Freitag, 17. Januar 2025

Statt Volksherrschaft: Das steckt hinter "Unsere Demokratie"

schnöde "Volksherrschaft"
"Unsere Demokratie" boomt, seitdem immer mehr Gruppen Anspruch auf den Besitz der früheren Volksherrschaft anmelden.


Kandidat für das Unwort des Jahres? Oder das Wort des Jahres? Platte Parole oder Enteignungsversuch? Dumpfe Propaganda oder Fake News? Mit Beginn des Wahlkampfes wird die Demokratie als Magd missbraucht, um den Weg zur Macht zu ebnen. Als Totschlagwort ist sie zugleich günstig und unbezahlbar, ein Trendbegriff, den jeder nutzen und ausnutzten kann

Demokratie als Interpretation

Demokratie ist reine Interpretation. Stets ist der, dem sie nutzt, der Meinung, so sei sie gut und richtig. Und der, der sie gern nutzen möchten, beklagt vehement, wie eingeschränkt sie sei. Im Streit darum, wessen Blickwinkel der richtige ist, geht häufig das Großem und Ganze verloren. Sowohl die Kräfte, die die Demokratie nutzbringend für sich selbst umbauen möchten, als auch die des Verharrens in alten Politikmustern behaupten dann irritierenderweise, sie seien es, die für die einzig wahre Auslegung des Glaubens stünden. 

Das Publikum kann häufig kaum folgen. Ist es nun gut, wenn die Meinungsfreiheit durch vom Staat beauftragte Prüfer eingehegt wird? Sollten Wählerinnen und Wähler, die der falschen Partei eine Stimme gegeben haben, dadurch bestraft werden, dass ihre Abgeordneten hinter eine Brandmauer gesteckt werden? Müssen sich Politiker, die über Jahre und Jahrzehnte regiert haben, die Ergebnisse ihrer Tätigkeit zurechnen lassen?

Oder sollte nicht wie im Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" zumindest für einige wichtige Protagonisten gelten, was als Abwehrrecht des Kanzlers in den Cum-Ex-Ermittlungen so gut funktioniert hat: Heute ist der erste Tag unseres Lebens. Frisch auf, ans Werk!

Nicht nur "Wir", sondern "unsere"

Es war der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck, dessen kluge Kampagne nicht mehr nur auf das ewige "Wir" als Abgrenzung vom "Euch" setzte. Stattdessen erweiterte der amtierende letzte Vizekanzler der Fußgängerampel-Koalition die Umschreibung auf das besitzergreifende "unsere" und wählte als dazugehöriges Substantiv gleich die komplette "Demokratie".

Die heißt seitdem bei ihm nur "unsere Demokratie", ein erweiterter Rückgriff auf Walter Ulbricht, der "unsere Jugend" umarmte, bis sie nicht mehr atmen konnte. "Unsere Demokratie" bedeutet eine, in der der Besitzer bestimmt, was dazugehört: Versuche, einen Parteitag mit Blockaden zu verhindern? Ja, Versuche, einen Politiker mit Blockaden am Verlassen einer Fähre zu hindern? Nein. Online-Schmähungen? Niemals. Illegale Werbeaktionen mit einem "piratigen" Charakter? Als "gewisse Provokation" auf jeden Fall. Ausländische Einmischung in den deutschen Wahlkampf? Kommt drauf an. Die Rückabwicklung von Wahlen? Je nach Ergebnis.

Zum Eigentum erklärt

"Unsere Demokratie" ist transparent und unmissverständlich. Unsere Demokratie, das sind unsere Werte, unsere Werte sind unsere Demokratie, ist unsere Freiheit und unser Grundgesetz. Was den einen gehört, kann den anderen nicht mehr gehören. Die Demokratie, die bisher alles gehörte, im Grunde ein Volkseigentum, wird nun von allen reklamiert.

Joe Biden tut es  und ein  "Focus-Experte", politische Parteien und nie gehörte Radiosender, die Aktionisten, die jedes Problem in der Welt mit einer Petition lösen wollen, sind selbstverständlich dabei. Die ARD sowieso, die Kirchenfürsten unbedingt, die Beamten und die Sozialisten natürlich ganz vorn, wobei sich oder mancher fragt, ob "unsere Demokratie demokratisch genug" ist oder nicht vielleicht doch eher zu sehr.

Die Demokratie duldet die Besitzergreifung still, nie hat sie sich gegen Einvernahme gewehrt. Egal, wer sie für sich reklamiert und für seine Zwecke einzuspannen versucht, sie fügt sich. Seit Kurt A. Körber, erst als NSDAP-Mitglied und Technischer Direktor der Universelle-Werke J. C. Müller & Co. ein wichtiger Rüstungsmanager im Dritten Reich und später ein großer Freund und Förderer des SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt, "unsere Demokratie" als Überschrift entdeckte, "um gute Lösungen für ein besseres Miteinander zu finden, Herausforderungen vor Ort zu meistern und die Demokratie mit Leben zu füllen", ist der Begriff in die politische Alltagssprache gesickert.

Der Sieg ist unser

Und zugleich ist die Demokratie, seit sie "unsere" geworden ist, höchst bedroht. Oligarchen bedrohen "unsere Demokratie". Der rechte Rand tut es, die Mitte, die Uneinsichtigen und die Reichen. Von Meinungsfreiheit bis Pazifismus, Putin bis Ostdeutschland ist "unsere Demokratie" von Feinden umgeben, gegen die sie geschützt werden muss. "Unsere Demokratie" hat aber auch Freunde und sogar bei X zwölf Follower. Mit mehr fing Jesus auch nicht an. Dazu kommen Kandidaten aller Parteien, mit dem Philosophen des politischen Berlin an der Spitze, der schon in seinem vorvorletzten Buch deutlich gemacht hatte,  "warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht".

Seitdem ist alles noch schlimmer geworden und "unsere Demokratie steht unter Druck" (Habeck), ja, sie wird sogar "angegriffen" (Olaf Scholz), denn "wir sind im Umgang mit den Feinden unserer Demokratie einfach nicht konsequent genug" (Friedrich Merz). Das "unser" vor dem "Demokratie", das früher einmal schnöde "Volksherrschaft" bedeutete, also gar kein besitzanzeigendes Adjektiv vertrug, zeigt heute den Anspruch einer Gruppe auf den Besitztitel an der Mehrheitsherrschaft an. Wer "unsere Demokratie" sagt, beansprucht das Eigentum an der Demokratie, er identifiziert sich als Angehörigen einer Gruppe an, der die Demokratie gehört. 

Die Folge ist naheliegend: Je häufiger "unsere Demokratie" bemüht wird, desto öfter heißt es, "unsere Demokratie" müsse "verteidigt" werden.


Letzte Chance für die EU: Darum muss Europa TikTok kaufen

Auch der noch amtierende Bundeskanzler ist stolz auf seinen TikTok-Kanal, mit dem er nach Auffassung von Experten täglich europäische Datenschutzvorschrtiften bricht.

Vor zwei Jahren öffnete sich schon einmal ein Startfenster. Twitter, wirtschaftlich schwer in Bedrängnis und als übles Hassportal verschrien, suchte Hilfe. Und fand sie leider nur in Elon Musk, der die Gelegenheit ergriff und seinem Firmenimperium ein einflussreiches soziales Netzwerk einverleibte. Alles ging ganz schnell, die Aktion wurde begleitet von Gelächter. Ehe in Europa klar wurde, was für eine Chance in einem Kauf gelegen hätte, war das Kurznachrichtenportal schon weg - gekauft mit Geldern, die nicht nur von Musk, sondern auch von einigen arabischen Blutprinzen und anderen Tech-Milliardären aufgebracht worden waren.

Abgehängt und aussortiert

Die EU blieb, was sie gewesen war. Ein ganzer Kontinent ohne moderne Großunternehmen. Eine prekäre High-Tech-Mangelwirtschaft, deren 440 Millionen Insassen gezwungen sind, ihre öffentlichen Debatten über amerikanische oder chinesischen Plattformen zu führen. 

PPQ-Techexpertin Svenja Prantl zeigt einen Weg, wie sich die EU aus der digitalen Abhängigkeit von den Regimen in den USA und China befreien kann.

Prantl empfiehlt der EU, TikTok zu kaufen.
Eine problematische Sachlage, wie der aktuelle Streit zwischen den Kommissaren in Brüssel, den Ministern in Berlin und den Social-Media-Milliardären zeigt. Gerade noch hatte die Kommission angekündigt, ihre Regeln zum erweiterten Meinungsfreiheitsschutz auch gegen die Partner aus den USA durchsetzen zu wollen.  Ein deutscher Minister brachte Sanktionen ins Spiel, sollten die Wertepartner auf der anderen Seite des Atlantik versuchen, ihre Definition von unveräußerlichen Grundrechten auch diesseits durchzusetzen.

Im lecken Boot zurückrudern

Doch das Boot zur großen Fahrt war noch nicht im Wasser, das musste Brüssel schon zurückrudern. Klar ist seitdem nicht nur der grünen Wahlkampfleitung, dass die EU ein eigenes soziales Netzwerk braucht, eine saubere, von verbeamteten Meinungshütern kontrolliere Alternative. Klar ist das auch einer Öffentlichkeit geworden, die es leid ist, ungefilterte Meinungen ertragen zu müssen. Schon in den Stunden des Großangriffs von Elon Musk und Alice Weidel auf die demokratisch verfassten Gesellschaften in der EU wurden Stimmen laut, die ein eigenes X für die EU forderten.  

Da ein großangelegter Versuch, mit  "EU Voice" und "EU Video"  entsprechende Alternativen aus dem Boden zu stampfen,  in der Vergangenheit schon einmal tragisch gescheitert war und eine Enteignung von X und Facebook vermutlich zum Auftauchen von US-Flugzeugträgern vor Hamburg führen würde, sind frische Ideen gefragt, wie Europa schnell zu einem DSA-konformen und mit den Grundregeln der eingeschränkten Meinungsfreiheit kongruenten eigenen sozialen Netzwerk kommt.

Öffentlich-rechtliches X

Die etwa bei den Grünen geplante Gründung einer neuen öffentlich-rechtlichen Anstalt mit kostspieligen Intendantenkompanien, Social-Media-Räten, riesigen Glaspalästen für die Serverfarmen und Aufsichtsbeamten würde zu lange dauern. In Zeiten knapper Kassen und eines weitverbreiteten Unmuts über den Rundfunkbeitrag erscheint es zudem fast ausgeschlossen, dass über einen - dem Modell bei den Krankenkassen vergleichen - Zusatzbeitrag genug Geld eingespielt wird, um eine neue kostspielige digitale Infrastruktur auf die Beine zustellen.

In den Sternen stünde auch, ob sich geplante Anmeldemodell mit digitalem neuen Personalausweis oder elektronischer Patientenakte ausreichend rasch umsetzen ließen, um die gesellschaftliche Debatte sauber und zweckdienlich zu halten. Es bestünde die Gefahr, davor hat der hessische Innenminister Roman Poeseck gewarnt, dass wieder "ungefilterte Meinungen" sich Gehör verschaffen. 

Zwar stünde nach den Worten des CDU-Politikers das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen mit einer eigens geschaffenen "spezielle temporäre Organisationsstruktur" bereit. Eine eigens eingerichtete Sonderauswertungseinheit bündele Erkenntnisse aus den Bereichen Spionageabwehr und Extremismus im Zusammenhang mit der Bundestagswahl und bereitet diese für zuständige Stellen in Hessen, aber auch für den bundesweiten Austausch auf. Doch reicht das, um ausreichend auszusieben? 

Gegen enthemmte Milliardäre

Ein günstiger Umstand erspart Europa weiteres Nachdenken über Wege zu einer digitalen Resilienz, die auch den Einflüsterungen von normalen Menschen widersteht, die ohne Reichweiterführerschein senden, was ihnen in den Kopf kommt. Denn ausgerechnet jetzt, im Moment der akutesten Bedrohung der engen europäischen Art von freier Meinungsäußerung durch enthemmte US-Milliardäre, ergibt sich eine wohl einmalige letzte Chance, ein fertiges, funktionierendes soziales Netzwerk für kleines Geld zu übernehmen. 

Es ist zudem das jüngste, das fresheste, das mit dem halbwüchsigen Publikum und mit den angesagtesten Influencern. Eine Jahrhundertgelegenheit für die EU, die so oft als lahm, verknöchert und als in einem unvorstellbaren Maße abgehoben kritisiert wird. Es ist das chinesische Kurzvideoportal TikTok, das im Augenblick zu haben ist. 

Den Milliardären wegschnappen

Die US-Tochter der chinesischen Firma Bytedance steht zum Verkauf, weil die US-Regierung das Regime in Peking verdächtigt, über die Algorithmen der Plattform Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft nehmen zu können. Eine Fähigkeit also, die genau dem entspricht, was EU-Kommission, Bundesregierung und politische Akteure als Aufgabe eines sozialen Netzwerkes ansehen. Zwar würde der Kauf wohl "hunderte Milliarden Dollar" (Heise.de) kosten. Doch für 440 Millionen Europäer ist die Finanzierung leicht zu stemmen: 1.000 Euro pro Person, kreditfinanziert als Sondervermögen für digitale Unabhängigkeit, und kein anderer Bieter wird mithalten können.

Für die digitale Öffentlichkeit in Europa wäre es ein Quantensprung. Heute schon ist TikTok bei deutschen Politikern, bei Kirchen, Institutionen, aber auch bei Aktivisten, Medien und Organisationen   weitaus beliebter als die Hassplattform X. Vom Kanzler bis zur Linkspopulistin und von Behörden bis zu anerkannten Adressen für Hass und Hetze sind bereits viele Akteure beim chinesischen Spionageportal vertreten. 

Strikt ignoriertes EU-Recht

Dabei müssen der Kanzler und Kanzlerkandidaten derzeit noch mehr als nur ein Auge zudrücken, was die europäischen Vorschriften für den Datenschutz betrifft. Leider fließen sämtliche Nutzerinformationen, die bei TikTok anfallen, nach China, ohne dass die EU mit dem kommunistischen Großreich wenigstens wie mit den USA ein symbolisches Datenschutzabkommen geschlossen hat. Bekannt ist, dass die Gesetze in China es den dortigen Behörden erlauben,  in jeder gewünschten Weise auf Nutzerdaten zuzugreifen die sich in den Datenbanken der großen chinesischen Internetfirmen finden. Transparenzberichte belegen, dass solche behördlichen Zugriffe in der Praxis erfolgen.

Außer der Form halber Gespräche mit über einen "neuen Mechanismus für den grenzüberschreitenden Datenaustausch" zu führen, schaut die EU-Kommission dem rechtswidrigen Treiben seit Jahren tatenlos zu. Mit den USA wurden währenddessen drei Verträge mit Fantasienamen wie "Privacy Shield" verhandelt und abgeschlossen, ehe sie jeweils von Gerichten als unzureichend verworfen werden mussten. So weit kam es mit China nie, hier setzt die EU ganz auf Anarchie. 

Widerspruch zum eigenen Recht

Das widerspricht den EU-Vorgaben zum Schutz der Daten der Bürgerinnen und Bürger, nach denen eine Übermittlung an Drittländer nur zulässig ist, wenn die Bedingungen der Datenverarbeitung dort den europäischen Vorschriften entspricht. Diese bisher strikt ignorierte Auflage aus Art. 44 Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) könnte durch einen Kauf von TikTok durch die EU endlich umgesetzt werden. Damit würde auch das massenhafte rechtswidrige Handelns verantwortlicher Politiker und Organisationen schlagartig beendet. Und die paar wenigen Bedenken, die die Datenschutz-NGO Noyb jetzt öffentlich formuliert hat, könnten beseitegewischt werden.

Win-Win. Die Regierung in Peking tut sich schwer, TikTok an einen amerikansichen Bieter abzugeben. Ein möglicher Verkauf des US-Geschäfts der Videoplattform an Elon Musk, über den die Finanznachrichtenagentur Bloomberg spekuliert hatte, um auf den Busch zu klopfen, wurde eilig als "reine Fiktion" dementiert. Die EU könnte folglich noch als weißer Ritter einreiten: Ihr traut Peking mehr, denn sie gilt in Fernost als kranker, sterbender Riese, dessen führende Politiker das Wort "Algorithmen" zwar aussprechen können, aber keinerlei Vorstellung haben, worum es sich dabei handelt. 

Keine Gefahr für Vormacht

Gelten die USA als Konkurrent, spielt die EU in Chnia nur als Absatzmarkt noch eine Rolle. Das Schicksal von TikTok in die Hände etwa der EU-Kommission zu legen, würde zudem bedeuten, dass das Netzwerk jegliche Vitalität und Relevanz binnen weniger Jahre verlieren würde. Die Kommission könnte sich dafür auf die Schulter klopfen, der Wertegemeinschaft endlich einen bedeutsamen globalen Marktanteil in der Social-Media-Branche gesichert zu haben - etwas in Deutschland, wo die schrille App von 20 Millionen Menschen benutzt wird. 

Dennoch gäbe es keine Bedrohung der Vormacht von US-Firmen und chinesischen Plattformen bei der digitalen Kommunikation und dem Austausch von Informationen, denn zweifellos würde es der Kommission gelingen, durch strengste Datenschutzauflagen und rigorose Meinungsaufsicht jedes bisschen Leben bei TikTok abzutöten. Damit wäre der Datenschutz für europäische Nutzer verbessert und die Kontrolle über sämtliche Einträge läge direkt bei den von der EU beauftragten Aufsichtsbehörden. 

Die letzte Chance

Die hätten sogar die Möglichkeit TikToks Algorithmus, der für personalisierte Inhalte sorgt, gezielt dahingehend weiterzuentwickeln, dass gezielt ausschließlich Inhalte gefördert werden, die europäische Werte und Kultur stärken. Die Zeit drängt jedoch, da ein geltendes Gesetz ByteDance bis zum 19. Januar zwingt, sich von dem US-Geschäft zu trennen. Zwar drängt Donalkd Trum auf eine Verlänegrung der First., Doch wenn die EU weiterhin zögert, sollte Deutschland einen Alleingang wagen:So eine Gelegenheit kommt niemals wieder.

Donnerstag, 16. Januar 2025

Gottes X-it: Kapitulation der Katholiken

Wenn alles "hinlänglich bekannt" ist, muss das als Begründung für den Rückzug Gottes von X reichen.

Die Katholische Kirche ist der Bummelwagen der Moderne. Ganz hinten kommt er angekeucht, unfähig, sich in der notwendigen Geschwindigkeit an den Geist der Zeit anzupassen. Der Papst verweigert bis heute den Frauen die Ordination. Empfängnisverhütung gilt als Todsünde. Selbst die Wiedervereinigung mit den abgespaltenen Evangelen kommt seit Jahren nicht voran.

So verwundert es auch kaum, dass die katholisch.de, das "Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland" und damit Gottes offizielle deutsche Stimme im Internet, erst jetzt bekanntgeben hat, auf X keine Artikel mehr zu posten. Alle anderen Guten sind schon lange weg, selbst an den X-it der deutschen Universitäten haben nur noch die Älteren eine Erinnerung. 

Im Namen Gottes

Doch die katholische Kirche in Deutschland, die auf X im Namen Gottes, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit sendete, konnte nicht anders. "Mit unserem Aus bei X folgen wir einer Vielzahl katholischer Bistümer", heißt es amtlich. Die Gründe seien "hinlänglich bekannt". Dazu gehörten "eine immer toxischere Kommentarkultur und die allgemeinen Entwicklungen der Plattform unter Elon Musk". "Toxischere" ist die Steigerung von "toxisch". Mehr tödlich also als tödlich.

Wie genau die Betreiber von katholisch.de zu dieser Diagnose gekommen sind, lässt sich auch im Nachhinein nicht ermitteln. Ausweislich des X-Accounts haben die Pastoren so gut wie nie auf irgendeine der - sehr wenigen - Kommentare zu ihren Einträgen geantwortet. Nie haben sie irgendeine Diskussion zu führen versucht, Antworten gegeben oder gar auf Kommentare reagiert. Die "toxische Kommentarkultur", die einen Verbleib bei den Schäfchen unmöglich machte, bestand im Falle der Dependance des Vatikan in einem stabilen Schweigen.

Einseitige Debatte

Ähnlich klagend und bekümmert hatte sich bereits das im politischen Berlin als "Reichsnachrichtendienst" bespöttelte SPD-Portal RND von X zurückgezogen - tragischerweise gerade als die gesamte Parteispitze zurückkehrte, um im Wahlkampf für Olaf Scholz zu trommeln. X habe "in den vergangenen Monaten seinen Charakter als Forum für sachliche, konstruktive Debatten aufgegeben", beschrieb die Chefredaktion. "Diese Debatten sind aus unserer Sicht aber die Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt." Dass das RND niemals auf keinen einzigen Kommentar zu einem Post bei X geantwortet hatte, schmälerte die mutige Leistung nicht.

Ein Phänomen, das ebenso allgemein bekannt und damit bewiesen ist wie der zuletzt von Robert Habeck beklagte Umstand, dass X seine offengelegten Algorithmen endlich offenlegen müsse. Während Kanzlerkandidaten bei X vom Glauben abfallen, verzichtet die katholische Kirche künftig auf Trost und Zuspruch auf dem Milliardärsportal. Wer Gottes Wort hören will, muss auf die Seite der chinesischen Kommunisten wechseln. Oder auf die der Firma des amerikanischen Milliardärs Bill Gates, mit dem all die, die für das Gute stehen, noch fein sind.  

Gott bleibt stumm

Die Entscheidung der Stellvertreter Gottes in Online-Deutschland zog denn schnell weitere Kreise. Auch  das Verteidigungsministerium, im Augenblick noch in der Hand von Boris Pistorius, verkündete kurz darauf bei X, dass es nicht mehr "aktiv posten", sondern seinen  "Account ruhen" lassen werde. Zudem gebe es eine "Anordnung für alle Befehlshaber", sich vom Musk-Portal fernzuhalten. "Wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil ein sachlicher Austausch hier zunehmend erschwert wird", hieß es zur Begründung - ein Klassiker, denn auch die Bundeswehr hatte nie mit niemandem irgendeine Art von "Austausch" geführt, weil das doch eher peinlich geworden wäre.

Doch kann das noch Zufall sein? Wenn die, die früher die Waffen segneten, und die, die ihre Waffen gesegnet bekamen, fast gleichzeitig in den Sonnenuntergang einer erweiterten Unsichtbarkeit reiten, um Debatten aus dem Weg zu gehen, die sie nie geführt haben? Oder ist es der alte Pakt zwischen Gott und seinen wackeren Streitern? Die Allianz aus Schuld am Lebennehmen und Vergebung durch Beichte? Oder ein deutscher Sonderweg wie Atomausstieg und Heizungsgesetz?

Der Papst jedenfalls ist noch da. Und auch bei der Nato wird der frühere ARD-Reporter und heutige Verteidigungssprecher Michael Stempfle noch für einen Rückzug werben müssen.

Karlspreis für von der Leyen: Eindämmerin der Pandemie

Das Karlspreis-Komitee sprach Ursula von der Leyen unter anderem auch das Verdienst zu, die Pandemie besiegt zu haben. Abb: Kümram, Kreide auf Asphalt

Sie war dann mal weg, ziemlich lange sogar und das mitten in der Startphase zum Aufbau ihrer neuen EU-Kommission. Doch für Ursula von der Leyen sprach gleich zweierlei. Niemand hat vermisste sie, während sie ihre Lungenentzündung auskurierte. Und das mediale Brüssel hat die EU-Kommissionspräsidentin so fest im Griff, dass nicht einmal jemand fragte, wo sie eigentlich sei. 

Eine Antwort hätte Teile der Bevölkerung beunruhigen können, denn von der Leyen lag in einer Klinik, zwar mit "ständigem Kontakt zu ihren Mitarbeitern", wie es nach ihrer Genesung hieß. Und doch wie ein Symbol für ihr Auszehrung und Ermüdung erkranktes Europa, das zwischen Streit und gegenseitigem Beschweigen, Belehrungen Schadenfreude und Bockigkeit gar nicht mehr weiß, was es eigentlich früher einmal hatte sein wollen.

Die Frau nach Karl dem Großen

Dass niemand sie vermisste, mag Ursula von der Leyen hart treffen. Dass sie nun aber zurückkehrt und gleich mit der Mitteilung empfangen wird, dass das Direktorium des Karlspreises entschieden, auch ihr den großen Friedenspreis zu überreichen, der nach Karl dem Großen benannt wurde, jenem sagenumwobenen Kaiser und Feldherren der vor mehr als 1.000 Jahren allein 32 Jahre Krieg gegen die Sachsen führte, um sie zu unterwerfen und zum richtigen Gott zu bekehren. Karl marschierte auch in  Italien ein und er eroberte das Langobardenreich, zu dessen König er sich ausrufen ließ.

Churchill, Adenauer und Hallstein, aber auch heute noch bekannte Preisträger wie "Das Volk von Luxemburg" (1986) und "Der Euro" (2002) wurden mit dem Karlspreis geehrt, jeweils mit einem blumigen Umschreibung aus wenigen Worten, deren Lektüre erahnen lässt, wie EU-Europa heute aussehen würde, wären nur zwei Prozent aller bei den Verleihungsfestlichkeiten beschworenen Erfolge zur Hälfte eingetreten. 

Dass Ursula von der Leyen in die handverlesene Gruppe der 64 Preisträger aufgenommen wird, versteht sich von selbst. Wie für Päpste, seit Johannes Paul II. 2004 als "Europa des Friedens" geehrt wurde, ist die Verleihung für EU-Kommissionspräsidentende seit Jean-Claude Junckers Auszeichnung als "Motor für Europa" 2006 Pflicht. Auch der südamerikanische Papst Franziskus wurde deshalb schon als "großer Europäer" geehrt. Und der vielfach gescheiterte SPD-Gottkanzler Martin Schulz, dem nachgesagt wurde, er habe "die Bürger Europas gestärkt".

Das Gesicht eines bürokratischen Molochs

Diesmal umso mehr, als dass die Auswahlkommission sich der Umstände selbstverständlich sehr bewusst ist. Die EU gilt bürokratischer Moloch, der jede Initiative unter Bergen von bürokratischen Vorschriften erstickt. Die Kommissionspräsidentin, seinerzeit nur auf der Flucht aus Berlin nach Brüssel gescheitert, wird als Gesicht einer Union gesehen, die außer immer neuen Fünfjahrplänen nichts zustande bekommt. Zuletzt wurde die Frau aus Niedersachen kritisiert, weil sie ihre neue Europa-Regierung nur zusammenbekam, indem sie Neofaschisten und Rechtsradikale entscheiden ließ

Motto: Besser rechts regieren als gar nicht. Das überzeugte die Jury. "Dieser Preis ist auch ein politisches Signal", heißt es in der "Welt", die nach ihren jüngsten europakritischen Ausfällen auf der Suche nach einer neuen Mitte ist. 

Wie wahr! Von der Leyen, die in Peking vom Frühstücksdirektor empfangen wurde und selbst bei Recep Erdogan am Katzentisch Platz nehmen musste, als "starke Stimme Europas in der Welt" zu bezeichnen, wird der Kommissionspräsidentin vollends gerecht. Zeichnete sich ihr Vorgänger noch durch seine aufsehenerregende Vorliebe für verschiedenfarbige Schuhe aus, wird von der 66-Jährigen mit dem Margot-Honecker-Habitus vermutlich noch weniger in Erinnerung bleiben.

Leyen besiegte auch Corona

Die Begründung des Karlspreis-Komitees weist schon jetzt darauf hin. Darin wird als besondere Leistung von der Leyens die "Eindämmung der Corona-Pandemie" genannt, zudem das "geschlossene und entschiedene Auftreten gegen Russland" und ihre Idee eines "Green Deal", mit dem die EU bis 2050 hätte klimaneutral werden sollen, wenn nicht jetzt schon, ein Vierteljahrhundert vor dem Ziel, alles wegen der leidigen Realität um mehrere Dimensionen geschrumpft hätte werden müssen. 

Vom Pfizer-Deal und den - erneut - verschwundenen Handynachrichten spricht das Komitee nicht. Es soll kein Schatten fallen auf die Preisträgerin, deren Ehrung ein wenig an die Auszeichnung Angela Merkel mit dem größten Großkreuz erinnert, das Deutschland zu vergeben hat.

Immerhin ist die Ehrung für Ursula von der Leyen eine schöne Sache. Schien es vor sechs Jahren noch so, als werde die Karriere der damaligen Kronprinzessin Angela Merkels von ein paar gelöschten SMS auf dem Diensthandy beendet, steht die alte und neue Präsidentin der Europäischen Kommission mit der Karlspreis-Ehrung vor der Krönung ihres Lebenswerkes.

"Die Selbstherrliche" (Pioneer) wird erstmals von einem Karlspreis-Direktorium direkt in Zusammenhang gebracht mit allem, was die EU unter ihrer Leitung erreicht hat. "Das europäische Lebensmodell von Freiheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand ist gefährdet, die Weltordnung verändert sich, und Europa muss handeln", heißt es im Text der 19 Direktoriumsmitglieder, der ganz darauf setzt, dass Ursula von der Leyen die Persönlichkeit sein wird, "der diese strategische Aufgabe für die Europäische Union zukommt und die sie bewältigt."

Mittwoch, 15. Januar 2025

Stahlpakt: Sorge um den grünen Schein

Auch die frühere Kanzlerkandidatin der Grünen macht sich Sorgen um den grünen Schein. Der junge Maler Kümran hat die Ministerin vor einer Stahlhütte mit Wasserstoffpipeline gemalt.


Friedrich Merz erzählte wieder Tünkram. "Die Zeit" zitierte, höchstwahrscheinlich aus Platzgründen,  nur arg verkürzt. Die Grünen sahen sofort ihre Chance, die fürchterliche neue "Veggie-Day"-Diskussion um die Enteignung der deutschen Sparer abzuwürgen, noch ehe aus dem Debakel ein Desaster wird. Die Zweifel des CDU-Kanzlerkandidaten am Plan, Stahl künftig nicht nur mit den rekordhohen deutschen Stromkosten zu weltmarktfähigen Preisen zu kochen, sondern das mit noch dreimal teurerem grünen Wasserstoff tun wollen, sorgten für eine Welle der Empörung. Verrat. Untergang! Dolchstoß!

Tiefe Glaubenskrise

Auf einmal war Deutschland in einer tiefen Glaubenskrise. Wer nicht an grünen Stahl glaube, zerstöre die Reste des Standortes, rief es. Jeder müsse beteuern, dass er an grünen Stahl glaube, wurde gefordert. Die Kirche des grünen Stahls, eine wachsende, aber immer noch marginale Bewegung, stahl für Momente allem anderen die Show. Die rechte Gefahr? Vergessen. Der Mammutkampf des Kanzlers um neues Geld für die Ukraine? Kein Thema mehr. Der Notfall, der dazu noch vor zweieinhalb Monaten hatte ausgerufen werden müssen, um die Schuldenbremse aufheben zu können? Überwunden.

Was jetzt stand, war die Stahlfrage. Mehrere Stunden lang wurde grüner Stahl das Lebenselixier eines Wahlkampfes, der bislang vollkommen ohne jeden Inhalt ausgekommen war. Abgesehen von verschiedenen Fehltritten, die sich die Wahlkämpfer gegenseitig als Verletzung des großen Bundesfairnessabkommen ankreideten, hatten sie es alle geschafft, bei Forderungen und Versprechen  im Ungefähren zu bleiben. 

Wähler entscheiden nur über Details

Alle würden nach ihrem Sieg die Steuern senken, die Wirtschaft fit machen und die Menschen ganz kräftig entlasten, so viel ist klar. Nur inwieweit der Kampf gegen rechts, gegen das Klima und den Mann im Kreml weiter erfolgreich vorangetrieben wird, das müssen die Wählerinnen und Wähler noch entscheiden.

Und das Stahl-Schicksal. Hierzulande werden der Stahlindustrie vier Millionen Arbeitsplätze und zwei Drittel der Exporte zugerechnet. Die produzierte Menge an Stahl liegt allerdings nur noch bei drei Millionen Tonnen im Jahr. Deutschland liegt damit weit abgeschlagen hinter China, Indien, Japan, den USA, Russland und Südkorea. Was hierzulande hergestellt wird, ließe sich problemlos auch noch importieren - bei Smartphones, Chips, Medikamenten, Schuhen, Heimelektronik und Bekleidung klappt das meist, ohne dass Endverbraucher es überhaupt bemerken.

Voodootrick mit Champagner

Doch wo nun schon andere Teile der Industrie dem deutschen Klimastrompreis ihren Tribut zollen müssen, Bäcker nicht mehr backen und Industrieunternehmen Werke schließen, soll die Stahlindustrie beweisen, dass ein Energiewunder möglich ist. Eigens dafür wurde die bereits von der Bundesregierung gegründete  "NOW GmbH Nationale Organisation Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie zurück auf ihr altes Gleis gesetzt.

Anfangs hatte die bundeseigene Gesellschaft alles mit Wasserstoff machen sollen, dann aber wurde sie wegen des modischen Trends zur Elektromobilität zur "Nationale Leitstelle Ladeinfrastruktur" ernannt. Erst später ging es zurück zu den Wurzeln. Nun sollte wieder ein Voodootrick mit dem Champagner der Energiewende her, um Deutschlands Misere mit den hohen Energiekosten zu beenden.

Der große Überstromplan

NOW fördert nach Kräften. Anderthalb Milliarden wurden schon verpulvert, ohne dass die ersehnte Wasserstoffwirtschaft realer wurde. Und jetzt riss Merz auch noch den Rest der Träume vom Überstrom ein, aus dem kostenfrei erst H2 und dann grüner Stahl wird. Häresie und Leugnung des Energieträgers der Zukunft. 

Wasserstoff, am liebsten Überstrom gemachter grüner, ist unter anderem fest eingeplant, eines Tages die 30 bis 40 neuen Gaskraftwerke anzutreiben, die ja doch irgendwie mögliche Dunkelflauten energetisch überbrücken sollen. Der Plan steht seit 2021. Gebaut werden soll bis 2030. Geschafft sind bisher null, im Bau ist eins. Aber es sind ja noch fünf Jahre. Und woher der Wasserstoff kommen soll, weiß ohnehin noch niemand.

Zumal er ja auch in der Stahlindustrie dringend gebracht werden wird, wenn alles klappt. Dazu muss aber jetzt ein Stahlpakt her, ein Bundesschwur auf Wasserstoff, diesen edlen Perlsekt der Energiewende, den niemand hat und keiner will. Der aber, weil da alle wissen und sein praktischer Einsatz als Retter der großen Transformation deshalb weit hinter dem Ereignishorizont liegt, als bedeutendster Baustein der deutschen Industrie gilt. 

Verschwinden der Schwerindustrie

Was ein Wunder. Hatte Patrick Graichen, der Visionenflüsterer des Klimawirtschaftsministers, in seiner aktiven Zeit als Umbaulobbyist im Wirtschaftsministerium noch versichert, dass das Verschwinden der lästigen Schwerindustrie aus der CO2-Sparnation integraler teil der Transformation sein werde, gilt ihr Verbleib heute Gewähr dafür, dass bei allen notwendigen Veränderungen ein Hauch vom alten Deutschland weiterstinkt. 

Der wegen seiner Sozialversicherungspläne bedrängte Chef von Team Habeck hat die Lösung der Stahlfrage deshalb umgehend auf seinen Tisch gezogen. Wer daran zweifelt, dass grüner Wasserstoff, dreimal teurer als alles, was Stahlwerke im Ausland zum Kochen verwenden, die Rettung der deutschen Stahlindustrie sein werde, sei deren Totengräber. "Wer sagt, er glaube nicht an grünen Stahl, kann den Stahlunternehmen und ihren Beschäftigten in Deutschland auch gleich sagen: Ich glaube nicht an Euch, auf Nimmerwiedersehen!", schalt der grüne Kanzlerkandidat den schwarzen. 

Schlag ins Gesicht

Habeck wiederholte dabei die Argumente seines früheren Staatssekretärs, nannte sie aber nun einen "Schlag in das Gesicht all der Beschäftigten". Die leben von Glauben und Zuspruch aus Berlin, die vertrauen auf die Politiker, die sagen, dass alles gut werden wird. Auch die Außenministerin machte sich deshalb weniger Sorgen und die Lage an sich, sondern mehr um die Konkurrenz, die sie "schlecht" nennt. "Die Union ignoriert den globalen Wettlauf um grüne Technologien", sagte die Mutter der speichernden Netze in ihrer überhaupt allerersten Äußerung zur Stahlfrage

"Wer die Arbeitsplätze in der Stahlindustrie sichern möchte, muss jetzt auf grünen Stahl setzen und damit die Wettbewerbsfähigkeit und Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts stärken", schimpfte Baerbock auf Merz. Dem aber scheinen Zahlen, Berechnungen und Gewinne wichtiger zu sein scheinen als Glaube, Liebe und Hoffnung auf ein gutes Ende. Die Quittung wird ihm der Wähler geben. Oder ihr.

Täuschlandtempo: Bunker im Wahlkampf

Die erste Bunkersuche der Bundesinnenministerin endete vor zwei Jahren. Im Wahlkampf sucht die Sozialdemokratin jetzt mal wieder nach Schutzräumen.

Es ist Wahlkampf und im Wahlkampf ziehen nur zwei Methoden; Angst und Versprechen. Wer mich wählt, bekommt, ist ein ewiger Schlager. Wer mich nicht wählt, dem droht. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich Plakate, Parolen und Parteitagsreden. Als großer Wahlkampfkämpfer gilt, wer es schafft, mit beidem zugleich Überzeugungsarbeit zu leisten.

Bisher gehörte die in Hessen zuletzt glücklose Innenministerin Nancy Faeser nicht zu denen, denen diese Arbeit leicht von der Hand ging. Die 54-Jährige gilt als Talent, vor allem aber im Aussitzen von Krisen und ungerührtem Weitermachen, auch wenn sie nur nicht tiefer fallen kann, weil sie längst liegt. 

Würdevoll auf einem toten Pferd

Im Bundestagswahlkampf aber zeigt die Sozialdemokratin jetzt, wie sich auch ein totes Pferd würdevoll reiten lässt als sitze man Modell für ein Reiterstandbild: Pünktlich zum dreijährigen Jubiläum des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine hat die Frau aus Bad Soden nicht nur bekanntgegeben, dass sie "vor einer immer brutaleren hybriden Kriegsführung durch den Kreml"  und einer "neuen Dimension der Bedrohung durch Russland" warne. Sondern auch erste Abwehrmaßnahmen für die Zivilbevölkerung angekündigt. 

Faeser zieht mit Bunkern aus dem kalten Krieg in die heiße Phase des Wahlkampfes. Derzeit gebe es zu wenig Schutz für zu wenige Menschen - nur 480.000 Plätze stehen für gut 84 Millionen Menschen zur Verfügung. Nicht einmal jeder hundertste Einwohner könnte im Angriffsfall irgendwohin flüchten. Der seit drei Jahren zuständige Ministerin reicht das längst nicht aus.  Die Bundesregierung prüfe daher den Ausbau von Schutzräumen, sagte sie.

Standardversprechen Schutzräume

Nicht zum ersten Mal allerdings. Bei Nancy Faeser gehört die Ankündigung, für mehr Schutzräume sorgen zu wollen, seit den ersten Kriegswochen zu den Standardversprechen. Schon im April 2022 wollte sie "mehr Schutzräume, mehr Warnsirenen und mehr Vorräte" schaffen, um Deutschland "angesichts des Kriegs in der Ukraine besser für Katastrophen zu wappnen". Zwar war sie ein paar Tage zuvor noch gegen solche Pläne gewesen.

Experten hatten damals gerade "eine Bestandsaufnahme zu den in Deutschland noch vorhandenen Bunkern und anderen Schutzräumen abgeschlossen" und die Ministerin war sich sicher, dass "die vorhandenen Ressourcen besser genutzt werden für eine effektive Warnung, für Notstromaggregate, Notbrunnen und Anlagen zur Aufbereitung von Trinkwasser sowie für mobile Unterkünfte zur vorübergehenden Unterbringung und Versorgung einer größeren Anzahl von Menschen.

Vergessene Bunkerprüfung

Aber die Zeit verging. Das Wissen über die von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) aufgestöberten "noch vorhandenen Bunkern und anderen Schutzräumen" verblasste und die Unterlagen über die in "der letzten Phase der dreistufigen Prüfung" vorgenommene "vertiefte, aufwendige technische Prüfung repräsentativ ausgewählter Anlagen" verschwanden. Über die 2022 angekündigte Entscheidung, "welche davon womöglich reaktiviert werden sollen", wurde jedenfalls nie etwas bekannt.

Und so rücken die "vielen vergessenen Bunkerbauten" (Die Zeit, 2022) im Wahlkampf wieder in den Fokus: Dass Nancy Faeser zum ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs der Meinung war, auf Schutzbauten könne gut verzichten, wer ausreichend Warnsirenen habe, ist vergessen wie die meisten der öffentlich zugänglichen Schutzräume, deren Pflege und Erhalt 2007 nach einem gemeinsamen Entschluss von Bund und Ländern eingestellt worden war. Warum also nicht? 

Im Täuschlandtempo

Schon im Herbst, die nächste Bundestagswahl rückte plötzlich recht schnell näher, hatte Nacy Faeser zum ersten Mal von ihrem "Bunker-Plan für Deutschland" (Spiegel) berichtet. Nicht einmal zwei Monate später wird es nun konkret, im Täuschlandtempo. "Derzeit", so Faeser jetzt, werde geprüft, wie Keller in öffentlichen Gebäuden, Tiefgaragen oder U-Bahnhöfe als Schutzräume genutzt werden könnten. Und: "Bei öffentlichen Neubauten sollten Schutzräume künftig mitgedacht werden."

Bis zur Wahl wird das nichts mehr, aber bis zur Wahl wird sie tragen, die smarte Mischung aus frischgeschürter Angst und versprochenem Trost. Ihr Ziel sei "ein System, das Menschen sehr schnell auf ihrem Handy zeigt, wo sie in der Nähe Schutz finden können", so die Innenministerin.

Dienstag, 14. Januar 2025

Die Unersättlichen: Für ein paar Euro mehr

Kluges Finanzmanagement ist in Zukunft gefragter denn je: Wer auf Erspartes gezielt verzichtet und für seine letzten Jahre auf staatliche Hilfe vertraut, spart auf ein Leben hochgerechnet zehntausende Euro.

Das also ist nun also die Bewegung, jener von seinen Feinden als "grüner Mob" verunglimpfte Anhang des scheidenden Klimawirtschaftsminister. Noch im Moment, als die Führung umkippte und ängstlich schaute, was der Chef da angerichtet hatte, kämpften sie wacker weiter für mehr Staat, mehr Geld für diesen Staat und weniger Freiheit für die Einzelnen, selbst über sich zu entscheiden. 
 
Gut gemeint sei das alles mit den Sozialbeiträgen auf Erspartes. Eine gute Sache, weil es "Freibeträge" geben werde - wer nur ein paar Euro besitze, bleibe ungeschoren, versprochen. Der neue Grünen-Chef, unverdächtig jeder am eigenen Leib gewonnenen Kenntnis über das Loch, das Sozialbeiträge in jeden noch so schönen Gehaltszettel brennen, ruderte zurück. War nicht so gemeint. Sei solidarisch. Treffe nur wenige. Dafür aber genau die richtigen.

Erinnerungen an den Veggie-Day

Die Hektik in der grünen Wahlkampfzentrale, sie war mit Händen zu greifen. Am Horizont leuchtete ein "Veggie-Day"-Warnsignal, mancher im politischen Berlin hörte Armin Laschet lachen. Der Chef selbst tauchte ab, nachdem er zum Auftakt der heißen Phase eines Wahlkampfs vor einer gefügigen ARD-Kamera einen Sturmwind ins laue Wahlkampflüftchen geblasen hatte. Nicht mehr 10 Prozent auf alles, geschenkt vom Staat für jeden, der trotz allem noch in Deutschland investiert, wie es König Demokratus I neulich noch versprochen hatte, als ein spezieller Strohfeuer-Fonds die Laune heben sollte. Sondern 39 Prozent Versicherungsbeitrag für alle, die noch in dem Land investieren, das die großen Firmen in Scharen fliehen.

Wer bei 30 Prozent Steuern auf den Ertrag aus zuvor schon mit bis zur Hälfte versteuerten und verbeitragtem Ersparten wirklich noch Gewinn macht, hat allemal noch genug, um denen zu geben, bei denen es nicht so gut aussieht. Robert Habecks Logik ist einfach, sie ist solidarisch und kompromisslos. Wo die SPD damit wirbt, nur ganz wenige ganz Reiche ganz wenig mehr schröpfen zu wollen, und die Union damit lockt, dass es auch so gehen werde, spricht Habeck Klartext. 

Für private Zwecke verschwendet

Überall dort, wo der Staat noch nicht alles nimmt, ist mehr als genug übrig, gründlicher zuzugreifen. Ehe nicht allen alles genommen ist, darf es kein Zagen und kein Zögern geben. Der Staat, nicht nur Robert Habeck ist da sehr sicher, weiß weitaus besser als der Einzelne, wo Geld gut angelegt ist und wo es für private Zwecke verschwendet werden wird. 
 
Habeck denkt groß, er denkt weit nach vorn. Die 18 Milliarden, die von den Bürgerinnen und Bürgern inzwischen über die als "CO₂-Abgabe" bezeichnete Klimasteuer eingetrieben werden, sind Peanuts gegen die Beträge, die eine umfassende Beitragspflicht für Geldvermögen einspielen wird. 90 Milliarden wenigstens locken schon im ersten Jahr, bei aktuellen Beitragssätzen. 

Marx' ewige Lehre

Schon Karl Marx hat alles über eine solche Verlockung gesagt. Mit entsprechendem Profit wird auch Politik kühn. Zehn Prozent sicher, und sie ist dafür. 20 Prozent, sie wird lebhaft im Einsatz. 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft sie dann alle menschlichen Gesetze unter ihren Fuß und bei 300 Prozent, und es existiert kein Versprechen, das sie nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des eigenen Untergangs.
 
Nach der Einführung der Beitragspflicht auf Kapitalerträge wäre es zudem ein Leichtes, eine ungerechte Unwucht festzustellen, da das sogenannte "sauer Ersparte" der immer beliebter werdenden "hart arbeitenden Mitte" nun stärker zur Finanzierung der Gemeinschaft herangezogen würde als Erwerbseinkommen. Mit dem Verweis darauf ließen sich die Abgabequoten auch dort optimieren.

Einkommenssteuer auf Nettoeinkommen

Aber warum eigentlich nur Einkommenssteuer auf das Bruttogehalt? Gerecht wäre es zweifellos, auch die Nettoeinkommen solidarisch zu versteuern - über die Umsatzsteuer hinaus, die dem Staat derzeit als einzige effektive Möglichkeit zur Verfügung steht, die tatsächlich an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgezahlte Beträge ein weiteres Mal für sich in Anspruch zu nehmen. 
 
Beim Strompreis funktioniert es doch auch und wie wunderbar. Dort addieren die Versorger auf den reinen Einkaufspreis der Energie im Moment neun staatlich vorgeschriebene Aufschläge. Sie tragen prächtige Fantasiebezeichnungen wie "Stromsteuer", "KWKG-Umlage" und "Umlage für das Vorhalten abschaltbarer Lasten". 
 
Sie machen momentan etwa 55 Prozent des zweithöchsten Strompreises der Welt aus, sind aber nur Grundlage der Basis des Erfolges, denn der richtige Trick kommt erst noch. Wurden zum Preis des Stroms alle Extraabgaben addiert, steht Vater Staat nämlich bereit, um auf das Gesamtpaket die ihm zustehende Umsatzsteuer zu erheben. Aus Strom, der im Einkauf für zwölf Cent gekostet hat und mit allerlei Vorsorge-, Schreibtkeinerechnung- und Ergänzungsabgaben in Höhe von 15 Cent belegt ist, werden so im Handumdrehen ein Produkt, das den Käufer 32 Cent kostet. Wenn er Glück hat.

Kartoffelbleiche Vorstadtmuttis: MoM statt biodeutsch

"Biodeutsch" schaffte nie den Durchbruch in die Alltagssprache. Aber mit dem Urteil der Sprachjury darf es nun auch in Medien nicht mehr verwendet werden.

Ist biodeutsch nur ein anderes Wort für Arier? Eine Frage, die vor sieben Jahren die ganze Republik quälte. Das Wort war damals selbst dem "Spiegel"-Outlet "Bento"  neu. Es galt umgehend aufzuklären, "was hinter dem neuen Wort steckt", das bereits 1996 vom unverdächtigen Ulmer Kabarettist Muhsin Omurca erfunden, aber erst durch den damaligen Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, popularisiert worden war.  

"Biodeutsch" war ursprünglich abwertend gemeint. Wer biodeutsch war, war zu deutsch. Ihm mangelte es an anderweitigen Wurzeln, an Vielfalt der Herkunft und Bereitschaft, auch anders sein zu wollen. Dass der Begriff jetzt, wo er keinerlei Verwendungsauffälligkeiten mehr zeigt, zum "Unwort des Jahres" gekrönt wurde, ist ein später Erfolg einer Umdeutung: Anfangs gedacht, um die zu markieren, für die es keine Bezeichnung außer "Deutsche" gab, verwandelt die damit Bezeichneten ihre Beschimpfung auf dieselbe Weise in eine Auszeichnung, wie es Rapper mit dem N-Wort und Ostdeutsche mit dem O-Wort gehandhabt haben.

Sprachpolizei in Aktion

Ein Affront, den die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft nicht länger hinnehmen konnte. Die Unwort-Jury, ein lockerer Kreis von Sprachdeutern, denen einmal im Jahr die selbstgewählte Aufgabe zufällt, sprachpolizeilich in die gesellschaftliche Debatte einzugreifen, entschied sich diesmal für "biodeutsch". Ein würdiger Nachfolger für "Remigration", "Klimaterroristen", "Pushback" und "Corona-Diktatur", die Sieger der vergangenen Auslosungen. Auch "biodeutsch" macht am Sprachpranger eine ähnlich gute Figur wie zuvor "Anti-Abschiebe-Industrie", "alternative Fakten" und "Volksverräter", allesamt Worte, die nie den Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hatten. Durch die Preisvergabe aber zumindest im letzten Verglühen vor dem gnädigen Vergessen noch einmal kurz aufleuchteten.

Die "Grundannahme" der "ehrenamtlichen und institutionell unabhängigen" Jury, dass "Unworte im Gebrauch" entstehen, ist lange widerlegt. Dass "Sprachkritik" (Jury) ihren Gebrauch verhindern kann, behaupten nicht einmal mehr die Verfechter der These, dass "die Sensibilisierung für diskriminierende, stigmatisierende, euphemisierende, irreführende oder menschenunwürdige Sprachgebräuche" sogenannte "Sprecher:innen" auf die Verantwortlichkeit für ihr "sprachliches Handeln" hinweist. 

"Biodeutsche Vorstadtmuttis"

Es sind immer weniger die rechten Scharfmacher gewesen, die "biodeutsch" als Begriff etablieren wollten, sondern immer mehr deren erklärte Gegner, die von "biodeutschen Vorstadtmuttis" (Taz) fabelten und Einladungen an "Biodeutsche" zum gemeinsamen Kampf gegen Rassismus als Gnadengeste betrachteten.

Jetzt, wo "biodeutsch" als "diskriminierend" und "eine Form von Alltagsrassismus" (SZ) enttarnt worden ist, müssen die großen Gazetten die die Wortbildung des Mitgründers des ersten "deutschsprachigen türkischen Kabarett in Deutschland" (SWR) gern und oft verwendet haben, allerlei umschreiben. Dass die "Zeit" von "biodeutschen Mitbewerbern" spricht oder gar von "Personen, die als biodeutsch gelesen werden", wird nicht mehr möglich sein. Auch Firedrich Merz wird den "neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt", nach der strebt, nicht befördern können, wenn er dabei auf die "Biodeutschen" verweist. Und Betroffene von rassistischer Diskriminierung werden sich eine neue Vokabel ausdenken müssen, um ihre Peiniger korrekt zu bezeichnen.

Vergessene Unwortvorgänger

Da fehlt nun eine Waffe im Arsenal des Guten, denn erfahrungsgemäß wird das Böse sich vom Juryentscheid kaum davon abhalten lassen, ein Wort zu verwenden, das von der freiwilligen Fünfer-Jury mit einer Pressemitteilung als menschenunwürdig verworfen wurde. "Remigration" etwa, Unwortvorgänger im vergangenen Jahr, war damals "rechter Kampfbegriff" und "beschönigende Tarnvokabel" verurteilt worden. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" verwendete es in den 20 Jahren vor dem Urteil 55 Mal. Seitdem aber 222 Mal.

"Biodeutsch" als eine Vokabel, die eine Art Mensch beschreibt, die "kartoffelbleich" (Bento) ist und schon Eltern hatte "deren Eltern in Deutschland aufgewachsen sind", droht ein ähnliche Karriere. Ohne Wurzeln, ohne "Migrationshintergrund" und ohne "Deutschbindestrichirgendwas" und Doppelpass haben die Biodeutschen ihre Bezeichnung verloren, nicht aber das, was sie bezeichnet hat.  

Das neue Wort heißt MoM

"Biodeutsch" soll nach einer früheren Beurteilung des "Spiegel" das Gegenteil von "Mensch mit Migrationshintergrund" sein, eine gar nicht so kleine gesellschaftliche Gruppe, die sich hindefinieren und ausdifferenzieren, aber schwerlich gar nicht bezeichnen lässt. Der Logik des antirassistischen Sprachgebrauches, der aus Nicht-Weißen den zu "PoC" und "BIPoc" verklausulierten "People of Colour" gemacht hat, läge die künftige Bezeichnung "MoM" nahe - Mensch ohne Migrationshintergrund. 

Verwendbar wäre das Wort zumindest bis zum Zeitpunkt, an dem die früheren Biodeutschen die wertfreie Abkürzung nutzen, "um Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien einzuteilen, zu bewerten und zu diskriminieren", wie die Sprachjury ihren Ukas über "biodeutsch" begründet hat. Auch MoM würde mit seinem Gebrauch schließlich eine Unterteilung in angeblich "echte" Deutsche und Deutsche zweiter Klasse vornehmen, wäre also "eine Form von Alltagsrassismus".

Montag, 13. Januar 2025

Alles auf Enteignung: Grüner Griff in die Tasche

Seinen politischen Vorlieben muss sich jeder Wähler auch leisten können.

Sie kämpfen. Sie sind keinen einzigen Tag um eine neue Idee verlegen. Heute dies, morgen das, immer aber eine helfende Hand für die Feinde der Demokratie. Die Parteien demokratischen Blocks, so scheint es, tun wirklich alles, aber auch alles, um ihren Gegnern bei der anstehenden Bundestagswahl zu einem möglichst guten Ergebnis zu verhelfen.

Sie zetern wie Kinder über Wahlkampfauftritte der Konkurrenz. Sie putzen die Brandmauer und beschimpfen sich gegenseitig wie Kesselflicker. Sie hausieren mit haltlosen Versprechen. Und lassen keinen Zweifel daran, dass ihr komplettes Wahlkampfkonzept auf die berühmte Demenz der Demokraten setzt: Immer wieder werden die mit Versprechen gelockt und anschließend enttäuscht. Und immer wieder lassen sie sich nach kürzester Zeit mit denselben Versprechen locken, ihr Kreuz wieder so zu machen, dass die Arbeitsplätze derselben Gaukler für weitere vier Jahre gesichert sind. 

Die Erlöser von Morgen

Die Quelle des Selbstbewusstseins, mit dem die Versager von eben sich als Erlöser von Morgen feiern lassen, ist eines der großen, ungelösten Menschheitsrätsel. Verborgener noch als einst die Quelle des Nil, sprudelt von dort ein Strom an Ideen, eine lukrativer als die andere. Auf eine halbe Billion Euro summieren sich die Entlastungszusagen der Wahlkämpfer bislang, abgesehen von "Milliardären", die im laufenden Wahlkampf die Rolle einnehmen, die in der alten Zeit "Spekulanten" und "Manager" ausfüllen durften - und noch weit früher eine andere Personengruppe -  darf sich jedermann und jede Frau auf ein Mehr an Weniger freuen. 

Nur wie das finanzieren? Wie immer, wenn der Staat effizienter werden will, wird es ja dauerhaft viel teuer werden. Und erfahrungsgemäß zahlt immer der für seine sogenannte "Entlastung", dem sie versprochen wird. Während sich die Kandidaten von FDP, SPD, AfD, BSW, Linker und Union noch zurückhalten mit der Enthüllung ihrer Pläne zur Gegenfinanzierung der Milliardengeschenke an Bürger, Bundeswehr und Bündnisverpflichtungen, ist der grüße Kanzlerkandidat Robert Habeck einmal mehr beherzt vorgeprescht. Klartext ohne Kompromisse, so mögen seine Fans den Mann, der komplizierte Sachverhalte so vortragen kann, dass jeder denkt, er habe verstanden, worum es geht.

Mehr Geld für den Staat

Diesmal um mehr Geld, das der Staat braucht, um Armut zu bekämpfen, kaputte Schulen zu sanieren, Straßen zu reparieren, Radwege auf-, und die Bürokratie digital abzubauen. Die vorhandenen Steuerarten - unter anderem Abgeltungsteuer, Alkopopsteuer, Alkoholsteuer, Biersteuer, Bettensteuer, Einkommensteuer, Einfuhrumsatzsteuer, Energiesteuer, Erbschaftsteuer, Schenkungssteuer, Feuerschutzsteuer, Gewerbesteuer, Grunderwerbsteuer, Grundsteuer, Hundesteuer, Jagsteuer, Kaffeesteuer, Kapitalertragsteuer, Kirchensteuer, Körperschaftsteuer, Kraftfahrzeugsteuer, Lohnsteuer, Luftverkehrsteuer, Rennwett- und Lotteriesteuer, Schaumweinsteuer, Solidaritätszuschlag, Spielbankabgabe, Stromsteuer, Tabaksteuer, Umsatzsteuer, Vergnügungssteuer, Versicherungssteuer und Zweitwohnungssteuer - reichen dazu ebenso wenig wie die Vielzahl an Abgaben, etwa für CO2, die Netznutzung, die Rente oder die Krankenversicherung.

Auch Rekordeinnahmen reichen nie

Zwar erklimmen die Einnahmen des Staates seit Jahren Rekord für Rekord. Doch schneller noch als der Steuerzahler das Geld abliefern kann, wuchsen stets die Wünsche der Politiker, sich mit noch mehr großzügigen Wohltaten bei ihrer jeweiligen Wählergruppe lieb Kind zu machen. Ein Schlamassel, dem Robert Habeck je energisch den Kampf angesagt hat. Als erster der Kandidaten machte der Grüne reinen Tisch: Sonntagsabend, versteckt zwischen "Sportschau" und "Tatort", legte der amtierende Klimawirtschaftsminister seine Pläne dar.

Es geht um das Sparvermögen der Deutschen, jene rund 8.000 Milliarden Euro, die gesichert in Fonds stecken, auf Sparbüchern liegen, in Aktien und Edelmetallen angelegt sind, in Lebensversicherungen, Kryptowährungen und Immobilien. Es ist so viel Geld, dass die Deutschen damit immerhin auf einem untereren Mittelfeldplatz im europäischen Vermögensvergleich kommen. Und so viel, dass dem Staat jedes Jahr Milliarden zufließen würden, könnte er nur noch mehr als bisher von den Erträgen für sich reklamieren.

Beiträge auf Erspartes

Robert Habecks Berater haben eine Möglichkeit gefunden. Er wolle die "Beitragsbasis erweitern", hat er im "Bericht aus Berlin" angekündigt, wie eine künftige grüne Bundesregierung noch "mehr Solidarität" herstellen werde. Nicht nur auf Arbeitseinkommen, sondern auch auf Kapitalerträge aus Erspartem, das zuvor bereits versteuert worden sei, müssten künftig Sozialversicherungsbeiträge fällig werden, so der  Bundesklimawirtschaftsminister. Ihm leuchte nicht ein, "dass Arbeit höher belastet werde als Einkommen aus Kapitalanlagen", sagte Habeck, der genau weiß, um was für ein gewaltiges Töpfchen Geld er hier pokert.

8.000 Milliarden Euro werfen im Durchschnitt alljährlich etwa 240 Milliarden Euro an Erträgen ab. Beim derzeitigen Gesamtsatz an Sozialversicherungsbeiträgen von durchschnittlich 37,6 Prozent würde eine Beitragspflicht für Zugewinne des privaten Sparvermögens etwa 90 Milliarden Euro für die Staatskasse ab - umgeleitet über die Kranken-, Pflege und Rentenklasse, deren Steuerfinanzierung der künftige Finanzminister um diesen Betrag zurückfahren könnte. 

Der Sparer muss zahlen

Gefleddert würde damit die Rücklagen der Bürgerinnen und Bürger, die privat vorsorgen, die sparen, um die durch die Absenkung der zugesicherten staatlichen Rente entstandene Versorgungslücke zu füllen und damit heute noch signalisieren, dass sie ihr Leben weitgehend selbst gestalten und bestimmen wollen. Ein Konzept, das hinfällig wird, wenn Habeck durchregiert: 10.000 angelegte Euro werfen dann bei einer Verzinsung von drei Prozent nicht einmal mehr 220 Euro ab wie derzeit, wo nur Kapitalertragssteuer und Solidaritätszuschlag abgezogen werden. Sondern nur noch 137 Euro. 

Geld anzulegen, würde sinnlos. Für sich selbst vorzusorgen wäre unmöglich. Der Sparer, dem derzeit von jedem Euro Ertrag ein Viertel als "Kapitalertragssteuer" abgezogen wird und obendrauf noch einmal 5,5 Prozent als "Solidarzuschlag" für den Aufbau des Ostens, wäre dann besser dran, wenn er sein Abgeknapstes auf den Kopf haut und darauf vertraut, dass ihm Vater Staat in der Stunde der Not, später, hoch im Alter und gebrechlich, schon irgendwie Brot, ein Tässchen Tee und das gelegentliche Umbetten finanzieren wird.

Einer für alle: Unser Held aus Heikendorf

Der Held von Heikendorf: Niemals seit Franz Josef Strauß war ein Kanzlerkandidat so beliebt und so unbeliebt zugleich. Klappt alles, wird Robert Habeck mit der erfolgreichsten Wahlkampagne aller Zeiten so wenig Erfolg haben wie seinerzeit Renate Künast und Jürgen Trittin. Gemälde: Kümram, Permanentmarker auf Glas

Als Minister ist er gescheitert, als Parteiführer war er gezwungen, aus der zweiten Reihe wieder in die erste zu treten und den Apparat mit einer radikalen Säuberung wieder auf Linie zu bringen. Doch Robert Habeck blieb ungebeugt und ungebrochen. Mit dem Selbstbewusstsein eines Teenagers, der mit dem Wissen der neunten Klasse bei Instagram Tipps zur Geldanlage gibt, hat der 55-Jährige sich den Traum erfüllt, auch einmal Kanzlerkandidat seiner Partei zu sein.  

Westen für den Westen

Habeck tritt in dieser Rolle auf wie immer, nur mehr. Er ist so pastoral, dass es selbst dem "Spiegel" notwendig erschien, danach zu fragen. Er ist plakativ und lässt sich auf Bauwerke werfen. Doch er kann auch subtil, etwa, wenn er neuerdings Westen trägt, die denen, die genau hinschauen, sagen sollen, worum es wirklich geht: Nicht um Deutschland allein. Sondern um den ganzen, ja, Westen. 

Der grüne Parteichef, und das ist Robert Habeck zweifellos, auch wenn er den Titel selbst an einen Gehilfen abgetreten hat, sieht sich in einem finalen Kampf um sein Lebenswerk. Nach dem Start vor dreieinhalb Jahren war Habeck wie die anderen Führungsfiguren seiner Partei der festen Überzeugung gewesen, mit einigen raffinierten Verboten, planwirtschaftlichen Vorgaben und festen Versprechen werde sich die mehr als 2000 Jahre alte fossile Gesellschaft zu einem ökologischen, klimaneutralen  Staat auf Basis nachhaltiger Rohstoffe umbauen lassen.  

Beliebt wie Fußpilz

Robert Habeck hat ein Kunststück vollbracht, das vor ihm nur Franz Joseph Strauß gelungen war: Er ist der beliebteste Kanzlerkandidat, aber nur bei den einen. Und er ist der Anwärter auf die Führung der nächsten Regierung, den die anderen ablehnen wie Fußpilz oder die Mitgliedschaft in einer politischen Partei.  Wenn die Deutschen ihren Kanzler direkt wählen könnten, wäre Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck laut einer aktuellen Umfrage im Moment der Favorit. Wenn die Deutschen einen Kandidaten aus dem Rennen werfen dürften, wäre er es auch.

Den 55-Jährigen irritiert weder das eine noch das andere. Habeck leitet seinen Anspruch, Kanzler werden, aus dem Zuspruch seines Fanlagers ab, mindestens ebenso aber aus dem Gegenwind, der ihm ins Gesicht bläst. Habeck hat sich das #teamhabeck ausgedacht. Seine Werbeagentur, früher für Angela Merkel tätig, lieferte den Begriff "Bündniskanzler" als griffige Leerformel für eine Plakatkampagne. Zuletzt gruben die grünen Wahlstrategen auch noch Hitlers Lieblingswegriff "Bewegung" wieder aus, um ihren populistischen Bemühungen um die Mitte ein prächtigeres Gepränge zu geben. 

Der deutsche Macron

Habeck, im Bewerberfeld einer unter so vielen wie noch nie, mach den Macron und imitiert dessen mittlerweile gescheiterte Bewegung "La République En Marche". Habeck will präsidial wirken, er soll der Kandidat sein, der über denen der Parteien steht. Auch die von einer grünen Bot-Armee im Netz entfachte Protestwelle gegen ein Kanzlerduell in ARD und ZDF. 

Das haben beide Sender unabhängig mit Amtsinhaber Olaf Scholz und dem aussichtsreichsten Herausforderer Friedrich Merz geplant - unter dem Hashtag #TriellMitHabeck versucht eine simulierte Volksbewegung nun, die redaktionelle Unabhängigkeit auszuhebeln und den Kandidaten der in den Wahlumfragen mit nur zwölf bis 15 Prozent abgeschlagenen Grünen in die Veranstaltung zu demonstrieren.

Als Munition dienen absurde Beliebtheitsumfragen, aber auch Habeck selbst schürt immer wieder Zweifel am System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ihn sich nicht mitduellieren zu lassen, werde "schon stark begründungspflichtig von ARD und ZDF oder ggf. von den anderen werden, wenn wir in den Umfragen gleich stark wie die SPD sind oder gar an denen vorbeigegangen sind", schlägt er dann in dieselbe Kerbe wie die Anhänger der in Teilen nachgewiesen rechtsextremen AfD, die den Ausschluss ihrer Spitzenkandidatin aus dem Wahlkampf in ARD und ZDF mit den gleichen Argumenten angreifen.

Neid bei den Mitbewerbern

Nur weil Habeck nicht gegen Weidel in den Ring steigen wollte, hatten die beiden großen Sendeanstalten folgsam sofort die gesamte Veranstaltung abgesagt. "Demokratus I", wie Robert Habeck wegen seiner überaus erfolgreichen "Bündniskanzler"-und "Die Bewegung"-Kampagne von neidischen Mitbewerbern im politischen Berlin genannt wird, kämpft seitdem mit der Macht der virtuellen Straße um einen Platz am Tisch des großen Duells zwischen "Oaf Schitz" (Elon Musk) und "Fritze Merz" (Olaf Scholz). 

Habeck weiß: Es wird trotz des grünen Grönemeyer-Verbotes langsam höchste Zeit, dass sich was dreht. Bleibt alles, wie es ist, und läuft es, wie es läuft, könnte der so lange so glücklos agierende Minister als der Kanzlerkandidat in die deutsche Geschichte eingehen, der mit der erfolgreichsten Wahlkampagne aller Zeiten den größten Misserfolg seit Renate Künast, Jürgen Trittin und brachialer Bauchlandung am Veggie-Day hingelegt hat. 

Testsieger mit den schönsten Versprechen

Eine Ehre, auf die Habeck gern verzichtet. Der 55-Jährige, in öffentlich-rechtlichen Medienhäusern wie in den Großredaktionen der privaten Medienheuschrecken unangefochtener Testsieger mit den meisten schönsten Versprechen für goldene Zeiten, hatte seine Unterstützenden, Unterstützerinnen und Unterstützende direkt nach dem Ampel-Aus ganz klassisch auf einen Start-Ziel-Sieg eingeschworen. "Männer von Mompracem, hört mich an", zitierte Habeck in einer Ruckrede Gerüchten zufolge einen klassischen Satz des malaiischen Prinzen Sandokah, "ich treffe meiner Entscheidungen immer allein, trage dafür aber auch die Verantwortung". 

Mit dem Satz die "Union verkackeiert die Bevölkerung" hat Robert Habeck die Kaltzeit des Kampfes ums Kanzleramt eingeläutet. Die Union plane Steuererleichterungen, die nicht gegenfinanziert seien. Sie gebe Antworten auf drängende Fragen, die "nicht fundiert" seien. Seine Kampagne setzt auf Zusagen wie die, alles "bezahlbar" zu machen, der Schuldenbremse Schuldenbremsbacken und Schuldenbremsscheiben auszubauen und immerhin "Schulen und Kitas" zu sanieren. 

Entlastung überall, in Maßen

Vom "Land, das einfach funktioniert" hat Habeck Abstand genommen. In Zeiten knapper Kassen müssen "etwa 84 Euro" als Zusage reichen, um Wählerinnen und Wähler mit "günstigerem Strom, preiswerter Mobilität und einer steuerliche Entlastung der breiten Bevölkerung" an die Urne zu locken. Nicht alle sollen freilich so viel bekommen. Wer kein Deutschland-Ticket hat, keine Kinder und schon einen Führerschein,  wird sich mit knapp 40 Euro Entlastung im Monat zufriedengeben müssen. Das reicht genau aus, um die seit 1. Januar erhöhte CO₂-Steuer zu zahlen und ein bisschen was vom höheren Krankenkassenbeitrag. Aber für das gestiegene Briefporto nur bei denen, die keine Briefe schreiben.

Wer schon fürs Alter gespart hat, wird Habeck zufolge dafür zur Kasse gebeten: Sobald er Kanzler ist, will der Held aus Heikendorf auch "Kapitalerträge sozialversicherungspflichtig machen". Erträge aus bereits versteuertem Geld sollen dann helfen, dem Staat höhere Einnahmen zu bescheren, damit er mehr Gerechtigkeit herstellen kann.