende Team" der Bürgerbewegung Finanzwende wird aus einem Etat finanziert, der bei einer profitorientierten Firma nicht einmal für halb so viele Mitarbeiter reichen würde.

Viele hatten ihn als neuen Kanzler gesehen, auf jeden Fall aber eines Tages als Finanzminister, Parteichef oder EU-Kommissionspräsidenten. Kevin Kühnert brachte alles mit. Die richtige Einstellung, das richtige Parteibuch, die scharfe Zunge, den wachen Verstand und die Kulleraugen. Als SPD-Generalsekretär war er die Idealbesetzung. 

Ein junger, von keiner Begegnung mit der Wirklichkeit verdorbener Idealist, dessen Machthunger dem eines Kardinal Richelieu nicht nachstand. In der bemerkenswerten Doku "Kevin Kühnert und die SPD" zeigte der Berliner Jung sich als der Strippenzieher, der die deutlich älteren Genossen Walter Borjans und Saskia Esken an die Parteispitze lanciert, beständig rauchend und telefonierend und die so ungeschickt agierenden Sockenpuppen dirigierend.

Rückzug aus der ersten Reihe 

Das Ende war brutal. Kühnert war nicht einmal 40, als ihn der beständige Leistungsdruck zwang, sich aus der ersten Reihe von Politik und Talkshowpersonal zurückzuziehen. Sein Bundestagsmandat behielt er noch, von irgendetwas muss auch der Sozialist leben. Doch Politik machen wollte er nicht mehr. "Im Moment kann nicht über mich hinauswachsen, weil ich nicht gesund bin", schrieb der 35-Jährige in einem Brief an seine Genossen.

Kevin Kühnert war entnervt, er hatte sich aufgerieben im Nahkampf mit der Basis und der Parteispitze, die den Aufsteiger dafür verantwortlich machte, dass das eben erst begonnene sozialdemokratische Jahrzehnt nach drei Jahren schon wieder zu Ende war.

Ein teilnehmender Beobachter 

Ein Jahr war er verschwunden, abgesehen von sehr seltenen kurzen Wortmeldungen in seiner Rolling-Stone-Kolumne "Teilnehmende Beobachtung". Mit spitzer Feder spießte Kühnert hier die "Identitätspolitik des bayrischen Ministerpräsidenten" Söder auf. Oder er berichtete auf seine grundsympathische Art, wie er "morgens von Zeit zu Zeit den Fernseher anschalte, um mich im BR-Fernsehen von den Panoramabildern berieseln zu lassen", während die hart arbeitende Mitte draußen versucht, die schweren Zeiten zu überleben.

Augen auf bei der Berufswahl! Wer wie Kühnert einmal auf dem Karussell mitgefahren ist, das die Nomenklaturkader der Volksparteien von Fleischtopf zu Fleischtopf fährt, der schaut dem Überlebenskampf der Massen gelassen zu. Man liest "Robert Habecks viel zitiertes Interview in der Taz". Und weiß vielleicht auch nicht, wer von der Rentenreform profitiert. Aber dafür genau, dass es für einen selber auch nicht weiter wichtig ist.

Ein Treffen mit alten Freunden 

Schließt sich die eine Tür, von einem selbst zugeknallt, öffnet sich eine andere, in diesem Fall eine, die der alte Kühnert-Kumpel Norbert Walter-Borjans aufgezogen haben dürfte. Der frühere SPD-Vorsitzende sitzt als "Sprecherin" (Finanzwende) dem sechsköpfigen Aufsichtsrat des Berliner Vereins Finanzwende e.V. vor. Und bei dem steigt Kevin Kühnert nach seinem Sabbatjahr jetzt ein. Was für ein großer, aber schöner Zufall!

Und wie das passt. Die Geschäftsräume der Finanzwende, eines zwar nicht gemeinnützigen, aber  für fast alle Menschen engagierten Vereins mit Sitz in Schöneberg, sind gut mit dem Rad zu erreichen und die Mission der Lobbygruppe ist wichtig. Finanzwende setzt sich für ein "stabiles Finanzsystem" ein, für höhere Erbschaftssteuern und, das ist mit Blick auf Olaf Scholz ein bisschen kitzlig, für eine strenge Strafverfolgung aller Verantwortlichen, die mit den Cum-Ex-Geschäften zu tun hatten. 

Beim Verein, der sich selbst mit Blick auf seine 15.000 Mitgliederinnen und Mitglieder auch "Bürgerbewegung Finanzwende" nennt, übernimmt der studierte Publizist- und Kommunikationswissenschaftler ohne Abschluss die Leitung des Themenfelds Steuern, Verteilung und Lobbyismus. Kühnert werde sich "für alternative Finanzpolitik engagieren", hieß es bei der Vorstellung des prominenten neuen Mitstreiters der Organisation, die 2018 vom ehemaligen Grünen-Finanzpolitiker Gerhard Schick gegründet worden war.

Gegen die Herrschaft ökonomischer Gesetze 

Schick, ein erklärter Befürworter von noch mehr Umverteilung und entschiedenen staatlichen Eingriffen, um die Wirkung ökonomischer Gesetze im Interesse einer menschenwürdigen Ordnung zu begrenzen, zeigt mit seiner Finanzwende, wie finanzielle Wunder gelingen können. Der Verein ist absolut transparent, auch wenn er im Zuge des Einstiegs von Kevin Kühnert nicht mitgeteilt hat, ob der Mann ohne Berufsabschluss sich gegenüber seiner letzten Stellung als Bundestagsabgeordneter finanziell verbessert oder Einbußen hinnehmen muss. Alles andere aber liegt beim "effektiven Gegengewicht der Finanzlobby" offen auf dem Tisch.

Finanzwende verzichtet auf staatliche Förderung, wie sie anderen NGOs selbst von der Union mit den berühmt-berüchtigten 551 Fragen kurzzeitig unterstellt worden war. Der Verein macht sich nicht nur "für mehr Transparenz im Finanzbereich stark" (Finanzwende über Finanzwende). Die Organisation richtet "dementsprechend auch an sich selbst hohe Ansprüche". 

Mammutanteil für Mammutprojekt

Weil Beiträge der Mitglieder und Spenden "mit rund 89,7 Prozent den Mammutanteil der Einnahmen" ausmachen, kann "dieses Mammutprojekt" Kevin Kühnert unabhängig und überparteilich agieren. Niemand ist sein Herr, er ist niemandes Gescherr. Selbst dem Finanzamt hat die Organisation "zugunsten unserer politischen Schlagkraft und thematischen Unabhängigkeit" den steuerrechtlichen Status der Gemeinnützigkeit zurückgegeben. Neben dem nicht mehr gemeinnützigem Verein gibt es seitdem eine gemeinnützige GmbH, an die von Gerichten verhängte Geldauflagen gezahlt werden können. Gesellschaftsrechtlich verworren, aber transparent, da kein Geheimnis.

Das liegt vielmehr in den Finanzen der Organisation verborgen, die der Jahresbericht 2024 penibel auflistet. Danach machten die Mitgliedsbeiträge von rund 13.300 Fördermitglieder mit 74 Prozent den Mammutanteil der Einnahmen aus. Weitere 15 Prozent seien Spendengelder gewesen, der Rest "Zuwendungen" und "sonstige Einnahmen", die nicht näher erklärt werden. 

Am Ende ist alles weg 

Insgesamt konnte die Finanzwende mit rund 2,1 Millionen Euro haushalten. Für "Kampagnen und Projekte" wurden 1,14 Millionen ausgegeben, für das "Fundraising" genannte Einwerben neuer Spenden knapp 250.000 - 80.000 weniger als an Spenden hereinkam. Das lohnt sich. Die Vereinsarbeit ließ sich der e.V.  65.000 Euro kosten, die Öffentlichkeitsarbeit mehr als 360.000 und die Verwaltung vons Janze, wie der Berliner sagt, schlug mit  290.000 Euro zu Buche. Die Einnahme-Ausgaberechnung geht genau auf. Am Ende ist alles weggewesen.

Schlank und erfolgreich, denn 2024 wuchsen die Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel. "Dadurch konnten 89,7 Prozent der Projekte aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert werden". Irritierend wirkt allerdings das Teamfoto der Engagierten, das "Geschäftsführung, unseren Aufsichtsrat, unsere Geschäftsstelle sowie unsere Fellows" zeigt.

Höchst effektiver Mitteleinsatz 

35 Personen aus dem 36 Köpfe zählenden "hauptamtlich arbeitenden Team" (Finanzwende) sind zu sehen. Kevin Kühnert ist noch nicht dabei. Der höchste effiziente Einsatz der Vereinseinnahmen  zeigt sich aber auch ohne den Neueinsteiger: Die Experten bei Finanzwende sind sämtlichst gut ausgebildet. Sie sind Diplom-Finanzwirtin, "Politikwissenschaftler mit einem Master in Korruption", Volkswirtschaftler mit Schwerpunkt Makroökonomie oder sie haben "Betriebswirtschaftslehre und sozial-ökologische Ökonomie in Lüneburg und Wien" studiert. 

Das ins Auge fallende Problem: Würden sie alle zum deutschen Durchschnittslohn bezahlt, wären damit 1,97 Millionen Euro des 2,1 Millionen Euro umfassenden Vereinshaushalts ausgegeben. Vom kläglichen Rest müssten noch Büromiete, Nebenkosten, Fundraising, Kampagnen und Projekte finanziert werden. Ein gewöhnliches Unternehmen mit drei Dutzend Mitarbeitern hätte bei einem Durchschnittsbruttolohn von 4.000 Euro pro Angestelltem mehr als 2,4 Millionen Euro Gehaltskosten im Jahr zu stemmen. Dazu kämen natürlich weitere Kosten wie die Lohnabrechnung, die Büromiete, Heizung, Ausstattung, Technik oder Strom.

Das große Finanzwenderätsel 

Es ist ein Rätsel, fast größer als das, um die Herkunft ihrer Spenden macht. "Wir haben keine einzelnen Spender*innen, die einen wesentlichen Anteil unseres Budgets tragen", heißt es.

Selbst bei 35 Mitarbeitern, die nur Mindestlohn erhalten, kann nur ein Wunder erklären, wie geschickt die Geschäftsführung ihr bisschen Geld einsetzt, obwohl doch die Süddeutsche Zeitung eben erst festgestellt hatte, dass die Deutschen generell nicht mit Geld umgehen können. Würde alle Angestellten nur mit Mindestlöhnen abgefunden, müsste der Finanzwende e.V. dafür seinen halben Jahresetat einsetzen. Für Fundraising, Vereins- und Öffentlichkeitsarbeit bliebe kaum mehr etwas übrig, geschweige denn für die Verpflichtung eines hochkarätigen Finanzexperten wie Kevin Kühnert.