Freitag, 17. Oktober 2025

Drohnen für Deutschland: Kein Thema mehr im Bundestag

Drohnenwall, Drohnensichtungen, russische Drohnen, Luftabwehr, kritische Infrastruktur, Nato, Ostflanke
Ein Rückgang der Drohnensichtungsberichte um 95 Prozent: Schon die Ankündigung des Bau eines blickdichten Drohnenwalls rund um die EU hat Russlands Quadrokopter in die Schranken gewiesen.

Eben noch überall, auf einmal verschwunden. Kaum entdeckt, und schon wieder weg. Die Drohnen, vor einigen Tagen das Thema, das Politik, Behörden, Bundeswehr und die Medien bewegte wie kein anderes, haben den deutschen Luftraum offenbar bereits wieder verlassen. Seit Stunden schon  gibt es keine Meldungen mehr von ernsten und akuten Fällen. Keine Erkundungsflüge über Teilen der kritischen Infrastruktur. Keine Rundflüge über Flughäfen. Urplötzlich keine Sichtungen mehr in Feld, Wald und Flur.  

Der Drohnenschild funktioniert schon 


Die Bedrohung scheint für den Augenblick so schnell verschwunden, wie sie Anfang September unerwartet entstanden war. Nur wenige Wochen nach der Vorstellung der deutschen Aufrüstungspläne auf dem Weg zum Kriegsziel 2029, in denen von einer Drohnenbewaffnung der Bundeswehr noch nicht die Rede war, stiegen die ersten unbekannten Flugkörper auf. Russland hatte offenbar erkannt, was die Bundeswehrplaner nicht hatten sehen können. Kleine, unbemannte Flugkörper sind keine Waffe, die einen Krieg entscheiden kann. Doch sie beschäftigen den Gegner so sehr, dass auch er nicht gewinnt. 

Erst traf es Polen. Die berühmte Ostflanke erzitterte unter dem Ansturm unbemannter Flugkörper, die auch die Luftabwehr des größten und mächtigsten Verteidigungsbündnisses der Menschheitsgeschichte nicht vollständig vom Himmel zu holen vermochte. "Mehr als zehn" Flugkörper meldete die Nato, "mehr als ein Dutzend" meldete Polen. 

Nach einer endgültigen Zählung waren es dann aber sogar "mindestens 19, wahrscheinlich aber sogar 23" russische Kamikazedrohnen flogen erst unbeobachtet und dann überwiegend unbehelligt in den polnischen Luftraum ein. Immerhin acht konnten durch die polnische Luftwaffe und alarmierte Nato-Luftstreitkräfte abgeschossen werden.

Verräterische kyrillische Buchstaben 

Russland, das verräterische "kyrillische Buchstaben" auf den Trümmern hinterlassen hatte, versuchte  es trotzdem gleich noch einmal. Jetzt war Kopenhagen dran, der Ort, an dem die Spitzen der Verbündeten sich zu einem Gipfel trafen, dessen Tagesordnung Moskau schrieb. Worüber auch immer ursprünglich hätte gesprochen werden sollen. Am Ende redeten alle über die Bedrohung des freien Westens durch Drohnen. Ist das schon der Bündnisfall? Wie antworten, ohne etwas zu sagen? Die Medien daheim machten Druck: "Hätte Deutschland die angeblich 19 Drohnen, die in Polen nicht abgeschossen wurden, auch nicht vom Himmel holen können?", fragte der WDR. Und ja, Thomas Erndl von der CSU, ein den meisten Wählerinnen und Wählern unbekannter Sprecher des Verteidigungsausschusses im Bundestag, gestand ganz offen: "Das würde bei uns dann in ähnlicher Weise auch passieren."

Es waren Tagen voller banger Blicke zum Himmel. Flughäfen mussten stillgelegt werden, nachdem dort Flugbewegungen stattgefunden hatten. Drohnen tauchten "über Kasernen und Funkhäusern" auf, in Kiel, Norwegen und in Dänemark, sogar in Gifhorn, Sinbronn bei Dinkelsbühl und Frankfurt am  Main. Niedersachsen, mutmaßlich eines der Durchmarschgebiete des kommenden Kräftemessens, meldete eine Verdopplung des Auftauchens "verdächtiger Lichter und Geräte am Himmel" (Stern). In Schleswig-Holstein zeigten sich die "unsichtbaren Beobachter" (Bild) blinkend und summend vermehrt über kritischer Infrastruktur. 

Gezielte Störaktionen 

Die Behörden gingen von gezielten Störaktionen aus. Die Bevölkerung war beunruhigt. Dass Züge nicht fahren, beklagt niemand mehr. Dass aber nun auch die paar Flugzeuge, die nach den Streichungen ganzer Linien und Verbindungen noch übrig sind, nicht mehr fliegen, kratzt am nationalen Selbstbewusstsein. Statt sich über den Gewinn zu freuen, den jeder einzelne ausgefallene Flug dem Weltklima bringt, Grüne fordern koordinierte Spähtrupps zur Drohnensichtung. Das Bundeskabinett ging noch weiter und gestattete erstmals Kampfeinsätze der Bundeswehr im Inneren  - ein verfassungsrechtlicher Tabubruch wie der von US-Präsident Donald Trump verfügte Einsatz der US-Nationalgarde im Landesinneren im Rahmen seiner "radikaler innenpolitischer Agenda" (Die Welt). 

Es war die so oft geschmähte, verhöhnte und wegen ihrer endlosen und langwierigen Entscheidungsprozesse verlachte EU, die strategisch Pflöcke einschlug. Während die Nato-Partner noch in Kopenhagen tagten, penibel bewacht von Radarstationen und Flugabwehrgeschützen, legte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen kühnen Plan vor. Ein Drohnenwall weit draußen im Osten, blickdicht hochgezogen entlang der berühmten Ostflanke vom finnischen Kirkenes ganz im Norden über 3.000 Kilometer bis nach Sulina in Rumänien, ganz unten am Schwarzen Meer, werde das freie Europa künftig abschirmen, verkündete die frühere deutsche Verteidigungsministerin. 

Projekt Fliegendes Stachelschwein 

Geld spiele keine Rolle, hieß es in Brüssel. Der fliegende Teil des Projekts "Stählernes Stachelschwein" (steel porcupine), das die Kommissionspräsidentin im März in Dienst gestellt hatte, wird zwar rund 400 Milliarden Euro kosten. Die asymmetrische Bedrohung durch Russland aber wirksam beenden.

Es war ein Weckruf zur rechten Zeit. In den ersten dreieinhalb Jahren seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hatten Europas Generalstabsplaner und Militärinfluencer zwar zahlreiche neue Beobachtungen auf den Schlachtfeldern in der Ostukraine gemacht. Entgangen war ihnen allerdings die gewachsene Bedeutung von Drohnen als neuer Waffengattung. 

Als Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und Bundeskanzler Friedrich Merz im Sommer erste Einzelheiten der deutschen Aufrüstungsplanung bekanntgaben, war die Rede von 1.000 Kampfpanzern und 2.500 Schützenpanzern, von Jagdflugzeugen und Geschützen und einem Ausbau des neuen Weltraumkommandos. In der Drohnenfrage aber blieb der Sozialdemokrat abwartend: Viele Jahre hatte die SPD engagiert und erfolgreich gegen eine Bewaffnung der Bundeswehr mit Drohnen gekämpft. 

Nur Tests sind erlaubt 

Jetzt konnte sich ihr Verteidigungsminister nur dazu durchringen, erste Tests mit Kampfdrohnen bezeichneten unbemannten Kampfmitteln anzuschieben. Mehr war nicht drin. Zu groß war die Skepsis in der deutschen Sozialdemokratie , dass die als "loitering ammunition" – also "herumlungernde Munition" bezeichneten Miniflieger aus dem ehrlichen Kampf Mann gegen Mann, Panzer gegen Panzer ein schäbiges Schlachten aus dem Hinterhalt machen, das selbst den Sieger entehrt.

Pistorius ist ein alter, erfahrener Sozialdemokrat. Der gelernte Obergefreite, früher Oberbürgermeister von Osnabrück, wusste sehr genau, dass er vielleicht den Russen besiegen kann, nicht aber die eigene Partei. Erst die mit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause vom Kreml begonnene Drohnenenoffensive und die darauffolgende Drohnenhysterie erlaubte es dem 65-Jährigen, der seinen Wehrdienst bei einem Flugabwehrregiment leistete, Schluss zu machen mit der Friedensromantik seiner Genossen. Zehn Milliarden Euro will Pistorius nun für Drohnen ausgeben, Ziel sei" eine digital vernetzte Luftverteidigung auf europäischer Ebene", berichtet der "Spiegel". Proteste gibt es keine.

Ablehnung im Bundestag 

Es ist geschafft. Anderthalb Jahre nach dem historischen Augenblick im Bundestag, in dem SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie der Gruppe Die Linke einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel "Aufbau einer Drohnenarmee" (20/11379) brüsk ablehnten, entsteht sie doch. Nur sechs Jahre hat es seit dem ersten Anlauf gedauert, den AfD und FDP am 20. Dezember 2019 unternommen hatten, als sie forderten, den "Schutz der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr durch die Beschaffung von bewaffneten Drohnen stärken" (19/15675). Die Abstimmung wurde zum Debakel: In namentlicher Abstimmung votierten 526 Abgeordnete gegen den Antrag.

Dafür hat seitdem niemand gestimmt, denn der Bundestag hat sich nie wieder mit der Frage des Aufbaus einer "neuen Truppengattung Unbemannte Systeme und Drohnenabwehr" in der Bundeswehr" (CDU/CSU, 16. Mai 2024) befasst. Beschlusslage seit 2018 ist die Anschaffung von fünf israelischen Kampfdrohnen des Typs Heron TP - maßgeschneidert als "German Heron TP" - für rund eine Milliarde Euro. Über die tatsächliche Bewaffnung der ersten Handvoll unbemannter Flugzeuge, die auch Waffen tragen können,  sollte eigentlich erst "nach ausführlicher völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher und ethischer Würdigung" im Bundestag entschieden werden. 

Die Drohnenhysterie hat auch die SPD geheilt

Auch das ist aber nun wohl hinfällig. Es brauchte nicht mehr als eine kurze Phase aufgeregter Anspannung, um die Stimmung zu drehen, den Bundestag aus dem Spiel zu nehmen und der Exekutive freie Hand zu geben. 2020 lehnte noch "knapp mehr als die Hälfte der Bundesbevölkerung Kampfdrohnen ab", heute werden kaum veränderte Umfrageergebnisse unter der Überschrift "Jeder Zweite fordert konsequentes Durchgreifen" als "großer Zuspruch" für die von der Leyen-Idee eines Drohnenabwehrsystems für die Europäische Union gefeiert.

Wie wenig hat es dazu gebraucht. Im Einklang mit dem ersten Gesetz der Mediendynamik dauerten die beiden Drohnenwellen, die Magazine, Zeitungen und Fernsehsender in Atem hielten, jeweils nur zwei Wochen. Drohnen waren überall, sie waren zweifelsfrei russisch, obwohl ihre Herkunft immer noch einer gründlichen Überprüfung bedurfte.

Unklare Absender 

Die Ermittlungen dazu laufen offenbar noch, gründlich und ohne Eile. Zu früheren Vorfällen, bei denen Sicherheitsbehörden auch schon darauf "tippten, dass Russland dahinter stecken könnte" (Correctiv), gibt es auch nach fast zwei Jahren noch keine belastbaren Erkenntnisse, wer etwa hinter dem Quadrokopter, der im Februar 2024 über der Wettiner-Kaserne im sächsischen Frankenberg abstürzte, als er versuchte, die Heimat der Panzergrenadierbrigade 37 auszuspionieren.

Wer auch immer dahitlersteckte, er hat erreicht, was die AfD 2019 forderte und die SPD nach ihrer eigenen Beschlusslage bis heute ablehnt. Wenn Boris Pistorius heute ankündigt, für zehn Milliarden "Drohnen aller Art, aller Höhen" kaufen zu wollen, murrt es nicht einmal im Willy-Brandt-Haus oder in den Parteiversammlungen der Ortsgruppen von Sozialdemokraten, Grünen und Linken. Wenn Wladimir Putin mit seinen hybriden Srohnenattacken hatte erreichen wollen, Deutschland mit seiner manifesten Verweigerung einer Bewaffnung mit Drohnen bricht, dann hat sein Ziel erreicht. 

Seit dem Höhepunkt um den 3. Oktober herum, als keine Stadt, kein Dorf und kein Stückchen Vorgarten mehr unausspioniert blieb, ist die Frequenz der beunruhigenden Drohnen-Meldungen um 95 Prozent zurückgegangen.  

Der Stadtbilderklärer: Schwierigkeiten mit der Wahrheit

Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender, starkes Europa, Rechtspopulismus, Stadtbild, Migration, Verwahrlosung
Deutsche Städte haben sich verändert. Und wer sich nicht darüber freut, muss sich schämen.

Der Auftritt als Zahnfee brachte einen kräftigen Schub, auch die Nummer mit den "kleinen Paschas" sorgte für Furore. Friedrich Merz hat es zudem mit "ukrainischen Sozialtouristen" versucht, er hat nahezu alle Menschen links der Brandauer mit seiner Mitteilung brüskiert, Israel erledige im Nahen Osten die "Drecksarbeit" für den gesamten  freien Westen und über die sexuelle Ausrichtung des damaligen Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit wusste er zu sagen: "Solange er sich mir nicht nähert, ist mir das egal."

Ans Eingemachte 

Merz lag nicht immer falsch, aber richtig verstanden wurde er stets. Migranten mochten wirklich, anders lässt es die Mathematik ja gar nicht zu, Schonlängerhierlebenden Zahnarzttermine wegnehmen. Doch darf man das deshalb aussprechen? Oder die Talahon in ihren grauen Jogginglumpen mit Kettenklumpen spreizen sich zuweilen wirklich demonstrativ wie kleine Paschas. Ist eine solche Bezeichnung, obgleich in diesem Zusammenhang nicht einmal kulturell aneignend, nicht doch zu abwertend?

Friedrich Merz fand in der Regel nicht. Aber dann immer doch. Kaum eine zugespitzte Aussage des CDU-Vorsitzenden aus den letzten Jahren hatte über den Tag hinaus Bestand. Der "Mann mit den Schwefelhölzern", wie ihn die Süddeutsche Zeitung wegen seiner vermeintlichen Zündlerqualitäten nannte, löschte jeden Brand, noch ehe es zu einem  Brand kommen konnte. Merz wollte nur spielen, spielen mit einem Image als harter Hund, der dem windelweichen Waschlappen Olaf Scholz klarmacht, wo der Hammer hängt. Klare Sprache, laut und deutlich. Und anschließend eilig zurückrudern.

Ein "starkes Europa" 

Die Strategie hat ihn bis ins Kanzleramt gespült. Von der lässt Merz auch dort nicht. Wenn der Staatsmann auf Heimatbesuch kommt, zählen nicht die Regierungserklärungen. Merz kann auch die, ja, natürlich. Eben erst hat er eine genutzt, um sein Volk mit der Mitteilung zu überraschen, dass er ein "starkes Europa" wolle. Wichtiger aber ist, das weiß der 69-Jährige genauso gut, die emotionale Ansprache, das Kitzeln der atavistischen Gefühle und die Anmutung, da sei doch wenigstens noch einer in der abgehobenen Berliner Politblase, der noch wissen, was draußen im Land los ist. 

Rechtspopulisten missbrauchen Umfragen.
Unter dem Eindruck katastrophaler Umfragewerte hat Merz es wieder getan, wie immer aus der Lamäng und sorgsam vorbereitet. Auf die Frage eines Reporters nach dem offenbar unaufhaltsamen Erstarken der AfD und danach, was er dagegen zu tun gedenke, antwortete Friedrich Merz mit dem gewohnte Eigenlos. Sein Kabinett stelle Weichen. Die Flüchtlingszahlen sänken. Genug sei das noch immer nicht, klar: "Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen." 

Drastische Änderungen 

Wie immer teilt Merz niemandem nichts mit, was nicht jeder ohnehin schon weiß. Als Katrin Göring-Eckardt vor zehn Jahren vorhersagte, dass "unser Land sich ändern wird, und zwar drastisch", hatte sie womöglich anderes vor dem inneren Auge. Aber recht hat sie behalten. Wer heute durch eine deutsche Großstadt spaziert, stolpert über Müll und Abfall, sämtliche Wände sind beschmiert wie die von Gefängniszellen, der Wind treibt den durchgeweichten Inhalt von "Zu-verschenken"-Kisten durch die Straßen und vor den Wettstuben qualmen die Nochnichtsolangehierlebenden um die Wette. 

Ein Hauch von Verfall, ein Geschmack von Endzeit überall. Merz hat nicht gesagt, Migranten seien ein "Problem im Stadtbild". Aber die, die das nicht so sehen, waren die, die es als Erste genau so verstanden haben. "Das sind keine Ausrutscher", rief es, "das ist System!". Merz sei nicht nur ein Wiederholungstäter, er sei ein Überzeugungstäter! Und seine verrohte Sprache verrate "ein verrohtes Denken". Nach Jahren der Erziehung zur Aufmerksamkeit für alle Fälle, in denen "besonders Rechtspopulisten versuchen, die Grenzen zu verschieben" (Deutschlandfunk, 2018) erkennt jeder, wie ihre Parolen ins öffentliche Bewusstsein gesickert sind.

Die Wirklichkeit als Problemwahrnehmung 

Die Beschreibung der Wirklichkeit wird zum Problem, wenn die Wirklichkeit nicht zum eingebildeten Ideal passt. Katrin Göring-Eckhardt hat einmal auf die Frage, ob sie  ihren Satz von 2015 heute noch einmal sagen würde, klipp und klar antworten lassen. "Prävention und besserer Schutz von Frauen vor sexueller und körperlicher Gewalt müssen viel stärker Themen der Innenpolitik werden", ließ sie ihr Team bestellen. Statt die Frage einfach zu antworten.

Schwierigkeiten mit der Wahrheit, die den Aussagen des Stadtbilderklärers Merz eine "Tragweite" zuschreibt, die "größer ist, als sie zunächst klingt" (Tagesschau). Der Satz des Kanzlers, indem nicht nur Besucher aus dem Ausland, sondern auch zahlreiche Schonlängerhierlebende eigenen Beobachtungen bestätigt finden, klingt für Katharina Dröge unanständig. Auch die grüne Fraktionschefin sieht "das Problem" (Merz). Doch es auf eine Ursache zurückzuführen, sei "verletzend und diskriminierend". Eine Erklärung der "Tagesschau" macht alles noch schlimmer: Problematisch am Begriff "Stadtbild" sei, dass das Wort "ein unklares Gefühl der Fremdartigkeit und der Angst" aufgreife, "ohne genau zu beschreiben, was damit gemeint ist". 

Fortschreitende Verwahrlosung 

Merz weiß, Dröge weiß und die "Tagesschau" weiß, dass es ohnehin jeder weiß: Die fortschreitende Verwahrlosung des öffentlichen Raumes. Die international befreiten Zonen. Die Müllkippen hinter den Wohnblocks mit den Mietern, denen das Amt die "Kosten der Unterkunft" zahlt, selbst wenn sie nie da sind oder zu zehnt in einer Dreiraumwohnung zu leben vorgeben. Die Säufergruppen vor den Supermärkten. Die vergammelten Komposttoiletten. Die mit Fußball- und Fridays-for-Future-Aufklebern übersäten Schulbushaltestellen. Die Einkaufswagen im Stadtwald. Die Einweggrillfeuer in den Parks. Viele Menschen sehen im Alltag täglich "drastische" Veränderungen. Und der Zusammenhang mit den Migrationsbewegungen des zurückliegenden Jahrzehnts stellt sich für sie von selbst her.

Die Broken-Window-Theorie, vor mehr als 40 Jahren von James Q. Wilson und George L. Kelling entwickelt, besagt, dass sichtbare Anzeichen von Verfall und kleineren Vergehen wie Müll oder Graffiti in einer Nachbarschaft zu einer Zunahme schwererer Kriminalität führen können. Bereits geringe Anzeichen von Unordnung – zerbrochene Fenster, mit Graffiti beschmierte Wände oder herumliegender Müll – werden als Signal für fehlende soziale Kontrolle wahrgenommen. Weitere Normverletzungen sind die Folge, zum weggeworfenen Pappbecher gesellt sich der "Zu verschenken"-Karton mit zerbrochenen Tassen. Kurze Zeit später liegt daneben ein umgekippter Einkaufswagen, aus dem nach und nach eine ganze Müllhalde wächst, auf der sich Dealer ansiedeln.

Dieses Bild allmählicher Verwahrlosung bieten heute schon viele deutsche Städte und das nicht mehr nur rund um die Bahnhofsviertel. Ein Zustand, der akzeptabler scheint als Merz Versuch, mit einer Erwähnung dieser speziellen deutschen "Stadtbilder" mal wieder etwas zu sagen, dass seiner fußlahmen Union in den Umfragen auf die Beine hilft.

Donnerstag, 16. Oktober 2025

Das Hamburger Patentwunder: Tüftler aus dem Morgenland

Zugewanderte Patentanmelder
Auch der Ostdeutsche Jens Urban hat eine internationale Wanderungsgeschichte. Die Bundesrepublik ist bereits das zweite Land, dessen Staatsbürgerschaft er trägt. 

Wer mit Zahlen, Statistiken und Grafiken lügen will, und wer will das nicht in diesen Zeiten der Unüberschaubarkeit, der hat einige grundsätzliche Regeln zu beachten, um nicht sofort als Fälscher aufzufliegen. Wichtig ist es, die jeweilige Statistik so zuzuschneiden, dass die gewünschte Botschaft eineindeutig übermittelt wird. Statt mit allzu vielen Zahlen und einordnenden Fakten eine Relativierung zu riskieren, hilft es häufig, es bei einem ungefähren Eindruck zu belassen.  

Ein im Alltagsbetrieb oft unaufmerksames Publikum wird die Kernbotschaft gern aufnehmen und verinnerlichen. Dankbar werden zudem die Teile des Empfängerkreises reagieren, die sich in einem ohnehin vorhandenen Voreindruck bestätigt sehen.

Überwinden der Hirnskepsisschwelle

Es wirkt immer glaubhafter, wenn die natürliche Skepsis-Schwelle des menschlichen Hirns frontal überfahren wird. Stattdessen zielen die Besten ihres Faches darauf, nicht zu informieren, sondern beim Publikum den Eindruck zu erzeugen, gut informiert worden zu sein. In der Meisterwerkstatt für mediale Manipulation (MMM)  beim ZDF gehört es zum Tagesgeschäft, in Mainz nicht überwunden werden muss und dadurch gelingt es, Fakten, Tatsachen und Statistiken jeweils so zu "trimmen", wie es im Fachjargon heißt, dass die beabsichtige Wirkung erzielt wird. 

Eine Mehrheit kann zur Minderheit werden, eine Geschichte kann nach Wunsch verlängert und selbst die Sieger von Kriegen stehen nicht dauerhaft fest. Durch gezielte Auslassungen entstehen sogenannte progressive Twists. Unverletzt bleibt dabei der auch als Hayalisches Gesetz bekannte  dritte Grundsatz der Mediendynamik: "Jeder kann eine eigene Meinung haben, nicht aber eigene Fakten".

Es ist ein mörderischer Wettbewerb, der auf dem Markt der angepassten Wahrheiten tobt. Hier werden Geschehnisse rein numerisch betrachtet und solange durch eine Matrix gepresst, bis sie in ein vorgewähltes Schema passen. Dort versuchen Kreative sich an Darstellungsformen, die ausgewählte Ausschnitte aus der wirklichen Wirklichkeit in den Dienst der Volksbildung stellen.

Als Hebel, der genutzt wird, um Nebenbei-Konsumenten von Nachrichten mit bis zur Unkenntlichkeit verdünnten Informationen zu versorgen, ohne Misstrauen zu erregen, dienen Methoden der modernen Massenpsychose: Gezielt gewählte Zeitausschnitte. Zur Botschaft passende Durchschnittswerte. Nach Gutdünken gemalte Zeichnungen, in denen Balkenlängen per Grafikkosmetik gemeingängig gemacht werden. 

Die Macht des Durchschnitts

Die Danachrichtenagentur DPA, neben ARD und ZDF einer der zuverlässigsten Lieferanten von Teilwahrheiten ohne Informationsgehalt, zeigt aktuell mit einer Meldung über "Erfindungen in Deutschland", nach der "jede siebte Patentanmeldung von Migranten" stamme, wie sich elegant und einprägsam mit wenig Aufwand manipulieren lässt. 

Die Nachricht, entnommen einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), bürstet entschlossen Vorurteile gegen den Strich, wenn sie mitteilt, dass "immer mehr Patente in Deutschland von Menschen mit ausländischen Wurzeln" stammen. Sei im Jahr 2000 nur jede zwanzigste Patentanmeldung die eines Zugewanderten gewesen, stieg der Anteil bis zum Jahr 2022 von 4,9 Prozent auf 14 Prozent.

"Für die deutsche Wirtschaft werden Zugewanderte also immer wichtiger, habe das IW erklärt, demzufolge vor allem die Patentanmeldungen von indischstämmigen Zuwanderern zunähmen. Doch auch "Erfinderinnen und Erfinder aus Ost- und Südosteuropa" leisteten mit einem Anteil von knapp drei Prozent einen Beitrag. In absoluten Zahlen sogar den größten Beitrag. Hinter ihnen folgten Tüftler aus dem südeuropäische und lateinamerikanische Sprachraum. Auf Platz drei schließlich die aus dem arabischen Raum inklusive der Türkei, die auf zwei Prozent kommen.

Nichts ist falsch 

Nichts davon ist falsch. Nicht davon ist erfunden. Alles davon ist allerdings als Information vollkommen untauglich. Denn rigoros verzichtet nicht nur die "Tagesschau", sondern auch die Autoren der gerade mal dreiseitigen "Studie" darauf, die vermeintlichen Erkenntnisse in einen  erklärenden Zusammenhang zu stellen. Carolina Guzman Martinez, Alexandra Köbler und Oliver Koppe haben die Vornamen in der IW-Patentdatenbank zurück bis ins Jahr 1994 auf ihre Häufigkeit in Patentanträgen geprüft. Und aus den 45.000 Vornamen eine Landkarte der mutmaßlich wahrscheinlichen Herkunftsgebiete erstellt. 

Nicht gereicht hat die Kraft dazu, die daraus destillierten stolzen Prozentzahlen indischer, türkischer und osteuropäischer "Erfinderinnen und Erfinder" mit deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ins Verhältnis zu setzen. 14,2 Prozent "Erfinder mit ausländischen Wurzeln" (IW) klingt gut. Angesichts eines Anteils von 30,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, der auf einen Migrationshintergrund verweisen kann, wirkt die Innovationskraft der Nochnichtsolangehierlebenden ein wenig zu wenig beeindruckend, als dass er erwähnt werden könnte.

Erklärungen schaden nur 

Zu viel Vergleich, zu viel Einordnung und Erklärung schaden nur. Manchmal schadet sogar das kleinste bisschen Vergleich, Einordnung und Erklärung. Die wahre Macht einer jeden Vergleichsstatistik liegt darin, dass sie zwingend weggelassen werden muss, sobald sie die Glaubwürdigkeit einer frohen Botschaft zu beeinträchtigen droht. Eine Studie mit der Überschrift "Patente: Nur jede siebte Erfindung hierzulande von Zugewanderten" hat weder eine Chance, erstellt zu werden, noch eine, in der "Tagesschau"-Berichterstattung Berücksichtigung zu finden. 

In Hamburg, wo Meldungen gelegentlich auch aus eigenem Anbau erfunden werden, suchen sie nach Lichtblicken, Mutmachern und einer positiven Bestätigung all dessen, was die Redaktion immer schon gewusst hat. "Immer mehr Patente in Deutschland stammen von Menschen mit ausländischen Wurzeln, aber immer noch melden sie nur halb so viele an, wie nach ihrem Bevölkerungsanteil zu erwarten sein müsste", wäre umfassend, aber deprimierend.

"Immer wichtiger" 

Für die deutsche Wirtschaft würden Zugewanderte damit  zwar immer noch "immer wichtiger" werden können. Aber was brächte das? Die Wirtschaft weiß das von allein, die Falschen draußen im Land aber würden frohlocken. Türken erfinden weniger! Sogar noch weniger als Südeuropäer und Lateinamerikaner! Japaner nicht mal auf Platz 3! Inder, man kenntse. Aber am Ende eben doch: Die Deutschen ganz vorn, fleißigste Tüftler! Trotz alledem!

Niemand kann das wollen. Deshalb sind bei IW, DPA und "Tagesschau" ebenso wie in Dutzenden deutschen Tageszeitungen und auf hunderten von Internetseiten "Erfinder mit ausländischen Wurzeln  für einen wachsenden Teil der Patentanmeldungen in Deutschland verantwortlich". Nirgendwo aber steht auch nur ein versteckter Hinweis, dass der "wachsende Anteil" sich verdoppeln müsste, um so hoch zu sein wie der der nichtzugewanderten Patentanmelder.

Der große Merz-Plan: Das halbe Deutschland halb

Merz Klingbeil Millionen Palästinenser
Zwei im Wahlkampf für die AfD: Traumwandlerisch sicher sorgen Friedrich Merz und Lars Klingbeil dafür, dass die Blauen vor Lachen nicht mehr in den Schlaf kommen.

Langsam wird sie deutlich, die ganze Eleganz des großen Plans für Deutschland, dem Friedrich Merz vom ersten Tag an folgt. Jahrelang hat der Mann aus dem Münsterland daran geschmiedet, nachdem ihn Angela Merkel damals aus der Parteispitze geworfen hatte. Penibel bereitete Merz sich vor, er entwarf eine Strategie, eine Taktik, seine Prämissen. Er war fest entschlossen, zurückzukehren. In die erste Reihe. Und wie.

Als seine Stunde schlug, damals, als Armin Laschet grinste, war er da: Merz arbeitete seinen Fahrplan ab. Erst würde er die konservativen Seelen in seiner Partei streicheln und dem Volk einen Neuanfang versprechen. Ohne Ideologie, pragmatisch, auf Problemlösungen orientiert. In seiner langen, langen Auszeit hatte Merz eigens gelernt, alte Helmut-Kohl-Reden so vorzutragen, als entstammten sie seiner eigenen Feder. Such den Roman-Herzog-Rucksound hatte er sich draufgeschafft. 

Der Muss von tausend Jahren 

Niemand konnte wie Merz fordern, den Muff von tausend Jahren Ampel aus dem Land zu fegen. Merz war die Sonne im Wahlkampf, der Lichtblick, der die Schatten erhellte, die seit Jahren über Deutschland liegen. Schon bis zum Sommer, versprach er, wäre der Stimmungsumschwung im Sack. Der Rest? Ein Selbstläufer.

"Wenn ich erst im Kanzleramt sitze, wird sich selbst die SPD ihrer staatspolitischen Verantwortung stellen müssen", rief er den geschlossenen Veranstaltungen voller verzweifelter Mittelständler zu, in denen er die Wahlkämpfe früherer Tage simulierte. Der Niedergang ist vorbei. Der Umschwung nahe. 

Der Aufschwung nur eine Zeitfrage. Das, so sah es der große Plan vor, würde dann auch die AfD halbieren. Gerade noch rechtzeitig vor den nächsten Urnengängen im Osten, bei denen die kurzzeitig insgesamt als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD im Winter noch drohte, mehr als 20 Prozent der Stimmen zu holen. "Wir sind die letzte Patrone der Demokratie", rief Friedrich Merz. Und dass der eine Schuss, der noch im Lauf sei, treffen müssen.

Alleinregierung in Magdeburg 

Wen, was und wo? So genau gab der kommende Kanzler nie Auskunft. Etwas mehr als ein halbes Jahr ist er im Amt und neuen Umfragen zufolge hat die AfD in Sachsen-Anhalt inzwischen Aussicht auf 40 Prozent der Stimmen bei der Landtagswahl. Das würde bei einer für die eingespielte Demokratie ungünstigen Konstellation zur Alleinregierung in Magdeburg reichen. Geht es optimal aus, kann die CDU weiterregieren. Sie müsste dazu nur mit Linkspartei und SPD koalieren. 

In Mecklenburg-Vorpommern steht es nur wenig besser.  Umfragen sehen radikalisierte Rechtspartei auch hier klar als stärkste Kraft. Mit 38 Prozent liegt sie eine Größenordnung vor der regierenden SPD von Ministerpräsidentin Manuel Schwesig. 

Die war im September 2021 noch auf 39,6 Prozent gekommen und hat die Hälfte davon nun an die Truppe hinter der Brandmauer abgegeben. Auch im Süden des Westens kommt die Partei auf über 20 Prozent. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, im Saarland, Hessen und Niedersachsen legt sie zweistellig zu. 

Jammern und Wehklagen 

Großes Jammern und Wehklagen  ist nicht zu hören, jedenfalls nicht aus Berlin. Friedrich Merz moderiert Nachfragen ab, indem er die Situation zu einem Bestandteil seiner Strategie erklärt. Ein wenig durchhalten noch, bis die E-Auto-Prämie, die Umbenennung des Bürgergeldes, die Migrationswende, die Aktivrente und die im Sommer um 5,4 Prozent erhöhten Diäten für Bundestagsabgeordnete in der Fläche ihre Wirkung zeigen.

Merz' Stammwähler hält das bei der Stange. Die Union hält sich stabil in der Mitte der 20er Prozente. Viel schlechter als die 28,6 Prozent vom Tag der Bundestagswahl ist das nicht. Die SPD etwa hatte sich acht Monate nach ihrem überraschenden Wahlsieg 2021 schon mehr als ein Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler abspenstig gemacht. So schlecht sähe es also gar nicht aus, würde nicht langsam deutlich, dass Merz' Plan nie weiter reichte als bis zum Einzugstermin im Kanzleramt. 

Außenstürmer statt Innenpolitik 

Die ersten paar ratlosen Wochen schaffte es der 69-Jährige noch, jede Menge Auswärtstermine vorzuschieben, um die eigene Ratlosigkeit zu tarnen. Die Welt war sein Feld. Die Ukraine brauchte seine Hilfe, der Nahe Osten seinen Rückhalt, Amerika seinen guten Rat. Kurz vor dem Stimmungsumschwungsommer kam ihm der große Kulturkampf um Karlsruhe zu Hilfe.  Während die Wirtschaft immer tiefer in die Krise schlitterte, schaute das Land fasziniert zu, wie sich die Koalitionskollegen mit großer Leidenschaft um Dinge stritten, die frühere Generationen still und heimlich auf der Besetzungscouch im Hinterzimmer abgehandelt hatten. 

Dann war auch schon Ferienzeit und Friedrich Merz nutzte "die verkürzte Sommerpause zu einem verkürzten Urlaub, den er mit seiner Ehefrau Charlotte privat" an einem unbekannten Ort verbrachte, wie das Kanzleramt mitteilte. Die Arbeit nahm er mit: "Der Bundeskanzler ist immer im Dienst, immer erreichbar und er wird die Sommerpause für eine intensive Vorbereitung der Themen des zweiten Halbjahres nutzen", erfuhr das Volk, der große Lümmel, der voller Langmut nicht murrte und kaum meckerte. Sondern erwartungsfroh dem Moment entgegenfieberte, in dem Merz wie Moses mit den Tontafeln aus Unbekannt zurückkehren und den weiteren Gang der Dinge ansagen würde.

Der Gipfelkanzler 

Als er kam, wusste er nicht mehr weiter. Die Koalitionsgipfel, die Industriegipfel, die Krisengipfel, die Nahost-Gipfel, die Natogipfel und die EU-Gipfel, sie alle addierten Nichts zu einer Null und sie multiplizierten die Lähmungserscheinungen des Landes mit denen der Leyen-Prediger in Brüssel. Nicht einmal Merz' Einkehr bei "Caren Misoga", auf genau dem Sendeplatz, den Angela Merkel immer genutzt hatte, um ihre Politik noch besser zu erklären, wendete das Blatt. Ganz kurz nur zuckten die Zustimmungswerte nach oben. Ein klassischer Dead Cat Bounce. 

Auch Merz wirkte nun zunehmend mürbe und mutlos. Heraus kam Verzweiflung, die sich einem für Münsterländer fast schon vulkanischen Ausbruch einen Weg in die Öffentlichkeit suchte: "Es ist einfach zu viel, wir ersticken in Bürokratie", stöhnte der gefesselte Riese (1,98 Meter) Merz Richtung EU-Kommission und er flehte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen förmlich an, die Bürokratie zurückzubauen. Eine inständige Bitte also war aus der Initiative des damaligen Oppositionsführers geworden, sofort nach Amtsantritt eine zackige "Zeitenwende in Brüssel" einzuleiten. 

Weiter und weiter und weiter 

Damals, ja damals war er noch davon ausgegangen, dass die Dinge von selbst fügen, wenn erst einmal ein frischer Wind im Kanzleramt weht. Auch die längste Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg geht einmal zu Ende, je länger sie dauert, desto schneller. So war das jedenfalls früher, als Politiker noch lieber das halbe Deutschland ganz nahmen als das ganze halb. 

Friedrich Merz aber hat gemeinsam mit seinem Vizekanzler ein untrügliches Gefühl dafür entwickelt, wie sich die Umfragewerte der blauen Konkurrenz von Tag zu Tag und von Woche zu Wochen mit ganz kleinen, aber wirksamen Äußerungen, Entscheidungen und Maßnahmen weiter und weiter hochtreiben lassen. Der Halbierer steht womöglich schon in einem Jahr da und er hat, was noch keiner seiner Vorgänger regieren durfte. Das halbe Deutschland halb. 

Mittwoch, 15. Oktober 2025

Mario Sixtus: Sein letzter Burger

Mario Sixtus Visum USA Burger
Mario Sixtus gilt im Netz als mystische Figur, unsichtbar und allgegenwärtig zugleich. Jetzt stellt sich heraus: Der Mann existiert wirklich und ungeachtet seines leidenschaftlichen Antiamerikanismus besaß  er bislang ein US-Visum.

Er war schon radikal, als links noch nicht der Schick einer ganzen Ära war. Er plädierte mutig dafür, die Grundrechte je nach Gesamtlage zu gewähren. Und er war sich nie zu schade, seinen Forderungen auch mit Gossen- und Fäkalsprache, persönlichen Beleidigungen Andersdenkender und unter Zuhilfenahme von Fake News Gehör zu verschaffen.  

In seinen großen Tagen als "Internetaktivist" schaffte es Mario Sixtus so, eine Figur von öffentlichem Interesse darzustellen. Er beschallte große Räume beim damaligen Twitter. Er saß als Experte für Allerlei im Gemeinsinnfunk. Er schrieb für die großen Blätter auf, was die gern hören wollten. Und für das ZDF drehte er Dokumentationen, die seinen Glauben vom Lauf der Welt in Bilder übersetzten, wie sie sie in Mainz im Kopf haben, wenn sie ans Internet denken.

Der totalitäre Aktivist 

Dass Sixtus, der Name klingt erfunden, soll aber echt sein, in seinen privaten Ansichten ganz, ganz weit am Rande dessen lebt, was hierzulande als gerade noch nicht verfassungswidrig gilt, störte beim Zweiten Deutschen Fernsehen niemanden.  "Krise ausrufen, Krisenregierung einberufen, die allein das Ziel hat, diese Krise zu lösen", hatte der "Elektrische Reporter" schon gefordert, als noch niemand von Pandemie sprach. Sixtus war damit ein Pionier der Kommandodemokratie, die in der Coronazeit Realität wurde: "Alles andere ist nachrangig, inklusive privatem Eigentum und persönlichen Lebensplanungen", lautet der Vorschlag des "Netzaktivisten", der damit allerdings seiner erträumten Ökodiktatur das Wort redete, die keine Gefangenen macht.

Grundgesetz? Weg damit! Grundrechte? Aus Sixtus' Sicht war 2019 schon Klimanotstand, gegen den getan werden musste, was vielleicht nicht nützt, aber doch zeigt, dass der gute Wille da ist. Der Preis, allen alles zu nehmen, war von seiner Warte aus betrachtet angemessen. Menschen, die von einem eigenen Einfamilienhaus träumen, arbeitete er heraus, sind anfällig für einen "Pakt mit den Faschisten", weil die ihnen versprechen, "noch viel mehr klimagiftige Einfamilienhäuser ins Nichts zu kotzen, deren Bewohner*innen dann mit steuergeldfinanzierter Pendlerpauschale die Klimakrise noch weiter anheizen". 

Der König des Blockierens 

Auf Widerworte reagierte der Mann aus Ratingen konsequent: Er antwortete pampig und persönlich beleidigend. Er blockierte, bis ihn Beobachter zum König des Blockens ausriefen - als erster Mensch weltweit, hieß es, habe es Sixtus geschafft, mehr als 97 Prozent der Erdbevölkerung von Lektüre und Kommentierung seiner Einlassungen auszuschließen.

Aber auch das reichte nicht. Immer noch verschafften sich Fremde Zugang. Immer noch schmuggelten sie Bildschirmfotos von Sixtus' antisemitischen, die Grundrechte verhöhnenden und die Hitlerdiktatur verharmlosenden  Einträgen in die Öffentlichkeit. Als Elon Musk Twitter übernahm und die Grenzen der Meinungsfreiheit wieder weiter zog, pestete der Mitgründer des SPD-Vereins "D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt" noch eine kurze Zeit gegen den Verlust der Meinungshoheit an. Dann verschwand er sang- und klaglos in die Unsichtbarkeit eines Paralleluniversums namens Bluesky, wo er seitdem unter Gleichgesinnten Selbstgespräche führt. 

Ein bösartiger Polterer 

Nicht völlig unbeobachtet freilich, denn die Fangemeinde des bösartigen Polterers, der die Bedrohung der Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Elon Musk mit einem seiner rituellen Hitler-Vergleiche angeprangert hatte, ist auch außerhalb der ideologischen Reinsträume groß. Immer wieder drangen ausgesucht totalitäre, freiheitsfeindliche und herabwürdigende Tagebucheinträge des eingeschworenen Feindes freier Berichterstattung und einer funktionierenden Landesverteidigung ins Freie.

So auch der, der den "Barbaren an der Tastatur" (Sixtus) jetzt sein Visum für die Vereinigten Staaten kostet: "Wenn Faschisten sterben, jammern Demokraten nicht", hatte der in Fachmagazinen immer noch als Filmemacher, Moderator, Journalist und nicht zuletzt reichweitenstarker Twitterer beworbene ZDF-Autor Mario Sixtus nach dem Mord am US-Influencer Charlie Kirk zusammengefasst, wie die Dinge aus Sicht des ordentlichen Klassenkämpfers liegen. Für Sixtus war Kirk ein Faschist, wie jeder, der nicht an dieselben Verschwörungstheorien glaubt wie der Klassenkämpfer, der zuletzt mit "Picknick auf der Autobahn" ein Buch vorgelegt hatte, das er zusammen mit Katja Diehl verfasste, Deutschland bekanntester und beflissenster Bekämpferin des Individualverkehrs

Ausländer raus 

Womit der 60-Jährige sicher nicht rechnete: Bis in die USA, nach Washington und ins Weiße Hause wurde sein höhnischer und gehässiger Eintrag zum Attentat an Charlie Kirk gelesen. Und dort sitzen mittlerweile Leute, die das Konzept der akzeptierenden Sozialarbeit im Umgang mit beinharten Ideologen ablehnen. "Die Vereinigten Staaten sind nicht verpflichtet, Ausländer aufzunehmen, die Amerikanern den Tod wünschen", teilte das US-Außenministerium mit, ohne Sixtus' Namen zu nennen. Seine bösartige Kirk-Notiz allerdings wurde zitiert, als "Beispiel für "aliens who are no longer welcome in the U.S." Der Blockierkönig wird geblockt. Doch wenn ein erklärter Pöbler sein US-Visum verliert, jammern Menschen mit Anstand nicht.

Sixtus, dem das ZDF seinen "kaltem Hass auf alle Tarnanzüge" ebenso nachgesehen hatte wie seine Aufrufe, Mitarbeiter des Springer-Verlages auszugrenzen, verliert damit allerdings nichts, was er nicht entbehren kann. Für den erklärten Fortschrittsskeptiker, der in seinem aktuellen Film "KI: Der Tod des Internets" seiner Leidenschaft für düstere Zukunftsprophezeiungen und Weltuntergangsszenarien frönt, sind die USA unter Donald Trump das Reich des Bösen. Ein Staat, wie er schlimmer nicht sein könnte. Sixtus weiß das, denn er für seine Gemeinde aus Gläubigen ist er ein anerkannter Kenner der amerikanischen Verhältnisse. Kurz vor Trumps Wahl im letzten Jahr hatte er sich auch noch einmal ausdrücklich festgelegt: "Trump hat keine Chance gegen Kamala Harris." 

Diese Expertise, sie wird schmerzlich vermisst werden. 

Bundeswehr: Auf Los gehts los

Marschieren und Schießen lernen: Dazu bietet die Bundeswehr den Angehörigen der Generation Z in Kürze kostenlose Sechsmonatslehrgänge an.

Sie sind viel zu wenige, aber zugleich viel zu viele. Die kommende Wehrpflicht, freiwillig unter Wahrung des Bürgerrechts auf Verweigerung bis zur Ausrufung des Spannungsfalls, stellt Union und SPD vor beinahe unlösbare Probleme. Die Quantennatur der Bevölkerungsstruktur wirft Fragen auf, denen der Bundesgesetzgeber mit einfachen Mitteln nicht beikommen kann.

Soll Deutschland künftige Armee die stärkste Europas werden, wie es der Kanzler seinen Wählerinnen und Wählern in die Hand versprochen hat, braucht sie deutlich mehr Menschenmaterial als heute. 370.000 Männer in Uniform mindestens, von 500.000 sogar träumt der Verteidigungsminister, der als beliebtester Politiker des Landes das letzte Wort auch über vor langer Zeit geschlossene völkerrechtlich bindende Verträge hat. 

Zu hoch und zu tief 

Doch beide Zahlen sind zweierlei zugleich: Zu hoch, um die Truppe nur mit Freiwilligen aufzufüllen. Und zu niedrig, um alle Angehörigen der gerade wehrfähigen Generation Z in den Genuss einer kostenlosen Ausbildung an der Waffe, auf der Sturmbahn und im Kommandobunker kommen zu lassen. Selbst wenn die Fachberater der einschlägigen NGOs fleißig sind und die ihnen vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel optimal nutzen, droht die vom Bund finanzierte Bundeswehrwerbung im schlimmsten Fall mehr Wehrwillige anzulocken, als der Restbestand an Kasernen zu fassen vermag.

So lange der dritte Weltkrieg zwar bereits begonnen, aber noch nicht angefangen hat, fehlt ein wirksamer Mechanismus, mit dem sich das Überangebot an Wehrfähigen und das Unterangebot von Wehrwilligen wirksam austarieren lassen. Selbst wenn es bei der verfassungsrechtlich bedenklichen Beschränkung der Wehrpflicht auf männlich gelesene Rekruten bleibt, stehen mehr als 320.000 junge Männer bereit, die nur noch zu schaffenden 100.000 Plätze für Wehrdienstleistende zu füllen. 

Ein Stuhltanz um jede Stelle, auf die formal jeder Anspruch hätte, der die Aufforderung bekommen hat, sich zur Prüfung seiner Feld- und Fronttauglichkeit mustern zu lassen. Als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, diente das als Begründung: Ohne Wehrgerechtigkeit sei keine Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. IN Zeiten, in denen der Bundesnachrichtendienst (BND) schon das Risiko einer "zeitnahen Eskalation" mit  Russland sieht, eine Katastrophe. 

"Wir dürfen uns nicht zurücklehnen in der Annahme, ein möglicher russischer Angriff käme frühestens 2029", hat BND-Chef Martin Jäger eben erst gewarnt. Bis dahin wird es ohnehin knapp mit dem Aufbau eines neuen Reservistenstocks. Aber "wir stehen schon heute im Feuer", warnte Jäger Abgeordnete im Bundestag vor der weiteren Verschiebung einer - wenigstens - freiwilligen Wehrpflicht.

Großstadtjugend will dienen 

Die Politik steht vor einer Entscheidung, die immer ungerecht sein wird, gerade weil sich Wehrwilligkeit angesichts der russischen Bedrohung heute nicht mehr nur in den traditionellen Kreisen der nach ewiggestrigen Werten erzogenen Landbevölkerung findet. Es sind  längst auch progressive Großstädter mit grünem und linkem Hintergrund, die bereit sind, fürs Vaterland zu sterben, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Sie ausgrenzen? Unmöglich, auch ihr Kampfwert womöglich bescheiden sein wird. Die anderen aber, die eher aus dem Handwerker- und Facharbeitermilieu kommenden Rekruten, werden wirklich gebraucht. Auf sie kann die Bundeswehr nicht verzichten.

Union und deutsche Sozialdemokratie haben lange gestritten, sogar eine erste Lesing des neuen Wehrpflichtgesetzes wurde eigens verschoben, um eine zukunftstaugliche Lösung zu finden. Nun soll ein Losverfahren entscheiden, wer das Ehrenkleid anziehen und einrücken darf. Und wer das Pech hat, außen vor zu bleiben. Vorbild sind wie so oft die Vereinigten Staaten. Dort wurde auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges die "War Draft Lottery" ausgespielt: Angestellte des Selective Service System zogen die Geburtsdaten von jungen Männern, die zum Militärdienst antreten durften. 

Vorbild Vereinigte Staaten 

Die Ziehung wurde live im Radio übertragen. Ein echter Straßenfeger, denn es ging für alle um pure Überleben. 366 Kugeln in einer Glasschüssel, eine für jeden Tag des Jahres, entschieden, wer ins ferne Vietnam geschickt wurde und wer daheim blieben durfte.  Gerechter geht es nicht, hatte die US-Regierung bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg befunden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die besseren Kreise ihre Sprösslinge recht gut vor dem Wehrdienst zu bewahren wussten. Die Lotterie sorgte für soziale Gleichheit bei der Einberufung. Und damit auch für gleiche Chancen auf den Heldentod, unabhängig von Herkunft, Vermögen und Ausbildung.

Für Verteidigungsminister Boris Pistorius, der es bei der Bundeswehr selbst bis zum Gefreiten brachte, ein Glückstreffer, der verspricht, das bisher geplante Auswahlverfahren  gerecht abzurunden. In der ersten Runde würden alle männlich gelesenen  Teenager eine Einladung zur Musterung erhalten. So lange ausreichend viele von ihnen  zum kostenlos angebotenen Beschautermin erscheinen, dürften die, die sich aus Gewissensgründen nicht mehr dem Gedanken anfreunden können, die Heimat mit der Waffe zu verteidigen, daheim bleiben. Erst wenn die Zahl der Freiwilligen nicht ausreicht, die Lücken in der Truppe aufzufüllen, müsste würde wie früher leichter Zwang angewendet, um den Pflichtcharakter des Ehrendienstes zu betonen. 

Wehrgerechtigkeit per Los 

Melden sich hingegen zu viele oder zu wenige junge Leute zum Dienst, würde die Lotterie entscheiden, wer eine Uniform anziehen darf - dann würden nach einem Bericht des aus SPD-Kreisen stets gut informierten Redaktionsnetzwerks Deutschland allerdings auch junge Männer gegen ihren Willen zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet. 

Das sei nötig, um Wehrgerechtigkeit zu schaffen, weil sich der Wehrdienst weder verkürzen noch verlängern lasse. Sechs Monate seien nötig, um den Neuligen grundlegende Fähigkeiten wie das Marschieren im Verband, Waffenputzen, Schießen und Stubenpflege beizubringen. Eine kürzere Ausbildung erfülle nicht die Kriterien, die eine hochtechnisierte Armee wie die Bundeswehr an die Fähigkeiten ihrer Soldaten stelle. Dadurch werde die Zahl der Ausbildungsplätze auf absehbare Zeit begrenzt bleiben.

Offenbar planen die Koalitionsparteien deshalb eine direkt vor die ARD-Sendung "Lotto am Sonntag" geschaltete Show, bei der Prominente mit Wehrerfahrung aus den verpflichtend zurückgesandten Fragebögen Kandidaten auszulosen, die nach fachärztlicher Feststellung ihrer Tauglichkeit zu einem mindestens sechsmonatigen Wehrdienst verpflichtet sind.

Anders gehe es nicht, heißt es in Koalitionskreisen. Wegen des Überangebots an jungen Männern, die prinzipiell für den Dienst an der Waffe infrage kämen, und der unzureichenden Anzahl an Ausbildungsplätzen bei der Bundeswehr lasse sich der Vorwurf der Wehrwillkür nur über ein offenes und transparentes Auswahlverfahren ausschließen. Erfassung und grundsätzliche Verpflichtung eines kompletten Jahrgangs blieben, die Berufung zum Dienst aber orientiere sich am jeweils aktuellen Personalbedarf der Bundeswehr. 

Sonntagabend ist Ziehung 

Eine offizielle Bestätigung für das Vorhaben, eine Wehrlotterie unter dem Namen "Soldatenziehung" als Ergänzung zu "Spiel 77", "Glücksspirale" und "6 aus 49" einzuführen, konnte das RND weder von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD noch von der Bundesregierung erhalten. Angesichts der Uneinigkeit in der Koalition über die Frage, wie Freiwilligkeit, verpflichtende Elemente und die vom Grundgesetz garantierte Möglichkeit der Totalverweigerung kombiniert werden könnten, ist der Einbau einer sogenannten Zufallskomponente aber wohl unumgänglich. 

Allerdings gilt das wohl nur in der Phase des Aufbaus von Abschreckungspotential gegen Russlands Expansionsgelüste. Wie später vorgegangen wird, wenn sich angesichts der ersten Frontberichte nicht mehr genügend Freiwillige oder aber die Bundeswehr deutlich mehr Ersatzpersonal für ihre Truppen benötigt, steht nach RND-Angaben nicht im schon vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung.

Zurück in den Normalmodus 

Der Streit ist zurück in der kleinsten Großen Koalition aller Zeiten, nur wenige Tage nach der letzten großen Einigung beim Zusammenraufen um die wegweisende E-Autoprämie und dem Zank um den neuen Namen für das Bürgergeld. Pistorius möchte freiwilligen Zwang, Jens Spahn zur Not auch erzwungene Freiwilligkeit. Beide glauben, dass die Mehrheit der Bürger hinter ihnen steht und einen Sieg in der Frage Losverfahren oder Zufallsprinzip im kommenden Jahr bereits bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg honorieren wird.

Die wöchentliche "Soldatenziehung", nach Vorstellungen der CDU von Günther Jauch und Ina Müller als Gastgeber geleitet, würde aus Sicht von Medienpsychologen durchaus in die Zeit passen. "In Europa herrscht bestenfalls ein eisiger Friede, der punktuell jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen kann", sagt Hans Achtelbuscher, einer der besten Beobachter der veränderten Seelenlage der Nation. 

Verpönte Fähigkeiten 

Früher lange verpönt Dinge wie Fähigkeiten im Umgang mit Waffen, Bereitschaft zur Verteidigung der Heimat oder auch die Anerkennung eines Begriffes wie "Nation" seien auf dem Vormarsch. Eine wöchentliche Wehrshow im Ersten, spannend und mit unterhaltenden Elementen, könne eine wichtige Funktion beim Ausbau der Resilienz des Hinterlandes der zukünftigen Front übernehmen. 

"Wir müssen uns auf weitere Lageverschärfungen vorbereiten", warnt Achtelbuscher, "wenn unsere jungen Kämpfer einmal in der Woche zur besten Sendezeit im Fernsehen Präsenz zeigen, rückt das Russlands Anstrengungen, die Nato zu unterminieren, europäische Demokratien zu destabilisieren, Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern, in die öffentliche Wahrnehmung, glaubt der Chef des An-Institutes für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder. 

Wenn die Regierung in Moskau auf  auf die Manipulation von Wahlen und öffentlicher Meinung, Propaganda, Provokation, Desinformation, Einschüchterung, Spionage, Sabotage, Luftraumverletzungen durch Drohnen und Kampfflugzeuge, Auftragsmorde und die Verfolgung im Ausland lebender Oppositioneller setze, sei eine solche Verlosung der einerseits knappen, andererseits nicht zureichend besetzbaren Plätze in Heer, Marine und bei Luftwaffe und Weltraumtruppe ein probates Mittel, Volk und Bevölkerung zu signalisieren, wie ernst die Lage ist.

Dienstag, 14. Oktober 2025

Der fürchterliche Friede: Tiefpunkt einer dunklen Ära

Frieden Gaza nur Mänenr Ägypten Gipfel

Er flog über den Strand und ließ sich feiern, er trat in der Knesset auf, als sei er dort daheim, und er startete anschließend nach Ägypten, um sich mit anderen absolutistischen Herrschern an einen Tisch zu setzen. Als sei es selbstverständlich, dass Demokraten mit düsteren Potentaten zusammentreffen.  

Kein kritisches Wort wegen der dauernden Verletzung der Menschenrechte richtete der Präsident der größten Demokratie der Welt an den Türken, der die Opposition in seinem Land von Polizei und Justiz bekämpfen lässt. Der Ägypter, der mit Hilfe eines Militärputschs zu seinem Amt kam und seitdem autokratisch regiert, durfte sich als Demokrat inszenieren. Und selbst Katar, bis zur Unterzeichnung der ersten Gaslieferverträge mit Robert Habeck ein Staatsgebilde wie es der Hölle nicht verblüffender gleichen konnte, saß auf dem Podium, als habe es nicht jahrelang dafür gesorgt, dass die Hamas ihren Terror nicht aus leeren Taschen bestreiten muss.

Plätze in der zweiten Reihe 

Für die wahren Freunde Amerikas hatte Donald bei seinem Besuch in Israel nur Plätze in der zweiten Reihe reservieren lassen. Der US-Präsident, bei seinen Verbündeten vom ersten Tag mehr gefürchtet als bei seinen Feinden, braucht Deutschland, Frankreich und den Rest Europas nur noch, um die in Kürze eintreffenden ersten Rechnungen für seinen Friedensschluss im  Nahen Osten zu bezahlen. Den Waffenstillstand bekommen die Europäer noch kostenlos, den Wiederaufbau des Gazastreifens aber werden sie schultern müssen. Trump zeigt damit erneut, was er von der einstigen Partnerschaft mit den Demokratien in Übersee hält. Wie schon im Falle der Ukraine sollen sie aus seiner Sicht selbst für ihre Sicherheit sorgen und ihren Hinterhof am Mittelmeer unter Kontrolle halten. 

Er, das hat der Präsident in seiner Rede vor der Knesset deutlich gemacht, schiebe  Lösungen nur an, habe aber andere, viel wichtigere Baustellen zu betreuen, als dass er sich um jedes Detail kümmern könne. Wer aber dann? Der Franzose Macron ist angeschossen, er steht vor dem Ende einer langen Dienstzeit. Die Italienerin Meloni gilt als Trump-Freundin, in den verbliebenen demokratischen EU-Staaten aber ebenso als Faschistin wie der bei Trump beliebte Ungar Orban als Faschist. Friedrich Merz, ein Bundeskanzler, der das Außenpolitische vom ersten Tag zur Chefsache machte, ist hingegen weltweit weitgehend unbekannt. 

Europa in der Bredouille 

Donald Trump schafft es so ein weiteres Mal, Europa in die Bredouille zu bringen. Mit der Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege hat sich der US-Präsident schon in Israel vermeintlichen Problemen mit China und dem Iran zugewendet, um zu demonstrieren, dass er seine Aufgabe für erfüllt hält. Für den Nahost-Wissenschaftler Rasim Kalehl, der am An-Institut für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder zu Fragen der Basarökonomie forscht, ist das typisch Trump. "Er kam, sah, siegte, ließ sich feiern und verschwand", sagt der Orientologe, der sich unter Leitung von Prof. Hans Achtelbuscher seit Jahren mit einer Strukturreform öffentlicher Debatten befasst.

Im Interview mit PPQ erläutert Kalehl, weshalb er den neuen Frieden im Nahen Osten für einen Fehler hält und wie es Europa gelingen kann, den von Trump organisierten Tiefpunkt einer dunklen Ära zu verlassen.

PPQ: Es waren hübsche Bilder, die da aus Ägypten kamen. Fröhliche Männer, frohe Botschaften. Friedensverträge und freie Geiseln. Was lässt sich dagegen sagen?


Kalehl: Eine ganze Menge. Wenn Sie sich die Bilder anschauen, zeigen keineswegs, was wir im ersten Moment zu sehen glauben. Sie zelebrieren vielmehr den Sieg der Autokraten mit den blutigen Händen über die Demokratien in der Welt. Dass es die USA, Ägypten, Katar und die Türkei waren, die bei der Zeremonie in Sharm al-Sheikh eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet haben, die den Waffenstillstand bekräftigen soll, ist doch kein Zufall. Das sind Staaten, die regiert werden, wie es sich rechtsextremistische Kreise etwa bei der AfD erträumen. Starke Führung, autoritäres Denken, populistische Versprechen wie hier das eines Friedensschlusses. 

PPQ: Kommt es aber nicht vor allem auf das Ergebnis an? 

Kalehl: Das mag uns im ersten Augenblick zu erscheinen. Und das ist es ja, was Leute wie Trump, Erdogan oder andere Despoten sich als Gewand der Populistik überstreifen. Doch schauen Sie genau hin: Sie sehen unmittelbar einen ganzen Schwung an Männern, überwiegend alt, mehr oder weniger weiß, durchweg mächtig und kaum demokratisch kontrolliert. Frauen dagegen? Ja, die, die zu sehen sind, servieren Getränken oder sie bringen Unterlagen zur Unterschrift. Im Jahr 2025 ist das ein Ausdruck von Regression, der uns zu denken geben sollte. Die Hälfte der Menschheit sitzt da nicht mit am Tisch!

PPQ: Kritische  Stimmen würden aber vielleicht sagen, als die deutsche Außenministerin  noch Annalena Baerbock hieß und der Friedensprozess im Nahen Osten aus Berlin geführt wurde, tat sich nichts, obwohl Baerbock eine Frau ist?

Kalehl: Diese Rhetorik folgt einem durchschaubaren Muster: Probleme vereinfachen, Gegner delegitimieren, sich selbst glorifizieren. Das ist die Logik der Menschenfeinde, die es nur darauf angelegt haben, die politische Kultur zu zerstören. Sie behaupten, sie hätten Lösungen, und wie hier im Fall von Israels Vorgehen gegen die Palästinenser simulieren sie sogar einen Friedensschluss. Aber nur, um echte Lösungen zu verhindern, die Zeit brauchen, viel Geduld und Kompromisse von allen. 

PPQ: Provokativ gefragt: Ist es nicht gleichgültig, wie ein Friede zustande kommt? Und wer ihn organisiert? Hauptsache, das Sterben hört auf, oder?

Kalehl: Das ist eine kurzsichtige Sichtweise. Wie Alexander Haig, der frühere NATO-Oberbefehlshaber in Europa, einmal gesagt hat, gibt es Wichtigeres, als im Frieden zu sein. Frieden kann auch Unterwerfung bedeuten, Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn das Teil der Lösung eines Konflikts ist, dann leugnet diese Lösung die Komplexität, die jedem Interessenausgleich innewohnt. Frieden ist nie alles. Mit demselben Recht könnten Sie behaupten, dass es den Millionen Einwohnern von Gaza und dem Westjordanland schon immer besser ginge, würden sie von ihrer Absicht, Israel zu vernichten, zurücktreten und auch nicht mehr auf einem eigenen Staat bestehen, sondern Israel so  beitreten, wie es damals Ostdeutschland getan hat. 

PPQ: Wäre das denn aber wirklich so? 

Kalehl: Das würde niemand leugnen, aber es beträfe eben nur die wirtschaftliche Seite, die Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung und den Bildungssprung, der damit einhergehen würde. Gerade einfache Menschen aber spielen auch simple atavistische Emotionen wie Nationalgefühl, Gruppensolidarität und das Sichselbstfüretwasbessereshalten eine große Rolle. Da wird es immer brodeln, so lange nicht jeder bekommt, was er sich wünscht.

PPQ: Was hätten Sie sich von Donald Trump gewünscht? 

Kalehl: Dass er eine Spur von Demut zeigt, satt uns jede Facette seiner Selbstüberhöhung vorzuführen. So ein Mann, der sich permanent als unfehlbar darstellt, obwohl er es nicht einmal geschafft hat, in den Friedensprozess Frauen, queere oder trans Personen einzubinden, ist nicht nur peinlich – er ist gefährlich. Er merkt es nicht! Oder es ist ihm egal. Besonders erschreckend: Er findet dafür Applaus. Medien feiern ihn als Retter, Menschen verändern ihren Blick auf ihn, obwohl er nichts rettet. Er behauptet, Frieden bringen zu können, doch seine Sprache ist konfliktverstärkend. Sie kennt nur Gehorchen oder bestraft werden.

PPQ: Alle anderen Methoden haben doch aber versagt, musste es da nicht einmal so versucht werden? 

Kalehl: Sehen Sie, damit legitimieren wir Trumps Auftritt im israelischen Parlament – einen gefährlichen Tiefpunkt. Zwar ist es richtig, dass der Plan, nach dem jetzt verfahren wird, von Annalena Baerbock ausgearbeitet worden ist. Doch unter deutscher Regie wäre der Frieden nicht so überhastet hergestellt worden und es wäre unbedingt darauf geachtet worden, dass Israel erst mit den Kampfhandlungen aufhört, ehe die Hamas ihre Geiseln freigibt.

PPQ: Das Ergebnis zählt nicht?

Kalehl: Es zählt nicht nur das Ergebnis. Es ist ohne Zweifel so, dass die Lage im Nahen Osten selten so fragil war wie heute. Gerade die Hoffnungen, die Trump geweckt hat, können enttäuscht werden. Die Waffenruhe weckt weitergehende Erwartungen auf Entspannung und Diplomatie und Wiederaufbau. Sie nimmt aber auch der gesamten Pro-Palästina-Bewegung mit einem Schlag den Rückenwind aus den Segeln. Es wird, das darf man vielleicht schon sicher prognostizieren, keine dritte Sumud-Flotte geben, weil die Notwendigkeit nicht mehr gesehen wird. 

PPQ: Ist sie denn noch vorhanden?

Kalehl: Vieleicht mehr denn je. Nur wird das Thema durch die Trump-Agenda eben rasch aus der Mode geraten. Wir haben beim Klima gesehen, wie schnell das geht, wenn der Wind sich dreht. In genau in einem solchen Moment entscheidet sich, wer Verantwortung übernimmt – und wer sie missbraucht. 

PPQ: Wie sehen Sie die Rollen verteilt? 

Kalehl: Donald Trump hat Letzteres eindrucksvoll demonstriert. Sein menschenfeindlicher Auftritt im israelischen Parlament war kein Beitrag zum Frieden, sondern ein Spektakel der Selbstinszenierung. Er redete nicht über den Konflikt, er redete über sich. Keine Analyse, keine Empathie, keine Verantwortung – stattdessen Selbstlob, Großspurigkeit und das ewige Nur ich weiß, wie es geht". Trump agierte nicht wie ein Staatsmann, sondern wie ein Selbstdarsteller auf einer Bühne, der Applaus ist ihm sichtlich wichtiger  als Menschenleben. Während Zivilisten leiden, stilisiert er sich zum Heilsbringer. 

PPQ: Er wird doch aber dafür gefeiert, Leiden zu beenden?

Kalehl: Seine Worte waren nicht nur unpassend, sie waren respektlos gegenüber allen Betroffenen. Er ignorierte die Komplexität des Konflikts und ersetzte Diplomatie durch Parolen. Dieses ständige „Ich, ich, ich“ ist mehr als Eitelkeit – es ist politisch brandgefährlich. Obwohl in Deutschland die meisten Medien dankenswerterweise darauf verzichtet haben, ausführlich über Trumps Auftritt und den Inhalt seiner Ansprache zu berichten, bleibt doch bei vielen Menschen der Eindruck hängen, man habe sich vielleicht doch in Trump getäuscht, der sei gar nicht so schlimm und bewirke doch auch Gutes. Das ist kreuzgefährlich.

PPQ: Sie denken dabei an die deutsche Geschichte?

Kalehl: Ich sage nur Autobahn! Auch Hitler war ein Mann, der sich gern als überlegener Retter präsentierte, sich über Institutionen, internationale Regeln und demokratische Prozesse stellte und dafür geliebt wurde. Die Geschichte lehrt uns: Wer so spricht, sendet ein klares Signal: Er vertraut nicht auf Zusammenarbeit, sondern auf Macht. Er schürt Misstrauen gegen alles, was ihn begrenzen könnte. Das ist keine starke Führung – das ist autoritäres Denken im Gewand der Populistik.

PPQ: Ein Egomane, dessen Drang nach Anerkennung nun aber immerhin 20 Geiseln aus den Händen der Hamas befreit hat.

Kalehl: Aber zu welchem Preis? Schauen Sie sich um: Bisher war es in deutschland Konsens, dass wir es bei Trump mit einem gefährlichen Faschisten zu tun haben, dessen Ziel es ist, die älteste Demokratie der Welt in eine Nazi-Diktatur auf Basis der Bibel zu verwandeln, um seinen hyperreichen Tech-Freunden, die ihn aus dem Hintergrund im Auftrag von Russland lenken, einen Gefallen zu tun. Dieser Mann findet nun Applaus. Menschen feiern ihn als Retter, als Friedensengel und Weltpolizisten, der endlich für Ruhe sorgt. Doch das legitimiert Trumps Ignoranz gegenüber der Uno und den partnern in Europa. Es schwächt die Rolle der internationalen Gremien ganz allgemein und, was noch schlimmer ist, es poliert Trump ramponierten Ruf.

PPQ: Könnte es nicht aber auch sein, dass wir alle den 47. Präsidenten falsch eingeschätzt haben? Dass er all die Dinge, die er tut, tut, weil er überzeugt davon ist, dass das Richtige ist und notwendig?

Kalehl: Wer so denkt, ist ihm verfallen. Nein, dieser Mann wird im Zweifel eher eskalieren als deeskalieren. Er respektiert Demokratie nur inwosweit, als sie ihm nicht im Wege steht. Für Trump sind die Liebesgaben, die er den Überreichen geben will, wichtiger als gemeinsachaftliche Lösungen, die in ferner Zukunft liegen, am Ende langer Verhandlungsprozesse. Und genau darin liegt die Bedrohung. In einem Moment, in dem die Welt Diplomaten bräuchte, die den Friedenprozess in aller Ruhe und Stück für Stück bis zu einer Zweistaatenlösung aushandeln, tritt Trump auf wie ein Monarch. Er weist einfach an. Das erinnert an das Mittelalter.

PPQ: Ist aber erfolgreicher als die zuvor ausprobierten Strategien.

Kalehl: Dahinter steht aber nicht Einsicht, sondern ein übergroßes Ego. das will nicht Lösungen, sondern Loyalität erzwingen. Trumps Auftritt in Israel war ein Lehrstück dafür, wie persönlicher Narzissmus politische Verantwortung verdrängen kann, so dass Entscheidungen ganz plötzlich fallen und ohne deutsche oder europäische Beteiligung. Frieden braucht Geduld, Empathie und die Bereitschaft zum Zuhören. Trump steht für das Gegenteil. Und deshalb ist sein Erfolg – gerade in solch sensiblen Momenten – nicht nur störend, sondern eine reale Gefahr.

Enttäuschte Erwartungen: Trauer über Trumps Triumph

Immer wollen sie den nächsten Hitler erkannt haben. Und immer eine Blamage daraus.

Im Land, in dem sie Hitler immer als Erste erkennen, herrscht angesichts der großen Freude in Israel abgrundtiefe Trauer. Ausgerechnet dem Mann, den man im dringenden Verdacht hatte, den nächsten Weltkrieg auszulösen, ist es offenbar gelungen, wenigstens für den Moment ein Ende des gegenseitigen Schlachtens im Nahen Osten aushandeln zu lassen.  

In der Knesset statt vor Gericht 

Donald Trump steht nicht vor Gericht, wo er nach Ansicht einer Mehrheit der Deutschen und nahezu sämtlicher deutschen Medien von Rechts wegen hingehört hätte. Sondern vor der Knesset - die "Tagesschau" erläutert in einfacher Sprache "den israelischen Parlament". und er steht da nicht wie weiland Angela Merkel, dankbar, dass ihm diese hohe Ehre zuteil wird.

 Nein, er steht da als gefeierter Friedensbringer. Eine größere Beleidigung könnte es für deutsche Politiker, deutsche Kommentäter und deutsche Nahost-Experten nicht geben. 

Die Minen im Land, in dem viele gehofft hatten, dass die Hamas irgendwann noch schlimmer mit den Juden umspringt als Uropa, sind entsprechend süßsauer. Den ersten Hitler damals haben die Großväter und Großmütter nicht identifizieren können. Den zweiten nun wähnten die Enkel eindeutig enttarnt. 

Und jetzt stellt sich er "Irre", "Rassist" und "Wahnsinnige" (Spiegel) als der heraus, der einen Konflikt befriedet, den seine früherer Vorgänger Barack Obama eindämmt hatte, gegen die Belohnung mit dem Friedensnobelpreis. Den sein späterer Vorgänger Joe Biden aber mangels Erfolgsaussichten kaum mehr beachtete.

Wo Völker aufeinander schlagen 

Es ist nach Trumps Zählung sein siebter Friedensschluss. Nach Prüfrechnungen deutscher Faktenchecker  stimmt das nicht. Sie kommen auf einen, allenfalls zwei. Und alle, urteilten de deutschen Fachleute, waren sämtlichst gar keine richtigen Kriege, sondern gewissermaßen waffenklirrendes Rangeln zwischen Völkern, die seit Goethes Zeiten "hinten, weit, in der Türkei, aufeinander schlagen". Mögen es auch vier sein oder fünf, angesichts der Versprechungen, den Ukraine-Konflikt in 24 Stunden beizulegen, zählten sie ohnehin nicht. 

Israel aber ist eine  Hausnummer. Unter allen Unruheherden ist der im Nahen Osten der traditionsreichste. Seit die  Streitkräfte Ägyptens, Jordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak Israel am Tag der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates angriffen, sind 77 Jahre vergangen. Und in den meisten davon wurde Israel überfallen, beschossen oder mit Terror überzogen. 

Die Namen der arabischen Gegner wechselten. Ihre Methoden ebenso. Was blieb, war der Hass auf ein Nachbarland, das anders lebte, erfolgreich wirtschaftete und zwischendurch sogar eine Demokratie aufbaute und  dürren Weiden und Sümpfen in einen Hightech-Standort verwandelte.

Hilfe mit der "Freyburg" und der "Klosterfelde" 

Aus Staatsräson stand das offizielle Westdeutschland auf der Seite der Israelis, das inoffizielle Ostdeutschland aber unternahm alle Anstrengungen, den als "Befreiungskampf" bezeichneten Versuch der Nachkommen der Untertanen der Hohen Pforte in Konstantinopel mit Waffen und Munition zu befeuern.

 Für die DDR-Führung, den Warschauer Pakt und die Linke im Westen führten die Araber in Kanaan, Judäa und dem von den Römer auf den Namen "Palästina" getauften früheren britischen Mandatsgebiet denselben Kampf wie der Warschauer Pakt, die Kubaner, Vietnamesen und Angolaner. 

Es muss etwas Romantisches für die alten Männer im SED-Politbüro gehabt haben, als sie in der Geheimaktion "Freundschaft" harmlose Frachtschiffe mit den Namen "Freyburg" und "Klosterfelde" auf große Fahrt schickten, um Israels eingeschworene Feinde mit hunderttausenden Kalaschnikow-Maschinenpistolen, 120 Jagdflugzeuge und einem halben hundert schwerer Panzer zu versorgen. 

Juden als Henker 

Für die Genossen ist die Linie zum Feind klar gezogen: Israel ist der Staat, der eine "Nazi-Luftwaffe" betreibt. Die Bemühungen des Zwergstaates, die Ausrottungsversuche seiner Nachbarn zu überleben, beschrieb die staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN mit großer Empörung: "Die Juden – einst Opfer – wurden zu Henkern, und es scheint, als gingen die Zionisten jetzt auf die gleiche Weise vor wie einst die Nazis."

In der ARD, im ZDF, bei den großen Zeitungsredaktionen und bei den Magazinen hätte der Satz in den  zurückliegenden zwei, zwölf oder zwanzig Jahren jederzeit fallen können, ohne dass es weiter aufgefallen wäre. In einer finalen Version der Drehrumbum-Methode, bei der es immer der Jude ist, der mordet, und das immer grundlos und ohne Anlass, verwandelten ganze Kompanien aus Schreibtischtätern die Opfer des Massakers vom 7. Oktober in die wahren Täter. 

Geld und gute Worte 

Ging es nach den einfühlsamen Reportagen aus Hamburg, Frankfurt und Berlin, hatte nicht die Hamas schon zuvor tagtäglich Raketen auf Israel regnen lassen. Nein, die israelische Armee hatte sich auch nicht bereits 2005 aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, die dortigen Machthaben waren keine Terroristen, sondern die "Hamas-Verwaltung" und ihre Mörderbataillone bestanden aus "Aktivisten", "Milizionären" und "Kämpfern". 

Noch mehr zwei Jahre nach dem Mord an 1.200 Jüdinnen und Juden sprach die bekannte Moderator Dunja Hayali knirschend Klartext: Israel und die Hamas tauschten "Geiseln", sagte sie, für die kein Unterschied besteht zwischen Mördern und Terroristen, die von den Gerichten eines Rechtsstaates zu Haftstrafen verurteilt wurden. Und Unschuldigen, die eine Terrortruppe entführt hat, um ihre Forderungen durchzupressen. Erstere sind für die preisgekrönte Journalistin "ganz normale Palästinenser". Womit sie auch wieder recht hat.

Der DDR-Blick, der die vorderste Front der Schlacht um den Aufbau des Sozialismus irgendwo bei Jerusalem wähnte, war wieder da, oder wie weg. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, auch wenn ihm Blut von den Händen tropft. Wie gut das alles passte! Der israelische Präsident Benjamin Netanjahu war anfangs ein Rechtsextremer, dann wurde er zum Nazi und schließlich endete er als Hitler, amtlich bestätigt nicht nur von Recep Erdogan, sondern auch von Uno-Palästinenserbeauftragte Francesca Albanese

"Die palästinensische Sache"

Renommierte Forscher sahen die militärische Reaktion auf den Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppierungen in eine erneute dauerhafte Wiederbesetzung des Gazastreifens münden. Die Bundesregierung mahnte die einen und fütterte die zum Ausgleich die anderen. Die EU hielt es genauso, bemüht darum, ihre Sympathien für das, was die Besten unter den deutschen Berichterstattern hingebungsvoll "die palästinensische Sache" nennen, nicht offen zu zeigen.

Dass der Judenhass in Deutschland explosionsartig anstieg, seit als "pro-palästinensisch" umschriebene Hassdemonstranten sich Straßen und Plätze aneigneten, war erklärungswürdig, aber Zufall. Eine Koinzidenz, hieß es, seit keine Kausalität. In den Übergriffen, Anschlägen und Angriffen zeige sich das Erstarken der Nazi-AfD leider ausgerechnet in einer Zeit verständlicher Empörung über die Taten eines Staates, der es rundheraus ablehne, mit seinen erbitterten Feinden über deren Forderungen zu verhandeln. Das Wort Palästinenser oder Araber tauchte in kaum einem Report über eine Attacke auf einen Kippa-Träger oder ein israelisches Restaurant auf. 

Keine Solidarität mit Nazis 

Das Verständnis der Rollenverteidigung  sollte niemandem erschwert werden. "Aktivisten" gegen "Rechtsextreme". Ein rassistischer Siedlerstaat gegen arme Staatenlose, die nur überleben können, so lange ihr "weltgrößtes Freiluftgefängnis" (Mahmut Abbas) von außen versorgt wird. Erst als Gaza in Trümmern lag, verwandelte sich der Knast von zwei Millionen Menschen urplötzlich in einen Bildungsstandort höchster Exzellenz, der vom bösen Israel systematisch zerstört wurde, um der jungen Generation der Palästinenser die Möglichkeit zu nehmen, weiterhin als Forscher*nnen ihren Beitrag zum Fortschritt der Menschheit zu leisten.

Tapfere Journalisten stellten daraufhin die Frage, ob Deutschland denn mit einer "rechtsradikalen und ultranationalistischen israelischen Regierung" noch solidarisch sein dürfe. Denn um Himmels willen: Da sind doch "Extremisten an der Macht", im "Bündnis mit der rassistischen, gewaltbereiten und autoritären extremen Rechten". Dass sich Donald Trump demonstrativ an die Seite Jerusalems stellte, passte nur zu gut. Ein Nazi hilft dem anderen, so wurde die Geschichte erzählt. Und beide wollten sie natürlich alles, aber bestimmt keinen Frieden mit den Palästinensern.

Europa hatte andere Vorstellungen 

Während die Regierung in Washington sich mühte, die beiden Seiten mit Druck und Versprechungen zu einer Vereinbarung zu bringen, schoss Europa quer mit allem, was es noch hat. Frankreich und etliche andere EU-Staaten belohnten die Massaker vom 7. Oktober, indem sie dem ersehnten "Palästinenserstaat" der Terroristen ihre Anerkennung vor die Füße legten. Deutschland schnitt Israel von Waffenlieferungen ab. Ehe irgendetwas besser werden könne, müsse Israel aufhören, gegen die Hamas zu kämpfen, hieß es. Vorher brauche man gar nicht mit irgendetwas anfangen.

Als Trump jetzt in Israel verkündete, es werde keinen dritten Weltkrieg geben, konterten deutsche Experten damit, dass er bereit begonnen habe. Deutschland bangt, dass die eigenen Leute wenigstens diesmal recht behalten. Man tun, was man kann, wo es möglich ist. Friedrich Merz vermied es wie nahezu alle progressiven Politiker, Trump als Initiator und Organisator des neuerlichen Friedensversuches im Nahen Osten beim Namen zu nennen. 

Kanzler am Katzentisch 

Vom Katzentisch im ägyptischen Scharm El-Scheich ordnete der deutsche Kanzler umfassend ein. "Die ersten Schritte der Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas machen Mut". Wer sie gegangen war, blieb unklar. Ursprünglich, das hatte Annalena Baerbock bereits vor Tagen deutlich gemacht, wem die Welt die Friedensidee wirklich zu verdanken hat: Hätten Israel und die Hamas auf ihre Anweisung hin einem Vertrag zugestimmt, wäre die Welt wirklich in Ordnung.

So aber hat der Falsche das Richtige erreicht und die Richtigen bis auf die Knochen blamiert. Wäre es nach der EU gegangen, hätte sich Trumps Anlauf zum Friedensschluss zum Waterloo des US-Präsidenten verwandelt. Blamiert hätte Trump einpacken müssen. Europas Strategie der akzeptierenden Sozialarbeit hätte triumphiert, wenn auch um den Preis eines noch endlos weiterlaufenden Konfliktes. In Brüssel, Paris und Berlin wäre das vielen lieber gewesen, hätte es doch die eigenen Erwartungen nicht so entsetzlich enttäuscht.