Montag, 24. November 2025

Das alte Lied: Wer noch Lust hat, General zu werden

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Aristophanes Stück "Der Frieden" hat Jahrtausende bei guter Gesundheit überstanden.

Aristophanes wurde geboren, als die heute gültigen Kalender noch nicht benutzt werden konnten. Um das Jahr 448 vor Christus soll er zur Welt gekommen sein gewesen sein, als Sohn von Philippus in Kydathen in Athen, damals einer der griechischen Stadtstaaten, demokratisch regiert, von Sklaven aufgebaut und eine Führungsmacht im attischen Seebund. Aristophanes studierte ein Orchideenfach, er wollte Dramatiker werden und wurde es. Er schrieb seine Stücke erst anonym, wurde aber schnell berühmt und trat dann unter seinem eigenen Namen auf.

Mit Hohn und Spott 

Sein Trick war es, Zeitkritik in Hohn und Spott zu verkleiden. Wie ein früher Jan Böhmermann zielte in seinen Werken auf die Mächtigen, auf Entscheidungsträger und einfache Leute, die von der Norm abwichen. Seine spitze Feder war wegen ihrer satirischen Schärfe gefürchtet. Die drastischen Darstellungen in seinen Stücken ließen dem Publikum in Aufführungen seiner Texte das Lachen im Halse steckenbleiben. Er prangerte die "Schmausbrüder" und die "Babylonier" an, ließ sich böse über Bauern und Ritter aus, machte sich lustig über Reiche, Frösche und Störche.

Als Aristophanes an den Dionysien des Jahres 421 v. Chr. seinen "Eirene"  - zu Deutsch Frieden - aufführte, war er – trotz der im Stück selbst erwähnten Glatze – noch ein junger Mann von etwa 24 Jahren. Die Festspiele zu Ehren von Dionysos, dem Gott der Ekstase, wurden für den jungen Dichter zu einem Triumphzug. Aristophanes Wagnis, sich dem umstrittenen Thema des damals schon seit zehn Jahren laufenden Krieges Athens mit dem konkurrierenden Sparta zu widmen, zahlte sich aus. Schon im sechsten Jahr seiner Karriere wurde der Magier des Reims zum Star, weil er in seinem Stück Zweifel ausformulierte, die viele Athener beim Blick auf die Frontlage befallen hatten.

Mehr als der Krieg zweier Städte 

Der später als Peloponnesische Krieg aktenkundig gewordene Zwist zwischen dem von Athen geführten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund unter seiner Führungsmacht Sparta war mehr als der Krieg zweier Städte gegeneinander. Der Attische Seebund, nach den Perserkriegen 50 Jahre zuvor als freiwilliges Verteidigungsbündnis freier griechischer Städte gegründet, war im Laufe der Zeit zu einem reinen Macht- und Zwangsinstrument Athens geworden. 

Die Athener nutzen ihn, um ihre Vormachtstellung im Ägäischen Meers zu sichern und auszubauen. Die Hauptstadt des Bundes hatte sich mit langen Mauern bis nach Piräus gegen Bedrohungen gesichert. Aus dieser festen Position heraus strebte Athen nach uneingeschränkter Herrschaft.

Aufrufe zur Vernunft 

Doch der Peloponnesische Bund unter Führung Spartas stellte sich dem entgegen. Die "Lakedaimonier und ihre Mitkämpfer", wie sich Peloponneser nannten, fühlten sich von Athen bedroht. Anfangs konnte sich König Archidamos II. noch durchsetzen. Er rief zur Vernunft auf, vermochte aber nicht zu verhindern, dass die Kriegerpartei Athen bezichtigte, den dreißigjährigen Frieden von 446 v. Chr. gebrochen zu haben. 

Es folgte die förmliche Kriegserklärung, die zum Ausgangspunkt end- und fruchtloser Kämpfe wurde. Das reiche Athen litt. Es wurde belagert. Eine Seuche forderte zahllose Opfer. Aristophanes schrieb "Der Frieden" und er verspottete die Intellektuellen, die den Krieg für notwendig erklärten. Die Bürger, die ihn für gewinnbar hielten. Und die Mächtigen, die ihn schon allein deshalb fortzusetzen gedachten, um nicht eingestehen zu müssen, dass er vermeidbar gewesen wäre.

Ein schräges Stück 

Aristophanes wurde angezeigt und wegen Verleumdung angeklagt. Herrscher Kleon versuchte, ihm die Staatsbürgerschaft aberkennen zu lassen. Aristophanes blieb bei seinen Leisten und er schuf mit "Der Frieden" ein in der Form von heute aus gesehen schräges Stück, dessen Inhalt die Jahrtausende seit seiner Entstehung schadlos überstanden hat.

Aristophanes: Eirene ("Der Frieden") ab Vers 292 ff., gekürzt

TRYGAIOS (zum Chor)
An die Arbeit, Leute! Mit den Schaufeln geht hinein und schafft die Steine weg!

CHORFÜHRER (zu Hermes)
Zähl auf uns! Du aber, aller Götter weisester, übernimm als Fachmann hier vor Ort die Leitung! Du wirst gleich sehen: wir sind tüchtige Mitarbeiter.

TRYGAIOS (zu Hermes)
Komm rasch und halt die Schale hin! Wir wollen ein Gebet erschallen lassen – und dann frisch ans Werk!

HERMES
Opfer, Opfer! Auf die Knie und schweigt!

TRYGAIOS
Wir opfern betend, dass der heutige Tag für Griechenland der Anfang sei von reichem Segen, und dass, wer kräftig jetzt am Seil mitzieht, in Zukunft niemals mehr zu Felde ziehen muss!

CHOR
Dass er, bei Zeus, in Frieden leben kann mit einer hübschen Dirne und das Feuer schüren!

TRYGAIOS
Wer aber lieber Krieg als Frieden will …

CHOR
Soll jeden Tag, o Herr Dionysos, sich die Geschosse aus den Armen klauben!

TRYGAIOS
Und sollte einer, weil er Oberst werden will, es dir nicht gönnen, Herrin, hier ans Licht zu kommen …

CHOR
Soll ihm das Herz gleich in die Hosen fallen – wie Kleonymos!

TRYGAIOS
Ist einer Waffenfabrikant und Waffenschieber und wünscht sich Krieg für sein Geschäft …

CHOR
Dann soll er Terroristen in die Hände fallen und nichts bekommen außer Brot und Wasser!

TRYGAIOS
Und wer noch Lust hat, General zu werden, und wer als Sklave vorhat, blauzumachen und nicht hilft …

CHOR
Der werde aufs Rad geflochten, ausgepeitscht!

TRYGAIOS
Auf uns jedoch komm Segen! Schenk uns reiches Erbarmen!

CHOR
Lass doch das „Armen“ weg! Bete: schenk uns reiches Erben!

TRYGAIOS
Gut also: reiches Erben! Erben, sage ich! Von Hermes, von den Grazien, den Horen, Aphrodite und der Liebe – von Ares … Hau ruck ho!

CHORFÜHRER (zu Trygaios und Hermes)
Heda, ihr zwei, kommt, helft uns ziehen!

TRYGAIOS
Zieh ich denn nicht? Ich häng ja in den Seilen, leg mich rein und tue, was ich kann!

CHORFÜHRER
Warum denn kommen wir nicht weiter?

TRYGAIOS (zu einem Choreuten)
Herr Oberst Lamachos, das ist ja Obstruktion! Wir können’s auch ohne deine Fratze machen!

HERMES (auf eine andere Gruppe weisend)
Und das Argiverpack hat auch nicht mitgezogen; sie haben nur gelacht, als wir uns abgemüht – und als Neutrale gleich von beiden Seiten profitiert.

TRYGAIOS
Doch die Spartaner, unsre Feinde, ziehen tüchtig!

HERMES
Nur grad die Kriegsgefangenen möchten gern; doch die sind interniert und können nicht hinaus.

TRYGAIOS
Auch die Megarer sind uns keine Hilfe!

HERMES
Sie ziehen immerhin und zerren …

TRYGAIOS
Wie Straßenköter! Denn bei Zeus, sie sind ja halb verhungert.

CHORFÜHRER
So kommen wir nicht weiter. Einmütig müssen wir am gleichen Strick ziehn! Hau ruck!

CHOR
Hau ruck!(Alle ziehen gemeinsam)

CHORFÜHRER
Hau ruck, bei Zeus!

TRYGAIOS
Kein Wunder, denn die Hälfte zieht ja in der falschen Richtung! Argiver – das gibt Prügel! Hau ruck noch mal!

CHOR und CHORFÜHRER (durcheinander)
Hau ruck! Hau ruck! Jetzt alle!

TRYGAIOS (zu Eirene)
O Herrin, Traubenspenderin, wie soll ich dich anreden? Wo finde ich ein Tausendhektoliterwort für dich? Mir fehlt das Vermögen. (Zu den Begleiterinnen) Ich grüße dich, Opora, Fülle des Herbstes, und dich, Theoria, Freude der Feste! Wie schön ist dein Gesicht, wie süß dein Atem – der mir tief zu Herzen geht, so süß wie Demobilmachung und Parfüm!

HERMES
Das riecht ganz anders als der Militärtornister!

TRYGAIOS
Ja, das ist der schrecklichste der Schrecken: die Notration im Kriegeswahn! Denn diese riecht nach sauren Zwiebelrülpsern, sie aber hier nach Erntezeit, Bewirtung, Dionysosfest, nach Pfeifen und Theater, nach Arien des Sophokles und Hähnchen – und Verschen des Euripides!

HERMES
Ich hau dir gleich eine runter für diese Lüge! Keine Freude hat sie an diesem linken Intellektuellen!

Schicksalstage eines Kontinents: Erziehung nach Verdun

M;erz Macron Starmer Leyen 4 Panzersoldaten und ein Hund*in
Die vier von der Brandstelle: Merz, Starmer, von der Leyen und Macron stehen für ein knallhartes Weiterso an der Ostfront.

Über allen Gipfeln ist Ruh`' nach einer Woche hektischer Betriebsamkeit. Bis tief in die Nacht und atemlos hindurch hatte eine Koalition der Willigen unter den Mächtigen der Welt in Belèm und Johannesburg versucht, die regelbasierte Ordnung der alljährlichen Treffen zur Bestätigung der beschlossenen Ziele zu stärken. Die ganz Großen waren nicht oder nur mit subalternen Helfern erschienen. Das Ringen um einen festen Ausstiegsfahrplan aus den Fossilen in Brasilien wurde überschattet von Donald Trumps sogenanntem Friedensplan. Ehe der deutsche Kanzler und die anderen Europäer noch von Brasilien über Europa nach Südafrika gelangt waren, hatte sich die Welt weitergedreht.  

Hilferuf auf der Noruffrequenz 

Die G20 verabschiedeten ihre Abschlusserklärung notgedrungen vor Beginn der Gespräche der angereisten G13. Ein Hilferuf auf der Notruffrequenz, der einmal mehr den Ausbau erneuerbarer Energien, mehr Klimaschutz und den Abbau der Verschuldung armer Länder fordert. Nicht der Inhalt war wichtig, sondern die gemeinsame Frontstellung gegen die Vereinigten Staaten: Im Schulterschluss mit den sieben außereuropäischen Teilnehmern verlangten die sechs vom alten Kontinent angereisten Staatenlenker aus Frankreich, Italien, Deutschland, Großbritannien und Brüssel (EU-Kommission und Europäischer Rat), dass die Uno-Charta respektiert und die Menschenrechte eingehalten werden müssen.

Ein Donnergrollen in der Weltpolitik. In Brasilien war nur Stunden zuvor der Versuch des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva gescheitert, im Handstreich ein festes Ausstiegsdatum für Öl und Gas ins Abschlussdokument zu drücken. Nach seinem Erfolg mit der Gründung eines Regenwaldschutzfonds, der seinem Land künftig Milliarden einbringen wird, hatte Lula da Silva die Gunst der Stunde und die Abwesenheit der Amerikaner nutzen wollen, um ein weltweites Verbrennerverbot völkerrechtlich festzunageln. 

"Konferenz der Wahrheit" 

Die "Konferenz der Wahrheit" (Lula) sollte sich nicht nur wie gewohnt rituell noch einmal darauf festlegen, dass die Festlegung des 2015 verabschiedeten 1,5-Grad-Zieles weitergilt. Sie sollte den Fossilen auf feste Fesseln verpassen. Der Zwang, auf Öl und Gas zu verzichten, sollte einer sein "ohne irgendjemandem etwas vorzuschreiben, ohne eine Frist festzulegen, damit jedes Land Dinge entscheiden kann, die es in seinem Rhythmus machen kann", wie Lula den eckigen Kreis beschrieb, den Belém hatte malen sollen. Alles müsse sich "auf Konsens gründen", sagte der brasilianische Präsident.  Der aber müsse der Wille zur Abkehr von Kohle, Öl und Gas sein. 

Eine Steilvorlage für deutsche Medien: Die, die "nur sagen wollen, dass es möglich ist" (Lula), mussten nicht sagen, wie. Die aber, die sich dem Überrumplungsmanöver verweigerten, weil nicht zuletzt das traurige Scheitern Deutschlands zeigt, welche dramatischen Folgen ein Energieausstieg ohne Anschlussverbindung hat, wurden als "sehr stark auftretende Koalition aus Ölländern" gebrandmarkt. Sie hätten den "Plan für einen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas" zu Fall gebracht, obwohl den doch "ein breites Bündnis aus rund 80 Staaten, darunter Deutschland und die EU, gefordert hatte". 

Nackt im Wind der Wirklichkeit 

Eine Konferenz der Wahrheit fürwahr. Am Ende eines Jahrzehnts, in dem die in immer monströsere Dimensionen wachsenden Klimagipfel den Bürgerinnen und Bürgern vorgemacht hatten, es brauche nur ausreichend viele Beschlüsse, um die Menschheit von Öl, Gas und Kohle zu entwöhnen, steht das Konzept Zielvorgabe nackt im Wind der Wirklichkeit. 

Je weiter die Pläne außer Reichweite gerieten, desto inbrünstiger wurde die Versicherung vorgetragen, dass man nun erst recht am Beschlossenen festhalten müsse. Der zentrale Glaubenssatz der Weltklimakirche bestand in der Überzeugung, dass mit Zeit guter Rat kommen werde. Wenn erst das letzte Kohlekraftwerk, die letzte Gasturbine, das letzte Kernkraftwerk und der letzte Ottomotor abgeschaltet seien, werde jeder merken, dass das Leben auch mit Zufallsenergien irgendwie weitergehe.

Das größte Experiment 

Mach mit, mach's nach, mach's besser, forderte Deutschland, das sich schon in den frühen Merkel-Jahren mutig an das größte Experiment seit dem real existierenden Sozialismus gewagt hatte. "Klimaschutzverpflichtungen" ersetzten das Nachdenken darüber, wie sich Kohleverstromung, die Nutzung von Öl oder Gas oder der Einsatz von nuklearer Energie in der Realität stabil durch launischen Wind und zeitweise wochenlang fehlende Sonne ersetzen lassen könnten. 

Angela Merkel beantwortete die Frage mit einem Auftritt als "Klimaforscherin" (Bild) in Grönland. Vor einem schmelzenden Eisberg machte sie Werbung für den deutschen Sonderweg zur Klimarettung, wegen der ernste Lage angetan nicht mit dem üblichen Pokémon-Jäckchen, ihrer gewohnten Ritterrüstung in allen Rettungsmissionen. Sondern mit einer knallroten Goretex-Jacke der Deutschen Seenotrettungsgesellschaft. 

Rot signalisiert höchste Not 

Rot signalisiert höchste Not, rote Jacken stehen in Deutschland für Armut und Menschheitsverbrechen gleichermaßen. Auf das Klimathema ist die prekäre Lage nicht mehr beschränkt, das hat Bundeskanzler Friedrich Merz nach seiner Rückkehr aus Südafrika in der ARD deutlich gemacht. Dass die Amerikaner unabgesprochen einen "sogenannten Friedensplan" für die Ukraine vorlegten, ohne sich zuvor mit den europäischen Partner abzustimmen und deren Zustimmung einzuholen, degradiert die Frontstaaten auf dem alten Kontinent zu Zuschauern in eigener Sache. 

Merz beschrieb die Lage auf die Frage, welche überaus bedeutsame Rolle Europa in den Gesprächen spiele, mit dem schönen Satz "Wir haben Kontakt zur russischen Regierung über die Amerikaner". Schon auf dem G13-Gipfel in Johannesburg hatten die ostatlantischen Staaten angedeutet, dass sie so nicht ungestraft. mit sich umspringen lassen werden. Mit einem historischen Beschluss zogen sie eine rote Linie zwischen Krieg und Frieden. Letzterer dürfe nur geschlossen werden, wenn Russland zuvor zugestimmt habe, dass das das Prinzip, dass Grenzen nicht gewaltsam verändert werden dürften, weiter gelte und die von Russland annektierten Gebiete in der Ostukraine nicht international anerkannt würden.

Konferenzprogramm in Kolonialmanier 

Kein Fußbreit den Faschisten, diese Bedingung hatte EU-Chefin Ursula von der Leyen schon beim G20-Gipfel vor zwei Jahren in Neu Dehli ein für allemal als Voraussetzung für jede Einigung mit Russland bestimmt. Zwei Jahre und viele tausend Tote später ändert auch der sogenannte Friedensplan nichts an dieser Grundforderung der Europäer, selbst wenn die US-Administration sich selbst für vermeintliche Fortschritte  auf dem Weg zu einem Ende "dieser Scheiße" (US-Emissär Daniel Driscoll) bejubelt.

Europa hat den Rumpfgipfel der G20 kurzerhand zu einem "Ukraine-Krisengipfel" (Die Zeit) umfunktioniert: Den südafrikanischen Gastgebern, stolz, die große Runde der mächtigsten Staatenlenker erstmals in Afrika empfangen zu dürfen, wurde damit im alten Kolonialstil das Konferenzprogramm auf der Hand genommen. Weder die "afrikanische Agenda" noch die "Süd-Süd-Kooperation", die der frühere Apartheidstaat als seine zentralen Prämissen sieht, spielten in der Berichterstattung über die Gipfelerfolge irgendeine Rolle.

Eine Welt made in USA 

Die Weltpolitik der vergangenen 80 Jahre ist zu einem großen Teil ein Werk Amerikas. Europa und Deutschland waren, von den von Haus aus nationalistischen Franzosen abgesehen, glücklich mit ihrer Rolle als Mündel Washingtons. Dort wurde für Sicherheit gesorgt und sie auch bezahlt. Dort wurden die technischen Innovationen entwickelt und die Kredite ausgereicht, die das deutsche Wirtschaftswunder befeuerten. Dort saßen auch die Kunden für die Waren, die die einst hocheffiziente Industrie in Deutschland weit über den eigenen Bedarf hinaus herstellte.

Europa konnte sich, so geschützt und gefüttert, der eigenen und weit überlegenen Moral widmen. Die globale Klimapolitik der zurückliegenden 30 Jahre war im wesentlichen ein Werk Europas. Den Weg zum Kyoto-Protokoll machte die COP1 in Berlin frei. 2015 war Paris der Schauplatz des Höhepunktes der internationalen Klimafeiern: Das Pariser Klimaabkommen, bislang etwa ebenso erfolglos wie das vorhergehende Kyoto-Abkommen, markierte den point of return. 

Mehr wurde es danach nicht mehr. Besser auch nicht. "Brasilien, China, Indien, Russland, Saudi-Arabien machen sich nicht mal mehr die Mühe, ihr fossiles Wachstumsmodell in den Mantel des Klimaschutzes zu hüllen", konstatiert die Süddeutsche Zeitung zehn Jahre danach. Die Vereinigten Staaten sind offiziell ausgestiegen. Die EU traut sich bisher nur noch nicht.

Zu groß ist die Angst, mit dem Eingeständnis, dass es wichtigere Aufgaben gibt als das Klima in 30 Jahren programmieren zu wollen, noch mehr vom einst guten Ruf zu verlieren. Schon ohne eine Klimakehrtwende der EU stehen die europäischen vier der globalen G7 immer öfter bedröppelt am Rand der Ereignisse. Wenn Europa gefragt ist, dann weder als Vorbild noch als positives Beispiel, sondern allerhöchstens als Geldgeber. Es ist einer, dessen schlechtes Gewissen ihn veranlasst, selbst dann noch freigiebig für jede obskure Idee zu spendieren, wenn das Geld daheim nicht reicht, um das Notwendigste zu finanzieren.

Lahm und leichenblass 

So macht man sich Freunde und Europa macht sie sich nur noch so. Auf der Suche nach der ersehnten Anerkennung, die ablenken soll von der eigenen Machtlosigkeit, stolpert die EU mit offenen Schnürsenkeln über die Weltbühne. Lahm und leichenblass behaupten Bürokraten wie Ursula von der Leyen einen Einfluss, den sie nicht haben. Neben ihnen agieren nationale Staatsmänner wie Emmanuel Macron und Keir Starmer, Riesen auf Abruf. Und Friedrich Merz, dem der Überdruss am Amt schon nach einem halben Jahr auf die Stirn geschrieben steht.

Nach der Konferenz der Wahrheit in Brasilien, die das schonungslos offengelegt hat, folgte für den CDU-Chef daheim nun schon die "Woche der Wahrheit" (Spiegel). "Haushalt, Rentenzoff, Koalitionsgipfel" müsse Merz zum Gefallen aller moderieren, um seine Regierung zu retten. Von Krieg und Klima keine Rede.




Sonntag, 23. November 2025

Europa im Omnibus: Rückzug vom Kuchenbuffet

Cookie-Banner Abschaffung   EU Cookie-Richtlinie Ende   ePrivacy-Richtlinie Abschaffung   Ursula von der Leyen Cookies   Consent-Banner weg   EU Vereinfachungspaket 2025   AI Act Lockerung Omnibus
Die Rückabwicklung der Cookie-Richtlinie soll den Menschen helfen, die EU wieder lieben zu lernen.

Es soll ein Geschenk sein, das Dankbarkeit schafft und eine neue Verbundenheit der Völker mit ihrer Kommission. Und schnell gehen muss es, denn bald ist Weihnachten und die EU-Kommission möchte den Mühseligen und unter der Last von Bürokratiebergen stöhnenden Bürgerinnen und Bürgern etwas unter den Baum legen. 

Es riecht nach Revolution in Brüssel. Ein ganzes Zeitalter wird rückabgewickelt. Das Kuchenbuffet, das eine frühere Kommissionsbesetzung erdacht und ein früheres EU-Parlament beschlossen hat, wird kurzerhand abgeräumt. Nach 23 Jahren, in denen die Cookie-Richtlinie - offiziell ePrivacy-Richtlinie (2002/58/EG) - Segen und Schutz für hunderte Millionen Menschen war,  geht Europa ans Eingemachte.  

Immer wieder und wieder 

Um den Versuch einer Aufweichung der weltweit ersten und entschiedensten Einschränkung der Benutzung von Künstlicher Intelligenz zu tarnen, geht Ursula von der Leyen das Undenkbare an: Die einst als wichtiger Beitrag zum Datenschutz verkaufte Cookie-Anordnung soll wegfallen. Die Gemeinschaft der 27 würde dann nicht mehr verlangen, dass jede Webseite jeden Besucher immer wieder und wieder und wieder mit einem automatisch aufploppenden Banner fragen muss "Akzeptieren Sie alle Cookies?"? "Oder nur ein paar?" "Oder nur wichtige?" "Oder nur technische?" "Oder gar keine?" 

Ein Zivilisationsbruch für einen Staatenbund, der sich nicht zuletzt über seine fein ziselierten gesetzlichen Eingriffe in die persönliche Freiheit definiert. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Anzahl an sinnfreien Bestimmungen, die aus selbstbestimmten Bürgern betreuungspflichtige Personen machen. Mit der Cookie-Richtlinie reagierte Europa in der Zeit kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf eine neue Bedrohungslage.

Digitale tethered caps

Internetseiten versuchten, mehr über ihre Besucher zu erfahren. Welcher Browser?  Welches Betriebssystem? Wo steht der Rechner? Schon mal hier gewesen? Das Resultat war ein europäisches Datenschutzgesetz, das verlangt, dass Websites vor dem Einsatz von Cookies die "informierte Einwilligung" der Nutzer einholen. Eine Art tethered cap fürs Internet, mit dem die Bürokraten sich keine Freunde machten. Aber einmal beschlossen, bleibt in der EU alles, wie es ist. Wer weiß, wann sich mit Nachgeben noch einmal beim Volk punkten lassen wird.

Jetzt ist es so weit. Nach zwei Jahrzehnten, in denen Brüssel die Freiheit des Web knebelte und Billionen von unsinnigen Einverstanden-Klicks ganze Kraftwerke leersaugten, rudert die Kommission zurück. Vor einigen Wochen schon kündigte Ursula von der Leyen an, sie  die Nutzung auf Webseiten "vereinfachen" und die "oft als störend empfundenen Consent-Banner grundlegend überarbeiten" wolle.

Uninteressierte Nutzer 

16 Jahre nach der letzten Überarbeitung der Cookie-Richtlinie, die die Auflagen 2009 noch einmal verschärft hatte, habe sich herausgestellt, dass das System, das ursprünglich den Datenschutz stärken sollte, ineffektiv sei. Nutzer und Nutzerinnen klickten die Einwilligungsbanner oft einfach weg, ohne die wichtigen Belehrungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wer nur den Wetterbericht sehen wolle, sei offenbar gar nicht daran interessiert zu erfahren, dass sein Interesse für den Seitenbetreiber interessant genug sei, seine übermittelten Daten zu speichern und auszuwerten. 

Das Ergebnis ist eine Flut an Zustimmungen gewesen, die jedem Datenschutz Hohn sprächen, zudem aber für Frust bei den Nutzern sorgte, der sich auf die EU-Kommission fokussierte, die eigentlich Dankbarkeit erwartet hatte. Ein trauriges Kapitel, denn so blieb es dabei, dass immer, wenn jemand gefragt wird, was die EU ihm eigentlich gebracht habe, nur die europäischen Roaming-Vorschriften genannt werden.

Reklame für Brüssel 

Das muss sich ändern. Die EU braucht Rückenwind, neue Begeisterung, Menschen, die sie so wichtig  und bedeutsam finden wie sie sich selbst. Die Gelegenheit für eine große Reform ist günstig, denn Brüssel steht unter Druck. Aus Angst, den KI-Zug endgültig zu verpassen, dringen die Mitgliedstaaten darauf, den erst vor anderthalb Jahren beschlossenen AI Act zu lockern. Angesichts der Ängste, die Brüssel geschürt hatte, um das "weltweit erste Gesetz zur Regulierung von KI" durchzusetzen, soll die Rückabwicklung mit Hilfe eines Omnibus-Gesetzes vollzogen werden. 

Versteckt in einem Rechtsakt mit dem schönen Namen "Vereinfachungspaket" werden die Lockerung des AI Acts und die beim vorgeschriebenen Schutz der Bürger vor Trackern gemeinsam durchs Parlament gezogen. Von der Leyen weiß, so sehr mancher dagegen ist, der KI auch in Europa zum Durchbruch zu verhelfen, so sehr sind alle für ein Ende des Pop-up-Terrors, dessen Sinnhaftigkeit von Anfang an nie jemand verstanden.

Die Brandmauer fällt 

Die Arbeit von Jahrzehnten, die Arbeit tausender Beamter, Berater, Wissenschaftler, Lobbyisten, Datenschützer, dutzender Kommissare, hunderter Parlamentarier und ebenso vieler Mitglieder des EU-Rats würde binnen Wochen zunichtegemacht. Fast ein Vierteljahrhundert brauchte Brüssel, um die ausgeklügelte Brandmauer zwischen Bürgern und Internetseiten zu errichten, die sich mit einem Klick pro Seite überspringen ließ. Dass das gesamte Unternehmen ein regulatorisches Fiasko war, muss dank Omnibus-Verfahren niemand eingestehen. 

Ganz im Gegenteil: Die Kommission tritt als Retter und Erlöser auf die Bühne: Sie befreit die Menschen von der 2009 verabschiedeten entscheidenden Novelle (2009/136/EG). Artikel 5 Absatz 3 der ePrivacy_Verordnung zog Europa damals Banner-Zwangsjackett: "Der Speicherung von Informationen oder der Zugriffsgewährung auf bereits gespeicherte Informationen in den Endgeräten der Vertragsparteien ist nur dann gestattet, wenn die betroffene Person hierin ausdrücklich eingewilligt hat."

Übers Ziel hinaus und zurück 

Automatische Zustimmung war verboten. Browsererweiterungen, die das nervige Wegklicken selbstständig erledigen, waren illegal. Die EU hatte sich darauf festgelegt, dass Cookies  personenbezogene Daten abfragen und damit ein Loch in den Datenschutzpanzer von 440 Millionen Europäern brennen. Das Argument, zu strenge Regeln könnten Innovationen verhindern, zog nicht. Es ging Europa damals gut. Der Kontinent konnte sich vieles leisten. Die führenden Parteien in Deutschland steuerten mit einem klaren Kompass direkt auf die Vereinigten Staaten von Europa zu, deren Errichtung der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz für den 1. Januar 2025 angekündigte.

Es ist anders gekommen, anders genug, die Gemeinschaft jetzt im Ende des europaweiten Banner-Chaos, das Nutzer schützen sollte, einen ebenso großen Segen zu sehen wie im aufwendigen Akt, mit dem es heraufbeschworen worden war. Wie genau die Pest beendet werden soll, hat Brüssel noch nicht verraten. Wie so oft soll es eine EUberraschung werden. Ein Vorschlag sieht vor, dass Nutzer ihre Cookie-Präferenzen nur noch einmal über die Einstellungen ihres Browsers festlegen müssen, der dann  bei jedem Webseitenbesuch meldet, was gewünscht wird. 

Allerdings wäre das eine Lösung, die für Europa viel zu einfach wäre. 

Kein bisschen Frieden: Wollt ihr den totalen Sieg

Wehrwilligkeit und Siegesgewissheit sind weiterhin vorhanden. Abb: Fritz Reipert, 1940, 40 Pfg.

Im Sommer 2024 entscheid sich der Ukraine-Krieg. Ein Markus Becker hatte im "Spiegel" ein Ultimatum gestellt. "Der Westen muss klären, ob er zum Krieg gegen Putin bereit ist", stellte er zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine klar, an welcher Wegscheide die Welt steht. Alle 18 Sanktionspaket hatten nichts gebracht. 

Die Waffenhilfe für die Ukraine war kein Gamechanger gewesen, nicht nach der Lieferung von Helmen, nicht nach dem Transport der ersten Leopardpanzer an die Front. Nicht einmal, als Schwerewaffen freigegeben wurde und auch nicht, als den Verteidigern amerikanische Raketen zur Verfügung gestellt wurden.  

Keine Eskalation 

Was blieb jetzt noch? Außer all in oder einem Verhandlungsfrieden? Joe Biden im Weißen Haus und Olaf Scholz in Berlin, Emmanuel Macron, die EU-Spitze und die Nato entscheiden sich für das Prinzip Hoffnung. Keine Eskalation. Keine Verhandlungen. Weiter so ohne Ausstiegsoption.

Vielleicht, diese Möglichkeit gab Zuversicht, geschieht ein Wunder. Vielleicht stirbt Putin, der zumindest in deutschen Medien schon lange als todkrank galt. Vielleicht wird der Kremlherrscher des Mordens auch müde. Vielleicht gehen ihm doch noch die Soldaten aus, die Panzer, die Geschütze und die Munition.

Das mörderische Ringen 

Selbst der 30-jährige Krieg hat nicht ewig gedauert. Er ging nach fünf Jahre andauernden Friedensverhandlungen zu Ende, im dritten Anlauf, nach zwei zuvor gescheiterten Friedensvereinbarungen. Das Wissen darum, wer das mörderische Ringen mit rund acht Millionen Todesopfern gewann, ist heute weitgehend verlorengegangen. Schweden bekam Teile Norddeutschland. Frankreich das Elsass. Schweden verlor später alles wieder. Frankreich auch, doch es holte sich das meiste zurück. Verlor es erneut. Und bekam es nach knapp 400 Jahren doch wieder.

Die Geschichte ist mit den Geduldigen. Die Landkarte Europas ist ein Tagebuch beständiger Grenzverletzungen, Gebietsverluste, Zugewinne und Eroberungen, die wieder verlorengingen. Polen, heute der Wachstumstiger unter den schwächelnden EU-Wirtschaften, existierte die meiste Zeit seiner Historie nicht. Litauen, ein Zwergstaat, der die Suwalki-Lücke bewacht, war einst eines der mächtigsten Reiche des Kontinents. Ein Teil Russland war 700 Jahre lang deutsch. Ein Teil der Ukraine ist seit elf Jahren russisch, nach 300 Jahren unter Herrschaft der Osmanen und 200 unter der des russischen Zaren.

Nichts ist für die Ewigkeit 

Alles ist im Fluss. Nichts ist für die Ewigkeit. Doch eingegraben in festungsgleich ausgebaute Stellungen verharrten Russland, die Ukraine, Europa und die USA die ersten drei Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine lang in ihren Maximalforderungen. Putin betonte, Russland werde nicht eher ruhen, bis die Ukraine für immer geschwächt, zu einer Pufferzone zwischen Ost und West degradiert und ihrer Ambitionen auf eine Nato-Mitgliedschaft beraubt worden sei. Das freie Europa forderte den Rückzug Russland hinter die Grenzen von vor 2014, Reparationen und einen Verzicht auf alle weiteren imperialen Ambitionen. Die USA hielten sich raus. Joe Bidens Probleme waren ganz andere.

Mit Donald Trumps Einzug ins weiße Haus aber endete diese Zeitenwendezeit ohne Zeitenwende. Erschrocken musste Europa konstatieren, dass der neue Präsident die Verantwortung für die Fortführung des Krieges an die übertragen würde, die die Ukraine  stets am lautesten als die vordersten Verteidiger des freien Europa gerühmt hatten. Die Bilder von der Befehlsausgabe in Washington gingen um die Welt. 

Von zwei auf über fünf  über Nacht

Es dauerte nicht einmal 48 Stunden, bis der letzte Politiker in Europa verstanden hatte, dass die Vereinigten Staaten es ernst meinten. Zwischen Sonntagabend und Mittwochmorgen erhöhte Deutschland seine Militärausgaben von unter zwei auf über fünf Prozent des BIP. Die Entscheidung fiel ohne Parlamentsdebatte, ohne begleitende Talkshowauftritte, ohne Absprache mit den Nato-Partnern und ohne Rücksicht auf Haushaltszwänge.

Dem politischen Berlin schwante, dass sich etwas geändert hat. Der Aufschlag in der Realität war brutal. Das Erwachen aus dem Traum, immer nur tun zu können, was man will, nie aber tun zu müssen, was getan werden muss, hatte verfassungsändernde Wucht. Es machte aus Pazifisten Bellizisten. Aus Wehrdienstverweigerern Männer, die es in den ersten Graben zieht. Und aus der grünen EU-Kommissionspräsidentin eine olivgrüne, deren "Green Deal" Platz machen musste für die Vision vom "stählernen Stachelschwein".

Rückzug von der Ostfront

Auch das aber war nur ein Moment. Bis heute verweigert sich der Großteil der Verantwortungsträger in Europa und Berlin stur allen naheliegenden Schlussfolgerungen aus dem von Trump erklärten Rückzug von der Ostfront. Nur in der kruden Logik der Bundesregierung ergibt es einen Sinn, die volle Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr für das Jahr 2035 anzustreben, wenn man gleichzeitig mit einem russischen Angriff im Jahr 2029 rechnet. Nur in der strategischen Mathematik der gesamten  europäischen Verteidigungsfamilie wird ein Einlenken der Russen immer wahrscheinlicher, je geringer die Aussichten der Ukraine werden, den Angreifer eines Tages mit militärischen Mitteln wieder aus dem Land werfen zu können.

Abstimmung mit den Füßen 

Trumps "sogenannter Friedensplan" (Tagesschau) ist der Versuch, den Krieg zu beenden, ehe Putin ihn beendet - sei es in zwei, sei es in drei oder in zehn Jahren. Große Teile der ukrainischen Bevölkerung selbst sind der Verteidigungsanstrengungen längst überdrüssig. Seit Präsident Wolodymyr Selenskyj jungen Männern unter 24 die Ausreise aus der Ukraine wieder gestattet hat, strömen so viele zehntausende demnächst Wehrpflichtige ins sichere EU-Europa, dass selbst Bundeskanzler Friedrich Merz schon öffentlich forderte, die betreffende Altersgruppe in der Ukraine festzuhalten

Die jungen Ukrainer stimmen mit den Füßen ab. Die Westeuropäer überstimmen sie. Trumps neuerlicher Friedensvorschlag ist nicht nur in Berlin wie eine Kriegserklärung angekommen. Nachdem sich die EU entschlossen hatte, bis zum letzten Ukrainer weiterzukämpfen, kommt der einzig mächtige Verbündete mit dem Dolch im Gewand zu Besuch. Und wieder steht die Wertegemeinschaft vor einer Situation, die sie nicht kommen sehen hat, obwohl seit Trumps erstem Anlauf zu einer Beendigung des sinnfreien Schlachtens im Donbas die Gefahr in der Luft lag, dass der US-Präsident keine Ruhe geben wird.

Eine neue Kriegsbegeisterung 

Aber Europa, Deutschland an der Spitze, hatte sich auf eine funkelnagelneue Begeisterung für Krieg und Militär eingegroovt. Das gemeinsame Bedrohungsgefühl würde die innere Einheit stärken. Rüstung die Wirtschaft retten. Eine kurze, aber knackige Wehrdienstzeit die schlaffe Jugend straffen und ertüchtigen. Der Chef von Rheinmetall wähnte sich dank der Rüstungsmilliarden schon im Wunderland.  Bundeswehr-Inspekteur Christian Freuding verkündete, man sei jetzt schon bereit für den "Fight tonight, also den unmittelbaren Kampf." Er vertraue darauf, dass Deutschland "durch Hingabe und Innovationen kriegstüchtig werden" könne.

Der Eindruck täuschte nicht, dass es dem einen oder anderen nicht schnell genug gehen kann, endlich den Panzer zu satteln und zum Rückspiel gegen Russland anzutreten. Putin habe nur eine Wahl, verkündeten die derzeit noch kalten Krieger. Seine bedingungslose Kapitulation werde angenommen, zumindest wenn er sich zugleich bereit erkläre, die Ukraine auf eigene Kosten wiederaufzubauen. 

Chaos und Rückzugsgefechte 

Gegen die Erfolgsaussichten dieses einzigen Szenarios für ein Kriegsende, das europäische Politiker in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren entwickelt haben, spricht die Lage an der Front. Chaos. Personalmangel. Rückzugsgefechte. Zuletzt dann noch die Korruptionsaffäre, die den ukrainischen Oberkommandierenden Selenskyj in einem für die USA rein zufällig sehr glücklichen Moment von einer zweiten Seite aus unter Druck setzte. 

Mit seinem 28-Punkte-Plan droht Trump nun mit Frieden, auf Kosten der Ukraine, aber auch auf Kosten eines Europas, das sich kurz vor dem vierten Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine endlich darauf eingestellt hatte, dass das alles ganz ernst und sehr viel wichtiger ist als Klimawende, Energieausstieg und Genderfragen. Wieder auf dem falschen Fuß. Und wieder keine Argumente außer dem, dass die US-Regierung zahlreiche Vorschläge gemacht habe, "die für Kiew nur schwer zu akzeptieren sein dürften". 

Der Friedensfahrer als Verräter 

Deshalb müsse Europa, eben das Europa, das die Friedensfahrt des ungarischen Staatschefs Viktor Orban noch als Verrat gebrandmarkt hatte, unbedingt mit am Tisch sitzen. Einer müsse ja auch, heißt es, die Position vertreten, dass die Realitäten auf dem Schlachtfeld keine Rolle bei den Vereinbarungen zur Beendigung der Kampfhandlungen und den vertraglichen Vereinbarungen zu einer sicheren Nachkriegsordnung spielen dürften.

Wieder nicht gefragt, ja, nicht einmal informiert worden zu sein, hat die Europäer getroffen. Unmittelbar nachdem er von einer womöglich nahenden Friedenslösung gehört hatte, brachte sich der deutsche Bundeskanzler als Friedensvermittler ins Spiel. Merz, bei seinem Vorstellungsgespräch bei Trump ein Mann ohne Mund, entdeckte plötzlich "den Friedensengel in sich" (Berliner Zeitung).

Putin zur Ablehnung zwingen 

Gemeinsam mit den Kollegen der anderen Staaten, die die Ukraine bis zu einem Siegfrieden weiterkämpfen lassen wollen, arbeitet Deutschland jetzt hektisch an einem "Gegenvorschlag zu Trumps Ukraine-Plan" (Spiegel). Zugeständnisse an Russland sollen gestrichen werden. Klappt alles, besteht Hoffnung, dass Putin einen Friedensschluss erneut ablehnt. Die "Badekur" (Paul von Hindenburg), die Europa seiner angeschlagenen Wirtschaft mit Hilfe der Rüstungsbillionen gönnt, könnte weitergehen. 

Argumente hat Wolodymyr Selenskyj geliefert, der in einer Ansprache an die Ukrainer von einer bitteren Wahl sprach. Sein Land werde seine "Würde oder einen wichtigen Partner verlieren", je nachdem, wie es sich entscheide. Die Ostgebiete aufgeben? Gegen Sicherheitsgarantien der USA? Aufbaumilliarden aus Moskau? Den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft? Oder weiterkämpfen bis zum Schluss, nur noch unterstützt von den EU-Staaten, deren Kampfbereitschaft mit jeder anstehenden Wahl in einem der Mitgliedsländer infragesteht?

Die Taktik aus dem Gaza-Krieg 

Bis Donnerstag soll entschieden werden, hat Donald Trump bestellen lassen. Der amerikanische Präsident folgt mit der eiligen Terminsetzung der Taktik, die im Nahen Osten funktioniert hat. Europa hält auf gewohnte Weise dagegen. Alles müsse viel langsamer gehen, auch müsse unbedingt Platz für "einen eigenen Beitrag zum umstrittenen US-Friedensplan für den Ukraine-Krieg" geschaffen werden.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die letzte verbliebene bekannte FDP-Politikerin Europas, zeigte den Amerikanern die Konsequenzen auf, die ein Festhalten am "sogenannten Friedensplan" mit seinem Kurs auf einen "irren Diktatfrieden" haben würde. Eine Umsetzung werde "einzig und allein den Kriegsverbrecher Russland belohnen", "die Sicherheit weiterer Länder in Europa gefährden" und  "die Nato zerstören". Dagegen müsse die Bundesregierung, "endlich Haltung zu zeigen" und der Ukraine "endlich alle Unterstützung liefern, die das Land zur Abwehr der russischen Angriffe benötigt".

Der sogenannte "sogenannte Friedensplan" im Detail hier.

Samstag, 22. November 2025

Zitate zur Zeit: Wir gegen die Wirklichkeit

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Alle gefährlichen Parteien definieren ein Wir und schließen andere aus, so haben das die Nazis gemacht.

Altkanzler Olaf Scholz erklärt, warum es kaum ein Demokrat ertragen kann, abgewählt zu werden.

"Sogenannt": Der kleine, fiese Bruder von umstritten

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Eine sogenannte Idylle: Beim näheren Hinschauen entdeckt das kundige Auge sofort, wie falsch alles ist - die Häuser werden mit Öfen geheizt, Kinder müssen auf den Feldern arbeiten, ein reißender Strom Fluss trennt rechts und links. Abb: Kümram aus der Serien "Variatonen über einen Kampfbegriff", Wasserfarben auf Leimholz

Auf einmal war es wieder überall, eines der wirkmächtigsten, rätselhaftesten und hinterlistigsten Worte der deutschen Sprache. Donald Trump hatte die 28 Punkte seines Friedensplanes für die Ukraine noch gar nicht offiziell und öffentlich vorgelegt, da machte das Papier schon die Runde, überschrieben mit einer einordnenden Bezeichnung. Es handele sich um einen "sogenannten Friedensplan" hieß es allenthalben - eine schöne Tradition in deutschen Medien, die zuletzt bereits den Trumps Gaza-Friedensplan als "sogenannten Friedenplan" überführt hatten, der nur aus Illusion und Spinnerei bestand.

Immer ohne Europa 

Immer geht es ohne Europa zur Sache. Und immer wenn sich etwas tut, das nicht gefällt, wird zum "sogenannt" gegriffen, in Neudeutsch mittlerweile oft "so genannt" geschrieben. Der beabsichtigte Aussagegehalt bleibt in beiden Fällen gleich, das hat die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin auf Nachfrage bestätigt: Als kleiner Bruder der beliebten Meinungskampfwaffe "umstritten" werde die Verwendung von "so genannt" und "sogenannt" empfohlen, wenn sich eine objektive Einordnung von Tatsachen, Umständen oder Ereignissen verbiete, weil dabei entstehende Schlussfolgerungen womöglich große Teile der Bevölkerung beunruhigen könnten.

Es wäre denkbar und möglich, Trump einen Friedensplan schmieden zu lassen, der ein Friedensplan ist, auf dem die Unwägbarkeit noch bevorstehender Verhandlungen lastet, der allerdings allemal mehr Chancen auf Umsetzung hat als die bisher von der EU und ihren 27 Mitgliedstaaten vorgelegten null Friedenspläne. Der Eindruck aber, den das auf die deutsche Öffentlichkeit machen würde, wäre verheerend. 

Der Neid führt die Feder 

Trump ist hierzulande vor zehn Jahren in der Rolle des absolut Bösen eingeführt worden. Der damals 69-Jährige verkörperte idealtypisch, was der Verhaltensforscher Konrad Lorenz  bereits 1963 in seinem populärwissenschaftlichen Buch "Das sogenannte Böse" beschrieben hatte. Als "irre" (FR) "Angstmaschine" (Die Zeit) und "wahnsinniger" (Spiegel) "Hassprediger" (Walter Steinmeier) muss Trump der "Kriegstreiber" (taz) sein, der die Demokratie köpft und wenig später einen Atomkrieg mit Russland auslöst, weil er im Sold des Kreml steht.

Die Logik und der gesunde Menschenverstand, sie haben draußen zu bleiben, wenn "von fast allen deutschen Parteien scharfe Kritik" kommt. Kein Friedensplan, den Trump vorlegt, übersteht die erste Begegnung mit der Kompanie der deutschen Kommentäter. In den Schreibmaschinengewehrstellungen der Leitmedien wie in den langen Gängen von Bundestag und Parteizentralen herrscht die Überzeugung, dass kein Frieden allemal besser ist als einer, den der Falsche erreicht hat.

Wer uns den Krieg wegnimmt 

In Gaza ist das doch zu sehen. Kaum hatte Trump seinen "sogenannten Friedensplan" gegen den Widerstand von großen Teilen der pro-palästinensischen Friedensbewegung und der Terrororganisation Hamas durchgedrückt, fiel das öffentliche Interesse am Konflikt zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation ins Bodenlose.  Obwohl sich der "Gewaltexzess zwischen Palästinensern und Israelis so nicht so einfach stoppen" lassen würde, war er mit einem Schlag aus den Hauptnachrichtensendungen des deutschen Fernsehens verschwunden. Kein Genozid mehr in den Schlagzeilen. Keine bösen Juden, die nach der Weltherrschaft im Westjordanland streben.

Es war unmöglich. Aber es war passiert. Mühsam gelang es den besten deutschen Faktencheckern zumindest, Trumps Behauptung zu entkräften, er habe mittlerweile sieben Frieden gestiftet. Die Wahrheit, wie sie etwa in München gefühlt wird, sieht anders aus. "Viele Erfolge kann der Friedensstifter Trump nicht vorweisen", zählte die Süddeutsche Zeitung kritisch durch, denn so mancher "Konflikt könnte bald genauso wieder ausbrechen". Merke: Wer uns den Krieg fortnimmt, dessen Frieden werden wir nie anerkennen.

Der Todestrieb des Menschen 

Kein Frieden ist sicherer als ein weiterlaufender Krieg. Keine Erklärung für eine Ablehnung eines Friedensplanes besser als der von Sigmund Freud entdeckte Todestrieb im Menschen, dem Konrad Lorenz mit seiner selbstausgedachten "Instinkttheorie" einen "Aggressionstrieb" an die Seite stellte. Destruktivität und Feindseligkeit im menschlichen Verhalten entsprängen einer "erzieherischen und kulturellen Deformation", schlussfolgerte er. Wer einer innerlichen Überzeugung folge, die er für wahr, richtig und gut halte, der reagiere auf jeden Hinweis, dass daran gezweifelt werden könne und vielleicht sogar müsse, mit einer abwehrenden Aufwallung.

Es wird ignoriert, bestritten und relativiert. Es dürfen nicht sieben Friedensschlüsse sein, sondern wenigstens nur sechs, einige davon können zudem als "sogenannt" weiter in Zweifel gezogen werden. Abgeschmeckt mit einer Prise Häme darüber, dass viel mehr versprochen worden war, wird aus der schönsten Absichtserklärung eine peinliche Pleite, über die sich jedermann freuen kann, der sich darüber geärgert hat, dass der Falsche das Richtige tut.

Das Böse in Wortgestalt 

Das Böse in Gestalt Trumps kann auch niemals einen Friedensplan vorlegen. Geschieht es dennoch, dann handelt es sich automatisch um einen "sogenannten Friedensplan". Das Wörtchen ist wichtig, es signalisiert Gänsefüßchen, Vorbehalte, einen Teufelshuf. Was "so genannt" wird, ist nicht wirklich. Was als "so genannt" durch die deutschen Medien geistert, muss mit spitzen Fingern angefasst werden. So genannt heißt Vorsicht. So genannt bedeutet, dass etwas mit einer Bezeichnung versehen ist, die nach Angaben von irgendwem, der gerade nicht genauer beschrieben werden kann, nicht zutreffen soll.

Von den sogenannten Klimaleugnern über den sogenannten Rechtsstaat Ungarn und die sogenannten Reichsbürger bis zur sogenannten Entlastung durch den Industriestrompreis lässt sich mit "sogenannt" alles infragestellen. Wer etwas so genannt hat, bleibt dabei generell außer Betrachtung. Kein Mensch muss wissen, wer Trumps Friedensplan so genannt hat. Klar ist, dass zwischen einem Friedensplan und einem so genannten Friedensplans ein Abgrund an begründeten Zweifeln klafft.

Die stille Meinungslenkung 

Die Vokabel mit ihren neun Buchstaben hat sich zu einer der wirkmächtigsten Waffen der stillen Meinungslenkung entwickelt. Wie der Begriff "umstritten", die verbale Variante des Zehenanhängers den Tote im Leichenschauhaus verpasst bekommen, wirkt sogenannt immer und überall. Die Zweifel, die der Fernsehansager Claus Kleber in einer ganz frühen Phase der Neuordnung der Meinungsfreiheitsgrade hatte untersagen lassen wollen, steigen überall dort automatisch auf, wo das Adjektiv auftaucht. 

"Sogenannt signalisiert Distanz, es markiert eine Zurücknahme des Gesagten oder Geschiebenen. Es entspricht in seiner Wirkung den auf dem Rücken gekreuzten Fingern bei einem heiligen Schwur, nur dass die Geste offen ausgeführt wird. Sogenannt sagt: Der folgende Begriff ist nicht objektiv, sondern nur eine Behauptung Dritter. Sogenannt schwört aber auch, dass es überflüssig ist, zu wissen, wer diese Dritten sind. Es wird, diese Botschaft steckt in jedem so genannt, überall so genannt.

Es kann nur so genannt sein 

Und in der Praxis ist es ja auch so. Vom ersten Moment an, in dem Gerüchte von einem neuen Friedensplan aus Moskau berichteten, kamen deutsche Medienhäuser von links bis rechts und von Gemeinsinnsendern bis zu privatkapitalistischen Medienheuschrecken zu einer stillen, aber allgemeingültigen Übereinkunft. Trumps Friedensplan ist ein "sogenannter". Egal, was am Ende drinstehen wird, das rhetorische Warnschild steht bereits: Achtung, hier wird etwas behauptet, das wir, die wir es besser wissen, für äußerst fragwürdig, übertrieben oder ideologisch belastet befunden haben.

Die Überzeugungskraft der kleinen Vokabel ist groß. Kaum liest oder hört er "sogenannt", wird der Leser oder Hörer skeptisch. Wenn doch jemand, den ich nicht einmal kenne, diesen Experten sogenannt" nennt, wie viel kann dann wohl dessen Urteil taugen? Und wenn ein Gefängnis "sogenannte Liebeszellen" wiedereröffnet, dann ist es sicher wie bei den "sogenannten Erntebescheinigungen". Das wird so genannt. Das heißt aber nicht, dass es wirklich existiert.

Der Riss in der Realität 

Wer das Wort "sogenannt" wahrnehme, erläutert Rainald Schawidow, spüre subkutan unmittelbar einen klaffenden Riss zwischen Realität und Gelesenem. Schawidows Bundesworthülsenfabrik (BWHF) empfiehlt die Verwendung des Begriffes deshalb schon seit Jahren dringend. "Der Anwender verfügt mit dem Wort über die Möglichkeit, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen", erklärt er. Sogenannt signalisiere, dass etwas ist nicht wirklich so sei, sondern "die" es nur so nennen. "Das Wort erzeugt Zweifel, ohne diesen Zweifel begründen zu müssen", sagt Deutschlands führender Worthülsenexperte. 

Das Beste daran sei der Umstand, dass "die", auf die sich der Verwender beziehe, nie genauer beschrieben werden müssten. "Das ist wie bei der Verwendung des Wortes ,gilt', das mittlerweile wie ein Konjunktiv von ist verwendet wird." Wer die jeweilige Geltung beschlossen habe, warum, wieso und mit welcher Bindungskraft, sei nebensächlich. "Gilt gilt einfach überall dort, wo gilt angewendet wird."

Es ist ein "gilt", nur genialer 

Auch bei "sogenannt" verhält es sich so. Doch im Unterschied zum wertfreien "gilt" und zum abwertenen "umstritten" ermöglicht "sogenannt" eine elegante Form der Denunziation. Sogenannt tarnt Werturteile als bloße stilistische Vorsicht. Es hat die definitorische Macht, die Deutungshoheit über Begriffe zu übernehmen, ohne sie durch Ersatzbegriffe angreifen oder durch Beweisführung widerlegen zu müssen. 

"Sogenannt" überzeugt durch Interpretationsspielraum: Jeder Leser wird in Sekundenschnelle davon überzeugt, dass es an ihm ist, den mit "sogenannt" markierten Tatbestand kritisch zu betrachten, weil er - die Bezeichnung sagt es ja - nicht ist, was er ist, sondern nur von irgendwelchen Leuten so genannt wird.

Zur Feindmarkierung empfohlen

Der Feind ist markiert. Das Medium bleibt sauber: Es hat ja nicht behauptet, es sei falsch, es hat es nur "so genannt" verwendet, die verbalen Anführungsstriche um alles. Die Verwandtschaft zu "umstritten" ist unübersehbar. Doch wo dieser politische Kampfbegriff im Kulturkrieg Frontstellungen mitbeschreibt, funktioniert "sogenannt" wie ein Geheimagent. Wer sogenannt benutzt, suggierter, dass er nur beschreibt, was die andere Seite sage – er legt aber nahe, dass diese Seite offensichtlich falsch liegt und aus unlauteren Motive heraus so spreche.

Das Raffinierte daran ist, dass nie gesagt, wer etwas so genannt hat. Die Konstruktion bleibt absichtlich nebulos, sie schafft es so, sich auf eine Instanz zu berufen, die mächtig genug ist, etwas zu bennenen, aber nicht wichtig genug, genannt zu werden. Dadurch entsteht der Eindruck einer anonymen, aber offenbar dummen oder bösartigen Gruppe, die sich diesen Begriff ausgedacht hat – während Medien ihn nur nachnutzen, um einen diffamierenden Nebel zu beschwören, gegen den sich niemand wehren kann. Sogenannt ist als ideologisches Markierungswerkzeug das linguistische Pendant zum Zeigefinger, der Unachtsame warnt: Glaube mir alles, aber glauben denen nichts. 

Freitag, 21. November 2025

Wehrkraft-Wumms: So kommt Deutschland aus der Krise

Mehr Rüstung bedeutet mehr Wohlstand.

Miese Stimmung im Land, schlechtes Wetter und in Berlin eine ratlose Regierungskoalition, die sich wegen der Beitragshöhe zur Rentenversicherung in zehn Jahren gegenseitig zerfleischt, obwohl jeder weiß, dass alle Pläne, Haltelinien und Begrenzungsbeschlüsse schon im kommenden Jahr hinfällig sein werden. Wenig Hoffnung auf Besserung herrscht, zudem heften zwei nahezu gleich große gesellschaftliche Gruppen sie an zwei diametral entgegengesetzte Erwartungen.

Die einen möchten alles kaputtschlagen und neu anfangen, mit einem kleinen, schlanken Staat. Die anderen drängen darauf, den Staat einfach in die Lage zu versetzen, die Unzahl an Aufgaben, die er sich aufgehalst hat, erfüllen zu endlich auch mal können.  

Auf dem Mittelweg in den Tod 

Kompromisse werden gesucht. Kompromisse  aber sind gerade zwischen gegensätzliche Positionen schwer zu finden. Und in der größten Not bringt der Mittelweg den Tod - ausgenommen in jenen seltenen Fällen, in denen  sich doch noch ein unerwarteter Ausweg findet, mit dem allen leben können.

In diesem Fall kommt er aus Grimma, wo sich das Climate Watch Institut (CWI) längst schon nicht mehr nur mit der großen Transformation, dem Klimaausstieg und dem Rückbau der Industrie beschäftigt. Institutschef Herbert Haase hat schon vor Monaten umgesteuert und sein Haus auf die neuen Herausforderungen des Rechtsrucks eingestellt. Statt mit Statistiken und Zahlen Zweifel am Klima zu nähren, haben CWI-Forschende bereits moderne schmerzfreie Steuererhöhungsmodelle vorgeschlagen und ebenso Maßnahmen gegen die grassierende Altersarmut.

Neue Studie zeigt Wehrkraft-Wumms 

Doch das seien Nischenideen gewesen, sagt Gründungsdekan Haase, der 2022 im Rahmen der Bundesbehördenansiedlungsoffensive von Angela Merkel nach Sachsen geschickt worden war, um dort neue, hochwertige Arbeitsplätze für Wissenschaftler aufzubauen, die in der Kohle nicht mehr gebraucht werden. Die neue Studie, unter dem Titel "Arms boom secures hundreds of thousands lives" im Wissenschaftsmagazin "Real Science Nature" veröffentlicht, geht grundsätzlichere Probleme an: Die Dauerkrise. Den Zusammenbruch der Wirtschaft in Zeitlupe. Die Machtlosigkeit der Parteien, denen bereits im fünften Jahr - die Merkel-Ära nicht mitgerechnet - nichts einfällt, wieder Dampf auf den Kessel zu bringen.

Deutschlands Autobranche schwächelt, die Stahlbranche wird nur noch von mutigen Managern wie Heiko Maas aufrecht gehalten. Die Chemie schließt Anlagen. Das Gastgewerbe eine Kneipe nach der anderen. Auch alle anderen Industriezweige stöhnen über Kosten und globalen Gegenwind, hohe Steuern, die Unfähigkeit der EU, ihre selbstgemachten Bürokratieregeln abzuschaffen, und den Drang des neuen Kanzlers, sich auf Nebenkriegsschauplätzen als tatkräftigen Anführer zu inszenieren.

Zuversicht im Gepäck 

Herbert Hasse aber hat Zuversicht im Gepäck. "Die Waffenbranche ist im Aufwind", sagt er, "und dort finden wir den Schlüssel zur Rettung."  Steigende Ausgaben für das Militär seien in Deutschland der  Studie seiner Kolleginnen und Kollegen zufolge jetzt schon der einzige Grund, warum sich die anhaltende Krise in den anderen Wirtschaftsbereichen nicht in den Arbeitslosenstatistiken zeigten. "Sie kann aber ein echter Jobmotor werden, wenn es gelingt, die direkten Verteidigungsausgaben nicht nur bei den bisher geplanten 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu belassen, sondern sie auf sieben bis 15 Prozent auszuweiten".

Die Rechnung, die Haase mitgebracht hat, ist einfach. Die bisherigen Investitionen in Panzer, Kasernen; Geschütze und Uniformen würden hierzulande bis 2029 schätzungsweise 144.000 neue Arbeitsplätze entstehen lassen, heißt es in der CWI-Studie. Hinzu kämen bereits bestehende Industriejobs, deren Erhalt durch die Rüstungsaufträge abgesichert wird, weil Autofabriken Panzer herstellen und Autozulieferer Drohnenteile bauen. In diesem Konversionsbereich rechnen die Studienautoren mit einem Job-Effekt von 360.000 Arbeitsplätzen, die erhalten bleiben können.

Doppelt hilft doppelt 

Doch es könnten viel mehr sein, sagt Herbert Haase. Wenn die großen Waffenschmieden wie Rheinmetall, KNDS Deutschland und Heckler & Koch mit größeren Auftragsvolumina versorgt würden, dann müssten sie auch ihre Kapazitäten ausweiten. Doppelt so hohe Ausgaben würden nach Einschätzung der Autoren dazu führen, dass statt einer halben Million lukrativer Arbeitsplätze im Verteidigungsbereich fast 750.000 entstünden. Die deutsche Wirtschaftsleistung im Jahr 2029 werde dann nicht nur um 0,7 Prozent höher ausfallen, sondern - höhere Staatsausgaben für den Kauf von Jagdflugzeugen, Schützenpanzern, Jeeps und Gewehren vorausgesetzt - um 1,2 Prozent. 

Mehr Extra-Geld für Waffen und andere Militärkosten bedeute mehr Wirtschaftswachstum. "Das Verhältnis ist recht linear, hat unsere Studie ergeben." Und das Verhältnis zwischen aus dem Fenster geworfenem Geld und staatlichen Erträgen in Form von Steuern und Abgaben seit "deutlich besser als alles, was wir derzeit sehen". Mit einer Neuverschuldung, die um 1,8 Prozent angestiegen sei, habe der Staat gerade mal ein schwächelndes Wachstum von null anregen können. "Da geht unglaublich viel verloren, weil das Geld einfach versickert."

Das Geld kehrt zurück


Statt Milliarden fordert Haase Billionen für ein modernes Militär. Man müsse nur einmal anschauen, was eine gezielte Ausweitung der bis 2035 geplanten direkten Verteidigungsinvestitionen der europäischen Nato-Staaten von knapp 2,2 Billionen Euro auf sechs, sieben oder acht Billionen auslösen könne. "Da das Gros der Investitionssumme an europäische Unternehmen fließt – lediglich etwa ein Drittel geht nach unserer Analyse an US-Firmen –, kehrt das Geld in Hülle und Fülle in die Staatskassen zurück", sagt der Fachmann. Kredite könnten so bedient, Schulden zurückgebaut und zudem wichtige Investitionen in die desolate Infrastruktur gestemmt werden. "Das ist eine absolute Win-Win-Situation."

Auch verteidigungstechnisch, das betont der Wahlsachse. Wenn ein deutscher Verteidigungsminister heute stolz auf 300 Panzer verweise, über die er vielleicht schon zwei, drei Jahre nach dem für 2029 erwarteten Angriff Russlands verfügen werden, "dann lachen im Kremlhof die Hühner". Müsse Putin aber erkennen, dass Deutschland gezielt und schnell darauf hinarbeite, sich wieder die 2.000 bis 3.000 Panzer anzuschaffen, die es vor 35 Jahren noch in die Schlacht hätte werfen können, sei das ein klarer Kompass, den "auch Putin lesen kann", wie Haase glaubt. 

Positiv für alle


Er sehe die Entwicklung der Rüstungsbranche deshalb im doppelten Sinne positiv für die ganze Wirtschaft. Auch wenn die 3.000 Leopard-Panzer alles in allem nur 100 Milliarden Euro kosten würden, lohne sich die Investition. "Durch die Unterhaltung, Pflege und Reparaturen stellt die Verteidigungsindustrie einen wirtschaftlich stabilisierenden Faktor dar, der selbst bei konjunkturellen Schwankungen alle europäischen Volkswirtschaften stützen wird." 

Haase rechnet vor allem anfangs mit deutlichen Wachstumsimpulsen dank der steigenden Rüstungsausgaben, später dann mit einer Transformation auf einem stabilen Level, das die großen Jobverluste in anderen Industriebereichen auffangen werde. "Sobald es zu Gefechten kommt, werden diese Bereiche aber strukturell weiter ausgebaut und personell aufgerüstet werden."

Der Sauger für alles 

Dass durch den Aderlass an Arbeitskräften in traditionell starken deutschen Branchen wie Auto- und Maschinenbau glücklicherweise viele fähige Facharbeiter und Ingenieure frei würden, treffe sich gut. "Die Rüstungsbranche wird die Leute alle aufsaugen", sagt Herbert Haase. Sei die Rüstung erst richtig in Fahrt gekommen, werde auch das Gemecker über hohe Strompreise, Lieferketten und bürokratisch Lasten enden. "Wir sehen ja beim geplanten Notfallsystem für Militärtransporte, dass im Namen der Verteidigungsfähigkeit selbst Ausnahmen bei Lenk- und Ruhezeiten, nationalen Melderegeln oder Umwelt- und Lärmschutzvorschriften genehmigt werden."

Tief im Digital: Gipfel der Illusionen

EU digitale weltmacht Digitalgipfel KI CDU 
Deutschland hebt ab: Mit dem 5. Digitalgipfel überwindet Europas stärkste Volkswirtschaft den Schock des Bühnensturzes von Digitalminister Peter Altmaier bei der Premiere der Zukunftsveranstaltung  vor sechs Jahren.

Deutschland hebt ab, nach nur einem Digital-Gipfel. Vorbei ist es mit Europas Abhängigkeit von der US-Techindustrie und ihren neuerdings überwiegend stockkonservativen Tech-Bros. "Wir können auch ohne euch", haben Bundeskanzler Friedrich Merz und sein französischer Kollege Emmanuel Macron nach ihrer Zusammenkunft mit den Giganten der deutschen High-Tech-Branche Richtung Washington, Seattle und Houston signalisiert.  

Acht Jahre nach dem Startschuss 

Noch sind Behörden und Firmen in der EU vollständig auf Programme, Chips und Geräte der großen amerikanischen Konzerne angewiesen. Aber die Beschlüsse des deutsch-französischen Gipfels in Berlin lassen keinen Zweifel daran: Acht Jahre nach dem europäischen Digitalgipfel von Tallinn, auf dem die EU-Staats- und Regierungschefs der EU 2017 beschlossen, die EU zur "digitalen Weltmacht" zu machen, geht es los. Der damals gefällte Beschluss, dass sich die 27 Mitgliedsstaaten "den Weg in die Gigabit-Gesellschaft bahnen" werden, steht wie in Stein gemeißelt.

Bis hierher war er allerdings  nicht einfach zu gehen gewesen. Erst ging es gar nicht richtig los. Dann stürzte Peter Altmaier 2019 auf dem historischen Digitalgipfel in Dortmund beim Verlassen der Bühne. 2021 wurde klar, dass sich Deutschlands Digitalstrategie von den Folgen nie erholt hat. Nachfolger Volker Wissing musste ganz von vorn starten, aber das ging nicht "analog". Digital aber ebenso wenig. Als die EU dem Ampelkabinett dann mit dessen Unterstützung auch noch eine vertrackte KI-Regulierung zwischen die Füße warf, pausierten die Bemühungen um technische Selbstversorgung. 

Die Zeit lief lange davon 

Erst sollten eigene Chips her, zuvor aber eigene Chipfabriken. Dann eine Kapitalunion und neue Fördertöpfe für smarte Gründer*innen. Beschlüsse selbst aber, wenn auch viele und gefällt auf allerhöchster Ebene, produzieren nichts. Das mussten EU-Kommission und Bundesregierung einmal mehr erfahren. Die Zeit lief davon, alle anderen wurden immer schneller, der dicke Dampfer Europa aber kam kaum noch hinterher mit seinen Versuchen, wenigstens die gröbsten selbstgemachten Schäden an der Hightech-Fassade zu verspachteln und mit einem frischen optimistischen Anstrich zu übertünchen.

Dann aber ging alles ganz schnell. Wo Peter Atmaier damals stellvertretend für Angela Merkel "die zweite Welle der Digitalisierung" zu "Europas Chance" erklärt hatte, kündigt diesmal Kanzler Merz selbst "erste Schritte zu mehr digitaler Souveränität an". Der Kontinent hat nichts, er kann nichts, er verfügt weder über Know How, Personal oder Patente. Auch die eigenen Cloud-Dienste, deren Bau und Betrieb Altmaier einst ausgerufen hatte, existieren bisher nur im Labormaßstab. Große Kunden wie die Bundeswehr haben sich inzwischen auf Jahre hinaus Trumps Freunden ausgeliefert. Selbst die immer noch teilstaatliche Deutsche Telekom liegt mit den Monstern aus Übersee im Bett.

Gipfel Nummer 5 

Aber der neuerliche Digitalgipfel, es ist wohl Nummer 5, schaffte es, aus nichts alles zu machen. Das Weltraumkommando der Bundeswehr wird Deutschland künftig auch im All verteidigen, obwohl es weder über Raumschiff noch über Raketen verfügt. Die erste "Weltraumsicherheitsstrategie" der Bundesregierung hat es so bestimmt. Genauso bestimmt das Primat der Politik, dass die fatale Abhängigkeit von Amerikas Technologien samt Donald Trump und seinen Tech-Bros von einer "digitalen Souveränität" abgelöst wird. Warum? Warum denn nicht. Alle machen das. Wie? Weil es so beschlossen ist.

Vom Altmaier-Schock hat sich Deutschland erholt. Doch die Details zum Umstieg sind noch geheim. Wie beim Energieausstieg soll der genaue Pfad im Gehen entstehen. Beim Gipfel wisperte es von eigener Software, eigenen Betriebssystemen, europäischen Handys. 

Auch um Altmaiers Cloud-Dienste ging es, auf deren Daten nur noch europäische Behörden Zugriff haben sollen, sobald es sie gibt. Dazu europäische Künstliche Intelligenz (EU-KI), ein volkseigenes X und ein eigenes Facebook, ein BrEUssel-Tiktok und ein europäisches Google. Das zu erfinden, hatte der frühere Klimawirtschaftsminister Robert Habeck längst vorgeschlagen.

Die Dinge kommen in Gang 

Aber erst jetzt, zehn Jahre nach der Entwicklung Websuche Open Web Index als mächtigem europäischen Gegenmodell zu Google, kommen die Dinge wirklich in Gang. Beim Digitalgipfel in der deutschen Hauptstadt ging alles ganz schnell. Die ersten 18 hochkarätigen Technologiepartnerschaften zur Entwicklung eigener KI-Anwendungen wurden in Berlin sofort abgeschlossen. Bei den Teilnehmern dieser Koalition der Willigen steht Europa im Wort: Die beim sagenumwobenen Gipfel in Tallinn versprochene  "tiefgreifende Überprüfung des derzeitigen Steuersystems", um eine Besteuerung von ausländischen Internet-Unternehmen als "Rückkehr zur Fairness" anpreisen zu können, steht noch aus. 

Hier muss viel passieren, um den einheitlichen europäischen digitalen Markt besser abzuschotten, den es nach Erkenntnissen von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen immer noch nicht gibt. Seit Monaten schon traut sich die EU-Kommission nicht mehr, das Thema weiterzuverfolgen. Ursula von der Leyen hat Angst, dass Donald Trump seine Drohung wahrmachen könnte, europäische Sondersteuern für US-Konzerne  sofort mit neuen Zöllen auf europäische Importe zu beantworten. 

Wollen ohne Können 

Wie also weiter? Nach vorn, nach vorn! Europa will, aber es kann nicht unabhängiger von den USA werden. Europa würde gern, aber es kann nicht ohne Laptops, Route, Handys und Chips aus China existieren. Die größten Unternehmen, die in Berlin mit ihren bekannten Namen den Schein eines ernstgemeinten Aufbruchs in die Unabhängigkeit wahren mussten, waren SAP und das französische KI-Start-up Mistral

SAP, vor 52 Jahren gegründet, ist Deutschlands größter Technologiekonzern. Er ist nicht einmal ein Zehntel so groß wie Alphabet, vor 17 Jahren gegründet. Mistral, Europa größte KI, bringt es auf einen Firmenwert von sechs Milliarden Euro. Für EU-Europa ein Riese. Gemessen an Anthropic, einem von vielen US-KI-Start-Ups, das seit der letzten Finanzierungsrunde 180 Milliarden auf die Waage bringt, ist der Stolz Frankreichs noch deutlich kleiner als SAP verglichen mit Alphabet, Meta oder Microsoft.

So souverän 

Beim "Zentrum für Digitale Souveränität der Öffentlichen Verwaltung" (ZenDis), einer schlanken bundeseigenen GmbH, die in den zwei Jahren ihrer Existenz vier Geschäftsführer verschlissen hat, wird der Gegenangriff auf die amerikanischen Giganten koordiniert. Während die 30 Mitarbeitend*en des ZenDis mit "OpenDesk" eine Office365-Alternative zusammenbastelten, die "in den meisten Fällen alles recht gut funktioniert" (Golem), stehen sie in den Startlöchern für noch Größeres. 

Der "zentrale staatliche Akteur für Digitale Souveränität in Deutschland" bricht mit seinen Produkten - neben "OpenDesk" gibt es auch noch die Appbibliothek "OpenCode" - kritische Abhängigkeiten auf, einfach "durch das Teilen von Code, Wissen und Erfahrungen". Die Plattform liefert damit nach Aussagen des Zentrum für Digitale Souveränität der Öffentlichen Verwaltung" nichts weniger als "die Basisinfrastruktur für eine souveräne Softwarelieferkette".

Das digital verwaltete Deutschland ist ein Spiegelbild der titanischen Anstrengungen der 30 Tapferen beim ZenDis. Die Digitalisierung schreitet hier schon seit fast 15 Jahren rasch voran: 2011 verkündete der heute längst vergessene Innenminister Hans-Peter Friedrich den Aufbau einer konzernunabhängigen Bundescloud an.  2015 wurde ihr Start vom Bundeskabinett als Maßnahme im Rahmen des Programms "IT-Konsolidierung Bund" beschlossen. Nur ein Jahr später bekam das Informationstechnikzentrum Bund (ITZBund) den Auftrag, loszulegen. Und 2018 bekam das private Stuttgarter Unternehmen Nextcloud - weltweit mehr als 100 Mitarbeiter in mehr als 20 Ländern - die Aufgabe übertragen, das zu übernehmen.

Uploadfilter gegen Meinungsfreiheit 

Der CDU-Politiker Axel Voss würde sich mehr Institutionen wünschen, die wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag direkt auf die staatlichen Plattformen und zu den staatlichen Programmen wechseln. Voss, bekanntgeworden durch seinen großen Einsatz bei der Einführung von Uploadfiltern und der Gelassenheit, mit der er auf die Gefahr reagierte, dass "deshalb die Meinungsfreiheit auch mal eingegrenzt wird", sieht nur Vorteile.

Wie viel einfacher wäre es doch, an Daten von Verdächtigen zu gelangen, wenn dazu nicht erst aufwendig Bittschreiben an US-Konzerne gesendet werden müssten! Die es gelegentlich auch noch ablehnen, die erwünschten Auskünfte zu erteilen. Die Quote von 84 Prozent erteilten Auskünften  bei den zuletzt 55.000 Auskunftsersuchen an Google, sie könnte viel höher sein.  

"Democratic Tech Alliance"

Voss gehört der "Tagesschau" zufolge mittlerweile zu einer Gruppe von Europaabgeordneten, die sich parteiübergreifend einer "Democratic Tech Alliance" angeschlossen haben. Die wirbt auf ihrer Webseite derzeit mit dem Aufruf "Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Ut elit tellus, luctus nec ullamcorper mattis, pulvinar dapibus leo" für Mitglieder, die "MEP name surname" heißen. An europäische Datenschutzvorgaben sind die nicht gebunden: https://democratic.technology hat weder ein Impressum noch wird ein Verantwortlicher benannt, es gibt keine Telefonnummer und keine Datenschutzerklärung. 

Muss auch nicht. Denn  die europäischen Digitalsouveränisten haben ihre Domain sicherheitshalber über den US-Dienstleister namecheap.com reservieren lassen. Immerhin gehört aber die Contabo GmbH, die die Seite hostet, nicht mehr dem brexitbritischen Finanzinvestor Oakley. Sondern der US-amerikanischen  Beteiligungsgesellschaft  Kohlberg, Kravis, Roberts, in Deutschland bekannter als die Heuschrecke KKR. Voss wünscht sich auch vom EU-Parlament ein solches Signal in Richtung der großen US-Unternehmen: "Wir können auch ohne euch."


Donnerstag, 20. November 2025

Blutzeuge Böhmermann: Entweder oder ohne mich

Jan "Böhmi" Böhmermann ist einer der wichtigsten Wahlkampfhelfer der AfD. Wenn sie an die Macht kommt, will er Deutschland verlassen. Seine Mission wäre dann auch erfüllt.

Sie lieben ihn, sie lassen sich von ihm unterhalten, bespaßen und informieren. Sie glauben, was er sagt, weil er es sagt. Wenn er ruft, dann sind sie zur Stelle. Und wenn er fordert, dann möchten sie, dass ihm sein Wunsch erfüllt wird. Jan Böhmermann betrachtet die Welt aus der Perspektive eines Bohemien. Die Leiden, die Lasten und die Ängste der einfachen Leute sind ihm Material für Schenkelklatscher auf Kosten von Minderheiten. Wo immer unzulässig vereinfacht werden kann, da tut er es. Wo sich eine Schuldfrage stellt, schiebt der Selfmade-Millionär aus Bremen die Reichen vors Loch.

Gift und Galle 

Der Possenreißer für  weiße Männer ist über Jahre zu einer Institution von Unseredemokratie geworden. Böhmermann spritzt Gift und Galle in die richtige Richtung. Böhmermann sät Hass und er erntet Zweifel, aber im Dienst der richtigen Sache. Das frühere SPD-Mitglied steht stellvertretend für eine Generation, die Ungleichheit nicht für eine Antriebskraft, sondern für einen Verbotstatbestand hält. Er jüngst deckte Böhmermann auf, dass es in Deutschland unterschiedliche Gewerbesteuerhebesätze gibt und sich viele Firmen absichtlich dort ansiedeln, wo sie niedrig ausfallen.

In seinem "ZDF Magazin Royal" prangerte der 44-Jährige diese "Steueroasen" an;: Gemeinden, deren Hebesatz niedriger ist als der durchschnittliche Hebesatz in Deutschland, so die Botschaft, dürfe es nicht geben, weil dadurch Milliarden an möglichen Steuereinnahmen wegfielen. Mehr Steuern aber sind gut, weniger Steuern schlecht.

Die gute alte DDR 

Jan Böhmermann verwies auf die gute alte DDR, die eine einheitliche Substanzsteuer auf das Vermögen von natürlichen und juristischen Personen als Gewerbekapitalsteuer und eine Gewerbeertragsteuer auf die definierte Ertragskraft eines Gewerbebetriebes erhob. Im Gegensatz zur ungerechten und spalterischen Regelung im neuen Deutschland stand das Aufkommen nicht den miteinander um die Einnahmen konkurrierenden Gemeinden zu, sondern dem Finanzminister. Dementsprechend lag der Hebesatz einheitlich bei 400 Prozent ab einer großzügigen Freigrenze von 3.000 Ost-Mark.

Warum, nicht wieder so? Warum nicht alles über einen Kamm scheren, alles in eine zentrale Kasse packen, ARD und ZDF zusammenlegen und auch mich, so sprach Jan Böhmermann, nur noch so bezahlen wie andere Bundeskanzler, Minister und Bundespräsidenten? Als einer der immer noch Jungen im Gemeinsinnfunk ist Böhmermann eine Säule des Wiederaufbaus, vor dem ARD und ZDF stehen, nachdem auch Brandenburg die radikalen Neuordnungspläne der beiden neuen Medienstaatsverträge zugestimmt hatte.

Doch im Unterschied zu Louis Klamroth, dem umstrittenen ARD-Quotenkönig am Montagabend, dessen neuer Vertrag ihn zum Sebastian Lege des Ersten machen wird, hat Böhmermann noch nicht entschieden, wie es mit ihm weitergehen soll.

Sein Vertrag läuft aus 

Ende des Jahres läuft der Vertrag des multitalentierten TV-Künstlers, Musikers und Ansagers aus. Ob das Interesse den studierten Historiker, Soziologen,  Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftler ohne Abschluss weiter verpflichten will, ist unklar. Böhmermann selbst, in den vergangenen Jahren ein großer und besonders wichtiger Wahlkampfhelfer der Rechtspopulisten und Faschisten in Deutschland, hat seine Vertragsverhandlungen jetzt mit einem "offenen Gespräch" in der "Süddeutschen Zeitung" eröffnet, das er nutzt, um Alexander Gorkow und Nils Minkmar seinen Mut, seine Unerschrockenheit und seine ungebrochene Schaffenskraft zu beschreiben.

Als einer der ersten Kulturschaffenden in Deutschland, die die rechte Strategie des Versteckens spalterischer Botschaften hinter einer vermeintlich humorigen Fassade in einem großen Sender nutzen durfte, der selbst den Bundespräsidenten zu seinen freien Mitarbeitern zählt, sieht sich Böhmermann nach Ablauf seines letzten Drei-Jahres-Vertrages noch lange nicht am Ziel. Er ist ein "Mann unter Strom", getrieben von Allmachtsfantasien, dem "alles immer wichtig" ist, wie die beiden SZ-Autoren schreiben. Vor allem er selbst.

Reizfigur Nummer 1 

Seit Böhmermann den Boden des Anstandes mit dem Vortrag seines sogenannten Schmähgedichts auf Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2016 verlassen hat, gefällt der Teilzeitmusiker, Sänger und Kurator als antisemitisch kritisierter Kunstschauen sich als Deutschlands Reizfigur Nummer eins. Nichtbeachtung ist die Höchststrafe. Selbst den Schaden, den seine Bemühungen, die Deutschen für eine von oben nach unten klar geordnete Gesellschaft zu begeistern, wie er sie gern hätte, nimmt der von seinen Anhängern "Böhmi" genannte Moderator hin, wenn ihm dafür Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Er ist wie Jette Nietzard, wie Ruprecht Polenz, wie Markus Söder und Luisa Neubauer. Auch Böhmermann lebt nur, wenn er gesehen wird, gehört und angegriffen. Seine Person besteht aus dem, was er selbst "die öffentliche Projektionsfläche und öffentliche Figur Jan Böhmermann" nennt, ein Kunstwerk, auf das "verhetzte Rentner" (Böhmermann) mit Wut reagieren, die sich aus der Ohnmacht speist, sich Woche für Woche von einem wie Böhmermann die Welt erklären lassen zu müssen, ohne auch nur einmal sagen zu dürfen: Das stimmt doch alles gar nicht.

Helöd seiner eigenen Sage 

In der SZ berichtet der Held der großen Böhmermann-Saga selbst von seiner Erkenntnis, gewonnen auf einer Rollerreise von Köln nach Chemnitz, mitten hinein ins dunkle Herz Deutschlands, wo sie Menschen anderen Aussehens jagen und abends in Nazi-Uniformen um braune Brauchtumsfeuer stehen, Heino-Lieder singend. "Es ist alles in der Realität nicht 20 Prozent so schlimm, wie uns das Internet glauben machen will", hat Böhmermann bemerkt. Unterwegs habe er sich - er spricht im Interview von sich als "Wir", denn natürlich war die Reise ein Teamevent - in kleine Pensionen gewagt, "auf dem Land, manchmal ohne Reservierung". In Chemnitz angekommen, sei er dann "erleichtert über die große Diskrepanz zwischen dem digitalen Zerrbild und der optimistischeren deutschen Wirklichkeit". 

Die Menschen da draußen, sie sind gar nicht so schlimm, wie es immer im Fernsehen kommt, auf das Böhmermann als Fernsehschaffender allerdings nicht kommen lassen darf - die Vertragsverhandlungen stehen bevor. "Das Problem ist nicht nur der Journalismus, das Problem sind zuerst die digitalen sozialen Medien", sagt er deshalb und er beschreibt offenherzig seine übliche Arbeitsmethode: Ein bisschen Fakt, viel Meinung, gewürzt mit einer kräftigen Prise Zynismus, umgerührt mit dem Löffel der totalitären Ideologie, der Millionen bis heute zutrauen, Menschen eines Tages doch noch zu ihrem Glück zwingen zu können. Und fertig ist ein Stück, das "schön klickt" (Böhmermann).

Ein Medienphysiker 

Die digitale Welt habe ihre vollkommen eigene Physik, erklärt der Mann, der es wissen muss. "Sie erzeugt Wut – aus dem einzigen Grund, dass sie genau davon lebt." Aus seiner Arbeit beim ZDF wisse er, dass "klassische Medien das im schlimmsten Fall blind übernehmen, aus Angst sonst nicht mehr up to date zu sein." Daraus werde eine Journalismus-Simulation, die wie im jüngsten "ZDF Magazin Royale" aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Kommunen die Möglichkeit gibt, über ihre Gewerbsteuerhebesätze selbst zu bestimmen, einen Skandal um vermeintliche Steueroasen zimmert.

Dass die Methode im Netz analysiert und kritisiert wird, gefällt Jan Böhmermann gar nicht. Der erklärte Feind der freien Meinungsäußerung, wie sie viele missgeleitete Menschen verstehen, hat sich früh gegen soziale Netzwerke positioniert, auf denen jeder sagen und schreiben kann, was er will. Elon Musk solle "sich ficken gehen" übertrat Böhmermann bewusst eine Grenze des Sagbaren, die in Deutschland vom Jugendschutz gezogen wird. 

Vergeblich. Musk blieb. Jetzt fordert sein mächtiger Gegenspieler aus Mainz deshalb eine zwingende und harte Regulierung aller Plattformen, "die gewerbsmäßig Inhalte verbreiten". Und er ruft "Politiker, Abgeordnete und Minister, Behörden, alle staatlich finanzierten Institutionen" auf, sich dort umgehend abzumelden. 

Böhmermann, der TikTok-Star 

"Warum hängen Staatssekretäre und Bürgermeisterinnen auf Twitter herum? Warum sind Abgeordnete auf Tiktok?" Warum bespielt das ZDF Youtube? Warum unterhalten deutsche Gebührensender Accounts beim chinesischen  Überwachungsportal TikTok? Warum treibt sich selbst Jan Böhmermann dort herum? Was macht er auf Instagram, einer Tochter des berüchtigten Facebook-Konzerns, dessen Chef Mark Zuckerberg sich zuletzt demonstrativ abgewandt hatte von der deutschen Definition der Meinungsfreiheit?

Im Interview spricht Böhmermann nicht darüber. Er beschreibt lieber X, das "braune Loch", aus dem eine "Todesspirale" wird, wenn Medien skrupel- oder kenntnislos ungeprüft weiterverbreiten, was dort geschrieben steht. 

Er würde das alles unter scharfe Kontrolle stellen, die Macht der Netzwerke abschalten, den "zerstörerischen Algorithmus" in die Hände des Volkes legen, vielleicht vertreten durch die Rundfunkkommission, den Fernsehrat oder die EU. So lange jeder die Chance habe, für ein paar Minuten groß rauszukommen, über "diese Guerillamedien", dann, sagt Jan Böhmermann, "schadet das der politischen Kultur massiv!" Jeder Klick, den jemand anderes bekommt, ist einer weniger bei ihm.

Die Zeit wird knapp 

Das muss jetzt, die Zeit wird knapp. Selbst in seiner Blase aus festgefügten Vorstellungen spürt Jan Böhmermann, wie der Wind sich dreht. Schon länger als ein Jahrzehnt sendet er gegen den Rechtsruck an, mal klagend, mal jammernd, mal möblierend. Und was hat es gebracht? Heute gilt Jan Böhmermann als einer der wirkungsmächtigsten Wahlhelfer der in zeitweise als in Gänze gesichert rechtsextremistisch eingestuften AfD. 

Und seine Verzweiflung darüber ist so groß, dass er jede Taktik beiseite schiebt und nach dem Start eines Verbotsverfahren ruft, ganz egal, wie dessen Erfolgsaussichten stehen. "Wir sind doch keine Weicheier! Wir sollten das dringend erforderliche Verbotsverfahren nicht nur unter dem Angsthasen-Blickwinkel betrachten: Klappt das oder nicht? Wir sollten den Rücken durchdrücken und sagen: Wir, die wehrhaften, mutigen Demokraten, werden das natürlich schaffen."

Aufruf zur Wahl der AfD

Geht es an der Urne schief und auch in Karlsruhe, käme für ihn nur noch Plan B infrage. Bei einem Wahlerfolg der AfD werde er Konsequenzen ziehen, wie "viele Menschen" (ZDF), die "derzeit schon  überlegen, im Fall einer Regierungsübernahme durch die AfD das Land zu verlassen" (SZ). Böhmermann sieht sich heute schon als Blutzeuge des politischen Bebens: "Wir öffentliche Menschen, wir laufen voran mit unseren Visagen – und wir bekommen es dann auch ab", sagt er, ohne das Land, in das er auswandern wird, schon zu verraten.

Die Lage ist ja vielerorts im Fluss, mancher Staat, der eben noch lockte, stürzt im nächsten Moment ab in eine Diktatur, fest in den Händen von Nazis und Faschisten. Sein Angebot an viele, die ihn nicht mehr sehen können, steht: Vertragsverhandlungen hin oder her, der neue Vertrag ab Januar mit Laufzeit wie auch immer - wählt die AfD, dann seid ihr mich los.