Freitag, 7. November 2025

Zeit-Befragung: "Ich habe erlebt, wie Rechte gemacht werden"

Als Hartmut Ferworn den Mitte-Test der "Zeit" absolviert hatte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.

Alle berufen sich darauf, selbst die Randparteien links und rechts beschwören, sie stünden keineswegs am Rand, sondern allerhöchstens am Rad der Mitte. Die ist seit einiger Zeit der ultimative Götze einer politischen Klasse, die sich selbst die Aufgabe gegeben hat, über die Zugehörigkeit zu Unsererdemokratie zu entscheiden. 

Wer dazugehört, darf mitreden. Neben denen aber, die wegen ihrer Ansichten aussortiert werden müssen, darf sich nicht einmal mehr jemand im Stadtbild zeigen. Er läuft sonst Gefahr, sich mit Radikalität zu infizieren und zu denen gerechnet werden zu müssen, mit denen keine Diskussion mehr möglich ist.

An der Grenze des Mittigen 

Wo aber verlaufen die Grenzen? Wer steht noch auf der richtigen Seite der Brandmauer und wer ist schon verloren wie die mehr als 35 Prozent der Deutschen, die die trotzig zugeben, sie wollten bei der nächsten Gelegenheit ganz rechts außen oder aber ganz links wählen. Die renommierte Wochenschrift  "Die Zeit" fand, es sei höchste Zeit, es mit einer aufwendigen Umfrage herauszufinden. Der Experimentalaufbau ist einfach: Eine Handvoll Fragen wie "Sind Sie für ein Tempolimit", "Sind Sie für eine härtere Migrationspolitik" und "Sind Sie für eine Absenkung des Bürgergeldes" geben in der Gesamtschau eine Antwort auf die Frage, ob einer noch zur politischen Mitte gehört. 

Die hat die "Zeit" vorab durch eine repräsentative Umfrage unter 7.000 Menschen bestimmen lassen, die auf Daten der German Longitudinal Election Study (Gles) beruhen, einem Gemeinschaftsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung und des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (Gesis). Was die Mehrheit dieser Befragten sagt, gilt amtlich als die "Mitte" Deutschlands. 

Wer auf der Skala nach links abweicht, ist folglich ein Linker. Wer nach rechts tendiert, aber ein Rechtsextremer. Migration, Klima und Wirtschaft werden wild abgefragt. Wer nicht genau aufpasst, den führen die Tester in die Irre, weil nicht alle rechten Antworten mit einer Verschiebung von teils teils nach rechts zu beantworten sind und nicht alle linken Thesen links zu finden. 

Viele rechte Antworten 

Und was heißt überhaupt "rechte" Antworten? Bei der "Zeit" etwa, dass die Entscheidung zwischen  "Weniger Steuern & Sozialleistungen" und "Mehr Steuern & Sozialleistungen" oder die gegen ein Tempolimit den Befragten als Rechten outet. Begriffe wie liberal, freiheitlich, individualistisch und unwillig, staatliche Überregulierung zu ertragen, kennt das Blatt nicht. Der Kollektivismus steht hier immer gegen den Individualismus, der starke Staat gegen das Verlangen nach privatem Glück ohne Gängelung. Wen es aber danach verlangt, der ist - politisch gesehen  - ein Rechter.

Für Hartmut Ferworn, der bei der Deutschen Bahn als Speisewagenkellner arbeitet, war der Test ein erschütterndes Erlebnis. "Ich habe erlebt, wie Rechte ‚gemacht‘ werden", sagt er, noch sichtlich geschockt. Ferworn hatte sich bis zu seiner Mitte-Prüfung für einen entspannten Demokraten gehalten. 

Der gelernte Koch aus den neuen Bundesländern verweist darauf, dass er im Verlaufe seines  Lebens schon viele Parteien gewählt hat, von der SED über die CDU und die SPD bis hin zu den Grünen, den Liberalen und, in seinen Jahren in Bayern, auch einmal die CSU.  "Ich bin so viel Mitte, wie man nur sein kann, davon war ich überzeugt". 

Der Algorithmus widerspricht 

Zumindest bis zu dem Moment, in dem der "Zeit"-Algorithmus sein Testergebnis ausspuckte. Ferworn, geboren in Leipzig, ehemals Mitglied der SED, glücklich verheiratet, drei Kinder, fand sich ganz rechts außen in der grafischen Darstellung. Ein Schock. Obwohl nicht einmal nach seiner Meinung zur Stadtbild-Debatte gefragt worden war, "da hätte ich schon einig Bammel gehabt, weil wir ja im Beruf viel erleben", sagt er, sprachen ihm die Tester seine Zugehörigkeit zur Mitte ab. Ferworn erspähte das "Sie", das seine politische Verortung anzeigt, ganz außen. Begleitet vom Hinweis "0 % rechts neben Ihnen".

Es war ein Augenblick in seinem Leben, an den er vermutlich ewig zurückdenken werde, sagt Mann, der sich unversehens zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt fand. Seine damals gesellschaftlich durchaus geachtete Zustimmung zu Gerhard Schröder, der sich als "Kanzler der Mitte" in sein Herz geworben hatte, nur eine Anwandlung. Sein Glaube an die Merkel-CDU, die ihn mit ihrer Selbstbezeichnung als "Die Mitte" abgeholt hatte, ein Fake. Seine Sehnsucht, so wie früher auch heute wieder zu denen zu gehören, die dort sind, wo alle sind, und glauben, was alle glauben, bitter enttäuscht. 

Sehnsuchtsort Mitte


Die politische Mitte war der Sehnsuchtsort dieses einfachen, hart arbeitenden Mannes aus dem Volk. Wie konnte einer wie ich, habe er sich gefragt, im amtlichen Mitte-Test so weit außen landen? Welche radikalen Anwandlungen habe er, welche extremistischen Vorlieben, welche Fragen, "dachte ich, haben mir denn nur das Genick gebrochen?" 

Niemals im Leben habe er in sich aufrührerisches Begehren verspürt. Selbst bei der friedlichen Revolution damals in der DDR sei er erst mit auf die Straße gegangen, als alle unterwegs waren. Dass er nun gebrandmarkt sei als einer, der die erste wirkliche und dauerhafte deutsche Demokratie von rechts außen aus zerstören wolle, empfinde er als kränkend.

Er tickt wie die Mitte 

Ferworn hat lange gegrübelt, er hat sich selbst befragt und seine Verortung inmitten der Verteilung der politischen Einstellungen im Land wieder und wieder mit der seiner Nachbarn, Kollegen und Freunde verglichen. Bei welchen Themen liege ich denn bloß am Rand, marterte er sich in schlaflosen Nächten. Warum tickt die wirkliche Mitte des politischen Spektrums so anders als ich? Mit seinem ausgleichenden Wesen, das sei ihm vielmals bescheinigt worden, widerstrebe ihm jede Maßlosigkeit. "Niemand hat mich bisher einen Exzentriker oder Radikale genannt."

Es brauchte einige Zeit, bis ihm ein Verdacht kam. Kurz vor seinem Selbsttest, den er  während eines Spazierganges in Budapest absolvierte, wo er einige Stunden Aufenthalt gehabt hatte, sei ihm von einem unbekannten Deutschen "mit Leipziger Dialekt"  eine Tasse Kaffee angeboten worden. Zudem spendierte ihm und eine Ungarin eine Mentholzigarette, die er arglos annahm. Ferworn wusste nicht, dass diese Art Rauchwerk seit dem Tod des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt europaweit verboten ist. 

Lohn für den Verrat 

Dass er sich an die Beantwortung der "Zeit"-Fragen nur dunkel erinnern könne, liege wohl daran, dass man ihn betäubt habe. Was ihm später beim Grübel wieder eingefallen sei: Der Mann mit dem Leipziger Idiom habe am Rande seines Sichtfeldes einen ganzen Packen Geldscheine entgegengenommen. Mutmaßlich als Lohn dafür, dass er Ferworn zu falschen Antworten verleitet hatte.

Nichts illustriert das besser als diese Geschichte, mit welchen Mitteln Menschen der Mitte entfremdet werden, um die radikale Rechte stärker wirken zu lassen als sie wirklich ist. "Ich weiß mittlerweile, dass es anderen ähnlich ging", sagt Ferworn, der eine Selbsthilfegruppe für missbrauchte Mitteanhänger gründen will. "Menschen wie ich verlieren ja in der Regel in Windeseile Freunde, oft auch die Familie, manchmal den Job, auf jeden Fall aber ihren guten Ruf." Seine Gruppe wolle anderen helfen, die es "genau so erwischt" habe, wie Ferworn formuliert. "Gemeinsam sind wir stark", hofft er.

Betroffene wehren sich 

Als Betroffener einer von ihm selbst als ungerecht empfundenen "Zeit"-Brandmarkung, die ihm ein bürgerliches Leben nahezu unmöglich mache, wisse er, wovon der spreche. "Wenn sich Einordnungen ändern, ohne dass sich Überzeugungen geändert haben, dann muss man davon sprechen, dass sich die Diskursebene verschiebt", sagt er. 

Dass die Mitte von gestern heute der ausgegrenzte Rand sei und er als langjähriger treuer Wähler Union und SPD für Positionen angegriffen werde, die vor 20 Jahren noch gesellschaftlicher Konsens gewesen seien, habe sein Selbstbild erschüttert. "In jeder Diktatur werden Demokraten unweigerlich zu Extremisten erklärt", beschreibt er, "doch dass eine Demokratie Demokraten zu Extremisten macht, das hätte ich nie erwartet".

Ferworn hat lange darüber nachgedacht, ob er seine illiberalen und menschenfeindlichen Ansichten ändern solle, um die liberale Demokratie zu stärken. "Machbar wäre das, weil meine Festlegung auf niedrige Steuern, ein niedriges Bürgergeld und dafür hohe Geschwindigkeiten auf der Autobahn und bei den Abschiebungen für mich keine Glaubenssätze sind." Allerdings gehe es ihm nach seiner Verurteilung als Faschist und Rechtsextremist inzwischen ums Prinzip. "Ich denke, ich werde meine Ansichten nicht ändern, sondern einfach warten, bis sie wieder das geworden sind, was die demokratische Mitte insgesamt kennzeichnet."

Die versteckte Mitte 

Aus Hartmut Ferworns Sicht kann das nicht mehr lange dauern. Seit er sein Untersuchungsergebnis in den sozialen Netzwerken veröffentlicht habe, bekomme er Zuspruch und Aufmunterung von allen Seiten, sagt er. Nicht nur Menschen, die im Test ebenso wie er durch falsche Überzeugungen oder - wie in seinem Fall - versteckte Manipulation versagt haben,  sprächen ihm Mut zu. "Es schreiben mir auch viele aus der versteckten Mitte, der distanzierten Mitte und der deutschen Mitte." 

Diese Mitbürgerinnen und Mitbürger seien meist überzeugt davon, dass sich jeder selbst für jemanden halten dürfe, der politisch genau in der Mitte stehe, solange ihm kein Gericht strafbare Ansichten oder gar ein strafbares Tun gerichtsfest nachgewiesen habe. "Eine ältere Dame, die früher eine Gaststätte betrieben hat, sagte mir, dass in einer Demokratie alles Mitte ist, was sich an die geltenden Gesetze halte." 

Daran ändere auch der Versuch eines großen Medienhauses nichts, bestimmte legale und vernünftige Auffassungen wie den Wunsch nach niedrigen Steuern, niedrigen Staatsausgaben und einer an den gesetzlichen Vorschriften orientierten Migrationspolitik an den rechten Rand zu drängen. "Sie meinte, wir Betroffenen sollten stark bleiben und uns nicht kleinmachen lassen von Menschen, die  die Gesellschaft spalten wollen, indem sie sich anmaßen, bestimmen zu können, was Mitte ist."

EU-Planwirtschaft: Immer schöner Scheitern

Niemand weltweit plant besser und langfristiger als die EU. Seit dem Ende der DDR ist die Gemeinschaft allerdings auch führend beim Verpassen ihrer Planziele.

Es ist die Tragik aller großen Planer, aller Visionäre und Erfinder, die vor ihrer Zeit kommen - oder viele Jahre zu spät.  Mutig hatte die damals noch ihre erste Amtszeit abdienende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor drei Jahren das große Ziel ausgerufen, Europa bei der Herstellung moderner Mikrochips zu einer Weltmacht zu machen. 

Bis zum Jahr 2030 würde der Kontinent einen stolzen Weltmarktanteil von 20 Prozent erreichen, bestimmte die Frau, die immer dort am lautesten ist, wo die aktuellen Nachrichtensendungen akuten Rettungsbedarf anmahnen. 2022 war das gerade im Halbleiterbereich der Fall. Lieferketten waren gerissen. Fabriken mussten aus Mangel an Vorprodukten Kurzarbeit einlegen.   

Fortgesetztes Scheitern 

Nie wieder, rief von der Leyen aus Brüssel, als sie ihren Chips Act vorstellte. Statt auf China, die USA und Taiwan angewiesen zu sein, würde die Gemeinschaft sich ihre Chips künftig selbst backen. Erreicht würde das werden, auf diese Art hat die EU schon zahllose andere Probleme gelöst, mit Milliarden und Abermilliarden.  Was man selbst nicht hat, muss man kaufen - und die Mitgliedsstaaten sollten nun Investoren einkaufen. 

Heute unvorstellbar, denn kürzlich erst hat Bundeskanzler Friedrich Merz bekanntgegeben, dass sich die  Anfragen potenter Ansiedelungswilliger in seinem Kanzleramt stapeln. Damals aber, die SPD regierte gemeinsam mit Grünen und SPD und das wirkliche Projekt war gerade erst gestartet (Karl Lauterbach), hielt sich das internationale Großkapital zurück.

Überredungskunst mit Milliarden 

Erst Klimawirtschaftsminister Robert Habeck gelang es schließlich, den US-Riesen Intel mit zehn Milliarden dazu zu überreden, selbst auch zehn  Milliarden in den Bördesand bei Magdeburg zu setzen. Ein Strohfeuerchen, denn nach der aufwendigen und liebevollen Umsiedlung einiger Dutzend Feldhamster waren Geduld und Finanzkraft der finanziell angeschlagenen Amerikaner erschöpft.

Ein Pfeiler der europäischen Chip-Strategie brach zusammen. Und in seinem Gefolge  auch der Traum von der Halbleiterresilienz. Drei Jahre nach dem European Chips Act ist wieder Kurzarbeit wegen Mikroelektronikmangel. Wieder werden Resilienzpläne ausgerufen. Und wieder fällt der Blick eher scheel auf das bislang schon Erreichte: Auf halbem Weg nach 2030 steht jetzt fest, dass die EU ihr Ziel zum Ausbau der Chipproduktion deutlich verfehlen wird. 

Drei der acht Jahre des Planungszeitraums sind vergangen. Gelungen ist der Baustart für zwei neue Chipfabriken des deutschen Herstellers Infineon und des taiwanischen Konzerns TSMC in Dresden, drei andere first-of-a-kind semiconductor facilities (EU) bauen STM Microsystems, Silicon Box und Osram in Italien und Österreich. Das wars.

Sie ahnten nichts 

Damals, im Januar 2022, konnte noch niemand etwas von ChatGPT, Gemini und Grok ahnen. Die erste große KI wurde von OpenAI erst im November vorgestellt. Eine Sensation, von der in der EU niemand etwas geahnt hatte, als die hochrangigen Experten der 27 Mitgliedsstaaten am Chips Act schmiedeten. Der kam so von Anfang an ohne die Planung von Fabriken für Hochleistungschips aus. Nvidia, Blackwell, KI - in Europas wichtigster Zukunftsplanung kommen die Worte nicht vor.

Die Kommissionsvision war die einer Resilienz bei Feld-, Wald- und Wiesenchips, den Bauteilen, die in Küchenmaschinen und Autoteilen verbaut werden. Hier sollte der frühere High-Tech-Kontinent seinen Weltmarktanteil von unter zehn auf 20 Prozent erhöhen. Nach einem Drittel des Planzeitraumes wären heute zwölf Prozent abzurechnen. Aber auch das ist dann wieder schiefgegangen. Zwölf Prozent sind jetzt, etwas leiser verkündet, das Ziel für 2030, wenn auch nicht ganz. 

11,7 statt 20 Prozent 

Auf nur noch 11,7 Prozent hat die EU-Kommission in einer Antwort auf eine Anfrage des FDP-Europaabgeordneten Moritz Körner den realistisch erreichbaren Marktanteil der EU bei der Halbleiterproduktion im Jahr 2030 taxiert. Wenn alles gut geht.

Von 20 Prozent ist nicht mehr die Rede. Und schon gar nicht davon, angesichts der neuen Welle an Hightech-Chips für KI-Anwendungen eigentlich ganz neue und noch viel ehrgeizigere Ziele ausrufen zu müssen. Nach der Absage von Intel und dem Scheitern von Wolfspeed hat der deutsche Bundeskanzler zwar die Lautsprecher aufgedreht. Er liest jetzt die alten von-der-Leyen-Reden vor, in denen von "Mega-" und "Gigafabriken" und von digitaler Souveränität die Rede ist und wie wichtig und bedeutsam sie doch wäre. 

Derweil bleibt Europa so weit im Staub der KI-gestützt abhebenden Volkswirtschaften in den USA und in China zurück, dass die halbamtliche deutsche "Tagesschau" stolz vom Vorhaben der teilstaatlichen Deutschen Telekom berichtet, ein "riesiges KI-Rechenzentrum" bei München errichten zu wollen. 

Ein zwergenhafter Riese 

Die gefeierte Riesigkeit drückt sich in nackten Zahlen so aus: Die Serverfarm, der nachgesagt wird, die deutschen KI-Kapazitäten glatt zu verdoppeln, wird etwa eine Milliarde Euro kosten und mit "bis zu 10.000 Spezialprozessoren von Nvidia ausgestattet". Vorgelesen in der "Tagesschau", klingt das wie ein wegweisender Triumph. 

Doch bei Lichte betrachtet ist es das Eingeständnis der eigenen Verzwergung: Das "riesige KI-Rechnzentrum" liegt damit etwa 67 Milliarden Euro unter den KI-Investitionen, die allein der Facebook-Konzerne Meta tätigt. Und im Ergebnis wird das "Großprojekt" (Table Media) gegen wirkliche Großprojekte, die mit 100.000 oder noch mehr Blackwell-Prozessoren arbeiten, wirken wie ein Tachenrechner.

Von Berlin bis Brüssel ist jedermann klar, dass auch der große Chip-Plan wieder in die Hose gegangen ist. Das hat in der Planungsgemeinschaft von Lissabon bis Athen, hoch nach Vilnius und quer rüber nach Irland eine lange und ehrwürdige Tradition. Noch niemals in ihrer Geschichte seit der Unterzeichnung der Maastricht-Verträge am 7. Februar 1992 ist es der Wertegemeinschaft gelungen, irgendeines ihrer langfristig und ehrgeizig geplanten Ziele zu erreichen. Die Geschichte der EU ist vielmehr die eine fortgesetzen, systematischen und immer wieder stoisch hingenommenen Scheiterns an jedem einzelnen großen Vorhaben, das sich die Mitgliedsstaaten gemeinsam vorgenommen haben.

Maastricht als Muster 

Der Maastricht-Vertrag selbst liefert das Muster, nach dem alles abläuft. Knallhart schrieb der Vorgabe  fest, die jeder Staat zu erreichen versprach. Keine Schulden über Höhe X, keine Staatsausgaben über Höhe Y.  Hätten die Väter und Mütter der EU nicht wohlweislich von Anfang an mit Absicht vergessen, Regeln zum automatischen Ausschluss vertragsbrüchiger Staaten in die Verträge zu schreiben, wären von den bislang 28 Mitgliedsländern heute nicht mehr 27, sondern allenfalls noch ein Dutzend übrig.

Das Beeindruckende an der dysfunktionalen Planwirtschaft der EU aber ist, mit welcher Grandezza ihre Kommissionspräsidenten, Kommissare, EU-Ratsmitglieder und EU-Parlamentsvertreter immer weiter machen. Nachdem die Lissabon-Strategie, die die EU in den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt verwandeln sollte, schmählich gescheitert war, wurde nicht an der Art und Weise der Führung durch planwirtschaftliche Vorgaben gezweifelt und auch die  Leitungstechnik nicht geändert. Lissabon verschwand still und leise und die nächste große Strategie namens "Europa 2020" sprang wie das Kaninchen aus dem Zylinder. 

Absehbare Misserfolge 

Mit absehbarem Misserfolg, aber erwartbaren Folgen. Niemand rührte am seligen Schlaf der gescheiterten Träume. Jeder wusste, dass eine öffentliche Endabrechnung der erzielten Erfolge kein gutes Licht auf die vielbeschworenen europäischen Institutionen werfen würde. Die Schlüsse liegen seit Jahren auf der Hand: Der Dampfer EU ist zu groß, zu behäbig. Die Signalleitungen innerhalb der hochentwickelten Verwaltungsbürokratie sind zu lang. Entscheidungsprozesse dauern ewig und drei Tage. Und da die europäischen Planvorgaben über die Staaten bis auf die Vollzugsebene wandern müssen, endet jeder Versuch, mit Fördermitteln einerseits und Strafen andererseits Gefolgschaft zu erzwingen im systematischen Missbrauch.

Ursula von der Leyen tat nach ihrem Amtsantritt trotzdem, was Europa immer tut: Mit dem "Europäischen Grünen Deal" übermalte sie die Pleiten der Vorgängerstrategien. Jetzt ging es um "Ziele für nachhaltige Entwicklung" und Blabla und den Wiederaufbau als "strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt" wie es schon damals im Jahr 2000 im legendären Lissabon-Papier geheißen hatte.

Die europäische Beharrlichkeit 

Die Menschen in Brüssel wechseln. Die Beharrlichkeit, mit der stur und ungerührt von allen Rückschlägen in die einmal gewählte Richtung weitermarschieren, ist aber bei jedem Nachfolger eines gescheiterten Vorgängers dieselbe. Wie ein gewaltiger Dinosaurier, der seine Umgebung mit Verzögerung wahrnimmt, stampft die EU durch eine Gegenwart, in der flinke, dynamische Organisationen gewinnen und träge Kolosse aus unendlich vielen Gremien, Kommissariaten, Ministerien und parlamentarischen Entscheidungsebenen verlieren.

Doch die EU kann nicht anders. Sich einzugestehen, dass die Gemeinschaft, die vor 30 Jahren zusammen stark werden wollte, heute durch ihre langwierigen und auf faule Kompromisse ausgelegten Entscheidungsprozesse von Tag zu Tag schwächer wird, wäre das Todesurteil für die EU.

Brutale Niederlagen 

Den großen Ankündigungen folgen also niemals große Erfolge, sondern immer wieder brutale Niederlagen. Doch im Bus nach Hause herrscht trotzdem nie üble Stimmung. Nach dem gescheiterten Fünf- oder Zehn-Jahrplan ist immer vor dem nächsten, denn nach dem Pandemie-Programm kommt der Chips Act und nach dem Chips Act der AI Act und alles klappt nie wie vorgesehen und Kommissionsvizepräsidentin Henna Virkkunen oder irgendwer anders sagt dann: Das 20-Prozent-Ziel bei der Eigenversorgung mit Chips stelle "nach wie vor eine Herausforderung dar".

Das geht alles so durch. Das wird rundherum von hunderten Millionen EU-Bürgern akzeptiert. Niemand fühlt sie jemals betrogen durch eine Kommission, die die schönsten Pläne seit der DDR-Planungskommission macht, aber ebenso unfähig wie die kommunistischen Genossen ist, irgendeines ihrer Planziele zu erreichen. Brüssel plant trotzig weiter und immer weiter, immer ehrgeiziger und hochfliegender werden die Vorhaben. Draußen im Lande hingegen nehmen die paar Menschen, die überhaupt Notiz nehmen von den sehr, sehr leise gemeldeten Fehlschlägen, das endlose Kette an Pleiten stoisch hin. Etwas anders als das erwartet niemand mehr.

Donnerstag, 6. November 2025

Triage-Regeln: Klatsche aus Karlsruhe

Karlsruhe erklärt Triage-Regeln im Infektionsschutzgesetz für verfassungswidrig und nichtig. Jetzt können nur noch Klinikschließungen helfen.


Sie werden immer wieder ertappt, auf frischer Tat und nicht so frischer. Man hat sie im Auge, denn ihre Geschichte zeigt, dass sie die wahrscheinlich gefährlichsten Grundgesetzgefährder sind, die sich dauerhaft im Lande aufhalten. Die paar hundert Parlamentarier, Frauen und Männer, kaserniert in Berlin und über die Jahre immer wieder in neuer Konstellation mit der Führung der demokratischen Geschäfte beauftragt, sind Rückfalltäter. Keine andere Institution, keine Partei, keine Lobbygruppe oder Industrievereinigung ist so häufig beim Versuch erwischt worden, die Verfassung zu brechen.

Karlsruhe pfeift zurück 

Niemand anders musste häufiger vom Verfassungsgericht zurückgepfiffen werden, denn immer wieder schießt die gesetzgeberische Fantasie über die vom Grundgesetz erlaubten Grenzen hinaus. Mal war der Bundestag zu groß, mal ging die Speicherung von Telekommunikationsdaten ohne Anlass zu weit. Sogar der nun wirklich von jedem Verdacht der mutwilligen Kritik an der Macht und den Mächtigen gefeite "Spiegel" lamentierte zeitweise über den "programmierten Verfassungsbruch". Davon abgelassen hat der Bundestag allerdings nie. Wer auch immer regiert und eine ausreichend große Mehrheit hinter sich weiß, er versucht es wieder. 

Oft schien es sogar schon so gut wie geschafft. Seit zwei Jahren galten die neuen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetz (IfSG), mit denen der Bundestag Ärztinnen und Ärzten hatte vorschreiben wollen, wen sie wann sterben lassen müssen, wenn es in einer nächsten Pandemie wieder an Intensivbetten mangelt. Bis zum Inkrafttreten des IfSG war das eine Entscheidung gewesen, die Mediziner nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen hatten. 

Klage wegen Diskriminierung 

Für die sogenannte Triage gab es eine Vorgabe: Behandelt wird, wer die höheren Überlebensaussichten hat. Dagegen allerdings hatten Menschen geklagt, die sie schlechte Auswahlchancen ausrechneten, weil sie älter, kränker oder behindert waren. Die Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden daraufhin mitten in der Pandemie, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zu treffen habe, "damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird".

Die Ampel-Koalition machte sich ans Werk, den festgestellten Verfassungsbruch zu heilen. Mit dem Infektionsschutzgesetz bestimmte der damalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach, inzwischen Weltraumkoordinator der Bundesregierung, dass nicht Ärzte über Leben und Tod zu befinden haben sollen, sondern er selbst. Sein § 5c IfSG zeichnete einen exakt vierecken Kreis: "Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten benachteiligt werden", heißt es da. Und ergänzend: "Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden."

Kriterien sollen (k)eine Rolle spielen

Ein Paradoxon, das Ärztinnen und Ärzte auferlegte, Kriterien wie "Behinderung, Grad der Gebrechlichkeit, Alter, ethnische Herkunft,  Religion oder Weltanschauung, Geschlecht oder sexuelle Orientierung" bei der Entscheidung über die Zuteilung knapper überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nicht zu berücksichtigen, wenn während einer Pandemie nicht genügend medizinische Ressourcen vorhanden sind. Sie aber beauftragte, "Komorbiditäten bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit zu berücksichtigt, "soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern".

Ein echtes Ampel-Gesetz also von der Art, wie sie auch in Brüssel oder von der derzeitigen Bundesregierung am liebsten geschrieben werden. Es wird gewaschen, aber ohne Wasser. Es ist wird geregelt, aber in der Hoffnung, dass die Regel ins Leere läuft. Es wird verboten, aber nicht kontrolliert. 

Der unzuständige Gesetzgeber 

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die neuen Bestimmungen zur Triage dennoch für verfassungswidrig erklärt. Auf Klage von Medizinern, die dem Gesetzgeber einen Eingriff in ihre Berufsfreiheit vorgeworfen hatten, entschied Karlsruhe zugunsten der Kläger. Der Bund habe überhaupt keine Gesetzgebungskompetenz für die fraglichen Vorschriften, urteilte das Gericht (Az. 1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23), das dem Bundestag damit ein weiteres Mal bescheinigte, seine Gesetzgebungskompetenzen überschritten zu haben.


Die Absicht war es, eine Regelungstiefe zu schaffen, die das medizinethische Dilemma löst, in einer Situation mit mangelnden Behandlungskapazitäten Entscheidungen darüber treffen zu müssen, müssen, welche Patientinnen und Patienten intensivmedizinisch behandelt werden können und wer seinem Schicksal überlassen werden muss. Die Unmöglichkeit, das aus dem Plenarsaal des Bundestages heraus zu bestimmen, liegt auf der Hand. Am Bett steht am Ende immer ein Arzt, der Leben rettet und damit  zugleich anderes Leben gefährdet.  

Der Trend zum Automatismus 

Doch überall geht der Trend zum Automatismus. Politik im dritten Jahrtausend möchte am liebsten alle Entscheidungsprozesse programmieren wie die eigene alljährliche Diätenerhöhung. Auch das Bundesverfassungsgericht war diesem Drang verfallen, als es nach der Corona-Pandemie anordnete, dass der Gesetzgeber Vorgaben erlassen müsse, um Diskriminierungen zu verhindern: Der Generalverdacht gegen alle Ärzte war damit geboren. Ohne "ausreichende bundesrechtliche Vorkehrungen" würden Ärztinnen und Ärzte, das war nun unausgesprochen amtlich, zweifellos "Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung knapper Ressourcen" benachteiligen.

Der Bund musste Kriterien festlegen. Er tat es, indem er bestimmte besonders schützenswerte Gruppen definierte, zu denen in der Gesamtschau alle Menschen zählen, die irgendwo auf der Erde leben. Niemand darf wegen irgendetwas benachteiligt werden – nicht wegen seines Alters, seiner Herkunft, der Behinderung, Haarfarbe oder Religion. Es zählt allein die Erfolgsaussicht der Behandlungschance. Die wiederum abhängig ist von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen wie dem allgemeinen Gesundheitszustand, dem Slter, dem Gewicht und Vorerkrankungen. 

Eingriff in die Berufsfreiheit

Mehrere Fachärztinnen und Fachärzte aus der Notfall- und Intensivmedizin legten Verfassungsbeschwerden ein. Sie rügten, die neuen Vorschriften griffen in unzulässiger Weise in ihre berufliche Entscheidungsfreiheit ein. Die gesetzlichen Vorgaben nähmen ihnen ihre Therapiefreiheit ein und verlangten, dass nicht aufgrund ärztlicher Verantwortung, sondern nach politisch gesetztem Recht entschieden werde. Das aber verbiete Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz, der die Freiheit der Berufsausübung garantiert. 

Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Argumentation nun gefolgt. Die Richter, zuletzt selbst Medienstars, verpassten Karl Lauterbach und allen, die für das Gesetz gestimmt hatten, eine schallende Ohrfeige. Lauterbach selbst ist so betroffen, dass er die Klatsche bisher strikt ignoriert. Verständlich, denn das Erstaunliche am Urteil ist, dass das Gericht, das den Bund angewiesen hatte, die Frage der Triage diskriminierungsfrei zu regeln, jetzt feststellt, dass der Bund nicht berechtigt ist, die Triage gesetzlich zu regeln. 

Seine Macht aus Grundgesetz Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 erlaube ihm nur, "Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten" zu beschließen. Diese Bestimmung beziehe sich jedoch ausschließlich auf Maßnahmen, die auf die Eindämmung oder Vorbeugung von Infektionen selbst gerichtet sind – nicht auf die nachträgliche Bewältigung ihrer Folgen.  

Kein Beitrag zur Pandemiebekämpfung


Obwohl ursprünglich anders verkauft, seien die Triage-Regeln aber nun so ein Beitrag zur Pandemiebekämpfung gar nicht. Karlsruhe stellt fest: Sie regelten nicht das "Wie" der Krankheitsbekämpfung, sondern das "Wer" bei der Behandlung. Damit handele es sich um sogenanntes Pandemiefolgenrecht, das überhaupt nicht unter die Kompetenz der Infektionsbekämpfung falle. Lauterbach hat folglich ein Gesetz geschrieben, das an seiner Absicht vorbeizielt. Das damalige Ampel-Kabinett hat es nach Begutachtung durch das Justizministerium für gut und richtig befunden. Und der Bundestag hat es beschlossen, nach erneuter Prüfung durch den Wissenschaftlichen Dienst.

Länder sind zuständig

Der Spruch aus Karlsruhe lässt das als rätselhaft erscheinen. Nach Auffassung des Gerichts ist der Bund nie zuständig gewesen. Auch über den Umweg seiner Zuständigkeit für den Bereich der öffentlichen Fürsorge dürfe die Vorgabe der Verfassung, dem Bund für das Gesundheitswesen nur auf einzelne Sachbereiche beschränkte Gesetzgebungskompetenzen zuzuweisen, nicht unterlaufen werden. Zuständig seien allein die Bundesländer. 

Der Wunsch allein, bundeseinheitliche Regeln zu schaffen,  rechtfertige die Anmaßung einer Bundeskompetenz nicht. "Allokationsregelungen erfordern im Pandemiefall nicht notwendigerweise eine gesamtstaatliche Regelung", schreiben die Richter zur Frage, ob der Bund aus zwingender Notwendigkeit heraus habe handeln müssen. Nein, heißt es. Auch die "Selbstkoordinierung der Länder" sei in der Lage, tragfähige Entscheidungen zu finden.

Eingriff in die Berufsfreiheit

Der Umstand, dass der Bund zum Ampelzeiten ein Gesetz über seine Kompetenz hinaus gedehnt hat, ist aber nur ein Teil der Klatsche aus Karlsruhe. Neben der Nichtigkeit von § 5c IfSG wegen erwiesener Unzuständigkeit des Gesetzgebers stellte der Senat auch noch den beklagten Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte fest. Artikel 12 Grundgesetz schütze deren freie Berufsausübung und Therapiewahl. Die von Rot, Grün und Gelb gewählte gesetzliche Vorschrift habe diese Selbstverantwortung eingeschränkt, indem sie verbindliche Kriterien für medizinische Entscheidungen vorgab, die im Kern ärztlicher Kompetenz lägen und damit nicht von oben oktruiert werden dürfen.

Die Blamage ist perfekt, denn das hat zur Folge, dass alle Absätze der Norm, die "in engem Zusammenhang mit der zentralen Zuteilungsregelung" stehen, hinfällig sind. Ohne diese "materiellen Kriterien der Priorisierung" fehlt es den weiteren Bestimmungen aber an einer Grundlage. Damit ist der gesamte § 5c IfSG außer Kraft gesetzt und die neue Bundesregierung darf sich nicht einmal an einem weiteren Versuch beteiligen, eine tragfähige gesetzliche Grundlage für Triage-Regeln aufzustellen.

Jetzt mahlen die Mühlen langsam 

Das werden nun die Länder tun müssen und angesichts der komplizierten Vorgaben wird keine von ihnen es eilig damit haben. Die Corona-Pandemie, die der Auslöser war für ein hektisches Herumdoktern an theoretischen Vorgaben in Triage-Situationen, in denen am Ende ohnehin ein Arzt oder eine Ärztin nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden wird, ist lange her. Die nächste Pandemie nicht in Sicht. Erst wenn in vier Jahren der Russe kommt, steht die Frage neu. Dann aber sind überall schon neue Landesregierungen im Amt oder absehbar kurz davor.

Linksrutsch: Er ist schon wieder da

Zohran Mamdani Linksrutsch Hoffnung
New York bekommt seinen ersten muslimischen und zugleich seinen ersten sozialistischen Bürgermeister. Ein Hoffnungsschimmer für Europas ratlose Linke: Wer mit ausreichend großer Überzeugungskraft Unerfüllbares verspricht, kann schon wieder Wahlen gewinnen.

Erst waren es nur einzelne kleine Zeichen, symbolische Lichter in einem großen, dunklen Raum. In Hamburg zum Beispiel sprach sich bei einem Volksentscheid eine Mehrheit dafür aus, die Stadt schneller als bisher geplant klimaneutral umzubauen. Koste es, was es wolle, es ist wichtig genug, befand mehr als eine Viertelmillion der Einwohner der Welt- und Hafenstadt, die beim "Hamburger Zukunftsentscheid für Klimaschutz" zeigten, dass die Planvorgaben des wissenschaftlichen EU-Klimabeirats und der EU-Kommission nicht das letzte Wort sein müssen.

Freiwillige voran 

Hamburg wird seine Emissionen freiwillig nicht erst 2045 auf null senken, sondern bis 2040 um volle 100 Prozent senken. Wenn sich jemand findet, der die zusätzlichen Anstrengungen mit einigen Milliarden Euro finanziert. Doch die niederländische Partei D66 hat zuletzt gezeigt, dass Zuversicht allein schon Berge versetzen kann. Die vom jungen, smarten und charismatischen Parteichef Rob Jetten neuerfundene alte linksliberale Kraft setzt auf die Schaffung von "mehr bezahlbaren und nachhaltigen Wohnraum", einen neuen Generationenvertrag für Ältere, die Vereinfachung des Sozialsystems durch einen einheitlichen Leistungsbetrag und eine Erhöhung des Mindestlohnes. 

Die freie und widerstandsfähige Gesellschaft in den Niederlanden will D66 "durch den Schutz der Grundrechte, die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, die Einführung von Bürgerversammlungen, die Bekämpfung von Cyberkriminalität und ein gesetzliches Diskriminierungsverbot" stärken. Jetten sieht kein Finanzierungsproblem und das hat die Wählerinnen und Wähler überzeugt. Wohnungsbau in ganzen neuen Städten, höhere sichere Renten und Mindestlöhne werden einfach finanziert durch den "Aufbau einer grünen Wirtschaft und den Ausstieg aus fossilen Subventionen". Schädlicher Industrien wird die neue niederländische Regierung stärker besteuern. 

Kuschelwarmer Gegenentwurf 

Dazu erhofft sie sich hohe Einnahmen aus der staatlichen Förderung erneuerbarer Energien. Obendrauf noch "faire Löhne, ein nachhaltiges Unternehmertum und die digitale Unabhängigkeit, um Umweltschutz und Wohlstand zu verbinden" und fertig ist der gefühlswarme Gegenentwurf zu den eiskalten Versprechen der bisher so erfolgsverwöhnten Rechten, dass der, der etwas leiste, sich auch etwas leisten können werde. Javier Mileis argentinische Kettensäge bekommt Konkurrenz von einer Kuscheldecke, die den Kapitalismus aussperrt.  

Das liebt jeder, der von einer für alle gerechten Gesellschaft träumt, in der nicht Herkunft, Leistung oder Leistungsvermögen über Lebensstandard und den Platz in der Gesellschaft bestimmt. Mehr Wohnraum und billiger. Höhere Löhne und Gehälter. Grüne Wirtschaft und saubere Luft. Dazu eine Freizügigkeit, die für alle gilt, wie sie der deutsche Internet-Intellektuelle Mario Sixtus jüngst vorgeschlagen hatte: Es gelte, die Dinge weltweit so zu regeln, dass jeder Mensch ohne bürokratische Rückfragen in jedem Land seiner Wahl eingebürgert wird, wenn er den Wunsch äußert.

Raus aus dem Angstmodus 

Endlich Freiheit. Endlich raus aus dem geduckten Angstmodus, mit dem die Linke seit der schmachvollen Niederlage der Hoffnungsträgerin Kamalla Harris in den USA auf die wachsende Zustimmung zu fremdenfeindlichen, brandmauergefährdenden und wirtschaftsliberalen Forderungen blickt. Obwohl die Forschung früh gewarnt hat, dass jede Partei, die die Ideen ihrer erfolgreichen Konkurrenz zu ihren eigenen macht, wie es Angela Merkel mit einer Strategie der asymmetrischen Demobilisierung getan hatte, begab sich ihr Nachfolger Friedrich Merz auf diesen gefährlichen Pfad der Anpassung an die Radikalen. Die Umfragewerte seiner Partei fallen entsprechend aus. Die des Koalitionspartners SPD nicht minder. Niemand braucht noch eine grüne Partei, noch eine blaue oder noch eine linke.

Schwarz muss schwarz bleiben und Rot rot, doch es muss ein selbstbewusstes Schwarz und ein Rot, das aus sich selbst strahlt. Die Ideen, mit denen die Klimaschützer in Hamburg und die Jetten-Partei in den Niederlanden Menschen so sehr zu begeistern verstanden, ließen Menschen mit fliegenden Fahnen auf die Seite der Illusionen wechseln. Sie sind auch die Ideen des Demokraten Zohran Mamdani, der  jetzt in New York gezeigt hat, dass der Siegeszug der Rechtsextremen, Faschisten und radikalisierten Christen vielleicht schon wieder zu Ende ist.

Die Sehnsucht wählt 

Bei der Bürgermeisterwahl in der Stadt, die niemals schläft, holte der erst 34-jährige Demokrat schon im ersten Wahlgang die Mehrheit der Stimmen. Geholfen hat ihm dabei zweifellos, dass US-Präsident Donald Trump ihn mehrfach als Kommunisten, Sozialisten und Gefährder des Wohlstands der Amerikaner bezeichnet hatte. Mamdani, geboren in Uganda, stolz auf seine indischen Wurzeln und ehemals Rapper, vertritt ein typisches Heidi-Reichinnek-Programm: Es will das Leben in New York "bezahlbarer" machen, jeder  - da ist er nicht weit weg von Mario Sixtus - solle es sich leisten können, in der Acht-Millionen-Metropole zu leben. 

Viele werden das künftig auch unbedingt wollen, denn geht es nach dem Erfinder der "Zohranomics",  steht New York kurz davor, ein wahres Paradies zu werden. Die Stadt, die wie so viele Großstädte weltweit unter ihrer eigenen Anziehungskraft leidet, soll mit einer umfassenden Mieterhöhungsbremse wieder ein Ort sein, an dem jeder sich eine Wohnung leisten kann. 200.000 Wohnungen will Mamdani zudem neu bauen. Alle sollen mietpreisgebunden sein. Darüber hinaus will Mamdani den öffentlichen Busverkehr komplett kostenlos anbieten, die Stadt soll unter seiner Regierung selbst Supermärkte betreiben, in denen gesunde Lebensmittel günstiger verkauft werden.

Umzug nach New York 

Wer Kinder hat, für den gibt es zu einem Umzug in das neue New York gar keine Alternative: Während Eltern in Florida oder Texas für einen Platz in einer Kindertagesstätte 1.200 bis 1.400 Dollar im Monat zahlen müssen - eine staatliche Co-Finanzierung gibt es nicht - wird Mamdani für New Yorker Kinder eine "universelle Kinderbetreuung für alle Kinder im Alter zwischen sechs Wochen und fünf Jahren" einführen, die gar nichts kosten soll. Sixtus' Vorschlag der automatischen Einbürgerung aller in jedem Land würde zu einer allgemeinen Völkerwanderung aller in die wohlhabenden Staaten führen, gegen die der "Zustrom" (Angela Merkel) des vergangenen Jahrzehnts ein bloßes Tröpfeln gewesen wäre. 

New York dagegen verspricht, zum Mekka aller zu werden, die nicht so viel besitzen und verdienen. Unter Zohran Mamdani könnte der Big Apple eine ähnliche Anziehungskraft auszuüben, wie sie das kalifornische San Francisco seit längerem für Obdachlose hat. Seit die Stadt beschloss, Wohnungslose zu dulden, Diebstähle nicht mehr automatisch als Straftaten zu verfolgen und bei Drogenkonsum auf offener Straße wegzuschauen, pilgern die Armen aus allen Staaten nach Kalifornien.

Das Stadtbild hat ein wenig gelitten.  Viele Touristen, die die frühere Hippie-Hochburg noch aus vergangenen Zeiten kennen, staunen über die Hunderte von meist jungen, meist farbigen Männern, die entlang der Market Street auf den Gehsteigen lagern, bedröhnt, betrunken, pöbelnd, bettelnd oder - meist - alles zusammen.

Das Volk will es 

Eine gerechte Stadt, diskriminierungsfrei und Heimat für jeden, der kommen will. New York zu einer solchen Stadt zu machen, ist das Versprechen, mit dem Zohran Mamdani überzeugt hat. Erst Hamburg, dann Den Haag, und nun auch noch New York - die Siege, die fortschrittliche Politiker und Graswurzelbewegungen unter Führung von Klimaaktiven in den zurückliegenden Wochen einfahren konnte, zeigen, dass der Rechtsrutsch der vergangenen Jahre nicht alternativlos ist. Wer es wagt, radikale Vorschläge zu machen wie Zohran Mamdani oder wie Rob Jetten alte Ideen in neuer Verpackung als Rettung vor den Zumutungen der Wirklichkeit verkauft, findet wird im Handumdrehen zum Hoffnungsträger der Linken, die ihr Glück noch gar nicht richtig fassen kann. 

Da ist auf einmal jemand, der selbst Trump widerspricht. Da steht jemand aufrecht, obwohl er nach der Behauptung, Israel begehe in Gaza einen Bürgerkrieg, eilig hatte zurückrudern müssen. Die seit dem Wahlsieg Trumps von den Massen zutiefst enttäuschte, ratlose und verunsicherte demokratische Mitte aus Grünen, Sozialdemokraten, Linken und dem Polenz-Flügel der Union wittert Morgenluft. Hat man sich vielleicht all die Jahre lang zu viele Gedanken gemacht? Hat man zu früh an den eigenen Rezepten gezweifelt, die da sagen, der Staat müsse nur kräftig Geld in die Hand nehmen und unweigerlich werde großer Wohlstand entstehen?

Je absurder desto besser 

Die ähnlich wie Mamdani als Influencer im Internet erfolgreiche Linkspartei-Ikone Heidi Reichinnek hatte hierzulande als Erste außerhalb der populistischen Rechten verstanden, dass politische Botschaften je nachhaltiger wirken, je absurder sie sind. Menschen wollen glauben, dass ein X ein U sein kann und eine Mietbremse den vorhandenen Wohnraum vermehrt, wenn nur die Großkonzerne, die die Häuser besitzen, enteignet werden. 

Der Politiker, der Wählern das Gefühl gibt, für ihn gülten weder physikalische Gesetze noch wirtschaftliche Realitäten, gewinnt die Herzen. Das war bei Angela Merkel nicht anders als bei Annalena Baerbock und Robert Habeck. Olaf Scholz profitierte von diesem Effekt, als er "stabile Renten" versprach, und Friedrich Merz nutzte ihn aus, als er sich als "Der Richtige zur richtigen Zeit" anpries. Gerade bei einer jungen Generation, deren Wissen über Geschichte, wirtschaftliche Zusammenhänge und Logik überwiegend erschüttern gering ist, kommt das an. Die AfD etwa ist unter Jüngeren zweitstärkste Partei nach der Linken. Zusammen mit dem BSW kommen die Populisten bei den unter 25-Jährigen auf eine absolute Mehrheit von 52 Prozent. 

Zohran Mamdanis Wahlsieg in New York ist nicht nur ein lokaler Erfolg - es ist auch ein Symbol, dass der Vision einer Gesellschaft erfolgreich sein kann, die den Menschen vorspiegelt, es gehe nur um das gerechte Teilen des vorhandenen Reichtums, nicht um dessen Erzeugung. Linken-Chefin Ines Schwerdtner hat den Triumph des Sozialisten "im Herzen des Kapitalismus" (Schwerdner) als Beispiel dafür herangezogen, der Sozialismus wieder "überall gewinnen" könne. "Wenn wir uns mit klarem Fokus organisieren, können wir gewinnen!", schrieb sie offenbar augenzwinkernd mit Blick auf Merzens "klaren Kompass". Schließlich sei egal, "ob New York oder Berlin: Wir alle wollen bezahlbare Mieten und ein gutes Leben für unsere Familien und Freunde!"

Das Wollen bestimmt das Sein. Das Geld, um Gutes zu tun, entsteht aus dem Nichts. So lange sich genügend Menschen finden, die an die magische Kraft glauben, die aus der Leugnung der Realität entspringt, ist die Linke unschlagbar. 

Mittwoch, 5. November 2025

Grünes Fenster in den Osten: Nur gucken, nicht anfassen

Banaszak Grüne Fenster zum Osten
Kommt nur zum Gucken: Grünen-Chef Felix Banaszak hat jetzt ein "Fenster zum Osten".

Der Chef kam selbst, denn er zahlt das Experiment aus eigener Tasche. Mitten im halbentleerten deutschen Osten hat Grünen-Vorsitzender Felix Banaszak ein zweites Parteibüro eröffnet. Das "Fenster zum Osten" liegt in Brandenburg, einem Bundesland, das dem Abkippen in die Diktatur zuletzt nur noch durch eine vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke beherzt eingegangenen Koalition der SPD mit dem oft als "linke AfD" bezeichneten Bündnis Wagenknecht (BSW) gerettet werden konnte. Die Grünen gern mitgemacht. Aber selbst hier im weiteren Speckgürtel um das grüne Berlin reicht es nicht mehr in den Landtag.

Die Notgemeinschaft hält 

Wider Erwarten hält die Notgemeinschaft bisher. Selbst scharfe Provokation wie die Weigerung des BSW, dem neuen Rundfunk-Staatsvertrag zuzustimmen und damit Sendungen wie "Restles Monitor" oder "Reschke Fernsehen" zu retten, steckt die brandenburgische Sozialdemokratie stoisch ein. Größeres zählt. Auch für Banaszak, einen 32-Jährigen, der für die Grünen nach einem Neuanfang sucht, seit die alte Spitze sich nach Amerika abgesetzt hat und im Bundestag eine weibliche Doppelspitze dabei ist, auch die verbliebenen Wähler aus der unideologischen Ecke zu vertreiben. 

Banaszak, ein Kind des Ruhrpotts, hat beschlossen, dass alles anders werden muss, wenn es so bleiben soll, wie es ist. Gar nicht unähnlich der früheren Parteichefin Ricarda Lang, die geduldig darauf wartet, wieder gefragt zu sein, will der frühere Habeck-Zögling demonstrativ raus aus dem ideologischen Elfenbeinturm, dorthin, wo er "die Menschen" wähnt. Der Bürobau in Brandenburg entspricht in seiner Anlage der Idee der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel. Angesichts eines lauter werdenden Grummelns im Osten hatte die beschlossen, den auf die blühenden Landschaften wartenden Neubundesbürgern eine Armada von neuen Behörden zu schenken. 

Überall ein Amt 

Überall, wo es auch nach 30 Jahren noch nicht blühen wollte, siedelte Merkel ein Amt an. Als Sahne auf der kolonialen Kirschtorte gilt bis heute das mystische "Zukunftszentrum", eine Bauhülle in Gestalt eines prächtigen Parkhauses aus Glas und Blech, das später, wenn es denn erst fertig ist, mit bislang geheimgehaltenen Inhalten gefüllt werden wird. Welche, das wird erst später bekanntgegeben. Zeit ist noch genug, einen Zweck für den Zweckbau zu finden. Ursprünglich war die Eröffnung zwar für 2028 geplant, doch aktuell wird nicht vor 2027 mit dem Bau begonnen. 

Geht alles sehr, sehr gut und baugrundmäßig glatt, kommen die Möbelwagen mit der Ausstattung für das "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation", so der korrekte Name, schon zehn Jahre nach dem Vorschlag der Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit", eins zu bauen, wozu auch immer. Merkel, die Mutter der Idee, ist dann schon fast ein Jahrzehnt im Ruhestand.

Die westdeutscheste Partei 

Das Grünen-Büro in Brandenburg hingegen wird dann schon auf fünf Jahre erfolgreiche Existenz zurückschauen können. Fünf Jahre, in denen es der westdeutschesten aller Bundesparteien die Gelegenheit gegeben hat, die Primaten im Brandenburger Raum in ihrem natürlichen Habitat zu beobachten. Dass die Grünen es im Osten Deutschlands derzeit schwer haben, liegt ja auch daran, dass die neuen Länder für sie reines Durchmarschgebiet sind. Die Probleme, die die Leute hier haben, interessieren die Partei nicht. Und was die Partei für große Probleme hält, tun die Leute hier mit einer Handbewegung ab. 

Wer zu knabbern hat, um sein Häuschen Baujahr 1952 im Winter warm und den Kühlschrank voll zu bekommen, hält die Frage, ob gegendert werden soll oder muss oder darf, für nebensächlich. Und wer einen 20 Jahre alten Diesel fährt, weil der Bus im Dorf nur früh und abends hält, ist kaum für einen Umstieg auf ein 9.000 Euro teures Lastenrad zu begeistern.  Banaszaks Bezeichnung des Büros als "Fenster" ist insofern durchaus treffend. 

Nicht Anfassen, nicht Füttern 

Es geht hier ums Schauen, nicht ums Anfassen. Bitte nicht Füttern! Man will mittendrin sein, aber keinesfalls dabei. Der Ostdeutsche als solcher gilt nicht nur den grünen, sondern auch in weiteren Kreisen des progressiven Westdeutschlands als grober, unkultivierter Geselle. Er misstraut denen, die die Demokratie tragen. Und schon allein deshalb gilt es, ihm zu misstrauen. Von Brandenburg an der Havel, rund 60 Kilometer westlich von Berlin aus immerhin, kann Felix Banaszak jetzt ein Auge auf die Verdächtigen haben. 

Was sagen sie? Sprechen sie überhaupt noch mit einem wie ihm, der noch auf die Art gearbeitet hat, wie sie arbeiten? Werden sie ihm, der nach dem Zivildienst eine Bilderbuchkarriere in seiner Partei gemacht hat, wie sie vorgeschrieben ist, glauben, dass er nicht als Vertreter seiner "abgehobenen Akademiker- und Elitenpartei wahrgenommen" werden will? Sondern als der Junge, der sich trotz Bahncard 100 und Büromitarbeitern, die sich um Platzreservierungen kümmern, auf dem Boden eines Bahnwaggons sitzend fotografieren lässt, als sei er seine bodenständige grüne Parteigenossin Göring-Eckhardt aus Thüringen. 

Die Reaktion der Zootiere 

Grundsätzlich reagieren die meisten Menschen ähnlich wie Zootiere stark auf Veränderungen ihrer Umwelt, wie sie etwa wahrgenommen werden, wenn Beobachter auf den Plan treten. Besucher, berichten Forscher, würden unter normalen Bedingungen im Zoo als Teil der Umwelt begriffen, in freier Wildbahn aber instinktiv als Gefahr aufgefasst. 

Ob die grünen Besucher aus dem Raumschiff Berlin-Mitte in Brandenburg an der Havel als Störfaktor oder doch eher als neues Unterhaltungsangebot begriffen werden, lässt sich wenige Tage nach der Eröffnung noch nicht sagen. 

Bisher ist die Adresse der neuen Anlaufstelle nicht einmal bei Google Maps hinterlegt worden.

Emissionshandel: Die Angst vor dem, was kommen sollte

Die Pläne waren raffiniert und sorgfältig austariert: Falsches Verhalten würde teurer werden, aber niemand müsste mehr bezahlen. Jetzt droht die Idee zu scheitern, doch es fehlt an Möglichkeiten zur Umkehr.

Es ist so lange alles gut gegangen. Europa blühte dank der EU. Der gemeinsame Markt, nicht perfekt, aber besser als keiner, warf ebenso Wohlstandsgewinne ab wie die durch das Einspringen Amerikas eingesparten Ausgaben für Aufrüstung. Aus der Innensicht der europäischen Politik standen die Dinge dermaßen zum Besten, dass es Zeit wurde, die Rasenkanten im gemeinsamen Paradiesgarten zu beschneiden. Warum nicht, so hieß es, mit ganz Europa über die künftige Belegung der Beete zu sprechen und sich darauf zu einigen, mit Blick auf das Klima durch strengere Regeln für weniger Ressourcenverbrauch zu sorgen.

Auf dem Peak EU 

Es war Peak EU, als die 27 Staaten aufbrachen, zum weltweiten Ausstiegsvorbild zu werden. Grünes Wachstum würden sie vorleben. Wohlstand schaffen durch den kompletten Neuaufbau der Energieversorgung. Aus Kohle, Öl und Gas aussteigen. Neue Hochtechnologien vorantreiben, die Netze zu Speichern und Elektroautos zum Standard machen würden.

Europäismus war Planwirtschaft plus Elektrifizierung des gesamten Kontinents. Und in Brüssel, von wo aus die Transformationsprozesse von der größten bürokratischen Maschine geplant und geleitet wurden, die sich jemals eine menschliche Verwaltungsgemeinschaft geleistet hatte, entstand ein Strom aus Vorschriften, Vorgaben, Regeln und Instrumenten. Die Mitgliedstaaten sollten mit Richtlinien angeleitet, die Menschen mit neuen Steuern und Abgaben gelenkt werden. Aus Europa würde im Handumdrehen ein grüner und gerechter Kontinent werden, der erste überhaupt und ein Platz, auf den der Rest der Welt mit Neid schauen würde.

Selbsternannte Lenker 

Erstens  kommt es anders und zweitens nie so, wie die selbsternannten Lenker der Kommission und die schon mit der operativen Führung der Staatsgeschäfte überforderten Nationalfürsten es beschlossen haben. Wohlweislich sind alle Entscheidungsgremien in der Wertegemeinschaft schon vor Jahren dazu übergegangen, statt der Gegenwart eine möglichst ferne Zukunft zu regieren. 

Von allem, was passiert, werden alle regelmäßig  überrollt, weil sie damit nun gar nicht gerechnet haben, schon gar nicht jetzt. Doch jenseits von plötzlich ausbrechenden Finanzkrisen, Pandemien und Kriegen herrscht stetes Planungssicherheit: In zehn Jahren, das steht fest, wird die Welt so sein und das Klima so. Und deswegen gibt es keine Alternative dazu, möglichst frühzeitig Beschlüsse zu fassen für eine Welt, wie sie dann sein wird.

Regieren im Land Übermorgen 

Für Politiker, die über Macht verfügen, ist es ideal, das Land Übermorgen zu regieren.  Kommt der Tag, an dem die Frage steht, ob es nun so geworden ist, wie sie es vorhergesehen hatten, sind sie nicht mehr im Amt. An die großen Pläne namens Lissabon-Strategie oder Europa 2020 erinnert sich niemand mehr. Und die Beschlusslage von zehn Jahren zuvor ist längst begraben unter Bergen von neuen Beschlüssen aus den zehn Jahren danach.

So haben es die EU und die wechselnden Bundesregierungen seit Jahrzehnten verstanden, Tatkraft zu beweisen, Entschlossenheit und den festen Willen, die Welt eines fernen Tages zu einem besseren Ort zu machen. Während es ihnen in ihrer jeweiligen Gegenwart nicht einmal gelang, die einfachsten Verrichtungen auszuführen und auf die sichtbarsten Veränderungen zu reagieren. Wichtig war, nie hinter eine nach langen Mühen und viel gegenseitigem Gekaupel gefundene Beschlusslage zurückzufallen. 

Immer wieder überrascht 

Gerade in der Klimapolitik, einem trotz Krieg, Erfindung der KI und Abwendung Amerikas zentralen Interessensgebiet der Meinungsführer auf dem alten Kontinent, durfte kein Jota am verabredeten Fahrplan verändert werden. Obwohl sich die Welt ringsum in schwindelerregendem Tempo weitergedreht hat, hielt die EU fest an ihren Plänen aus Friedenszeiten, als sich die Gemeinschaft der 27 selbst noch als Wohlstandsfestung begriff, die sich auch große Umbauexperimente leisten könne.

Energieausstieg. Grüne Transformation. Verbrennerverbot. Wasserstoffwirtschaft. CO₂-Handel. Zusatzbesteuerung von Heizung, Verkehr und jedermann, der sich die 50.000 oder 100.000 Euro für die Dämmung seines Häuschens nicht leisten kann - von weit, weit oben kamen die Anweisungen, oft ganz und gar unverhofft. Die Umsetzung aber war unausweichlich - aus Kohle musste ausgestiegen werden. Die Gasnetze waren unweigerlich zurückzubauen. Der CO₂-Handel würde die Unwilligen zwingen, auch ohne Geld in Wärmepumpen, Solaranlagen und Dämmung investieren. Und was an energiehungriger Industrie den Sprung zum grünen Antrieb nicht schaffte, das würde eben wegfallen. Kein Schaden!

Endlose Ambitionen

Jahrzehnte großartiger Ambitionen in Deutschland und der EU haben zu einem unentwirrbaren Gestrüpp an ehrgeizigen Regelungen geführt, deren Erfolg weit unter null liegt. Seit der frühere EZB-Chef Mario Draghi der Staatengemeinschaft bescheinigt hat, dass ihre Vorgaben zum Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und drastischen Wohlstandsverlusten geführt haben, herrscht Unruhe in den Chefetagen. 

Doch aus dem Gefängnis der Selbstfesselung gibt es kein Entkommen. Würde die EU ihren Kurs Richtung noch höherer Steuern auf Energieverbrauch, noch strengerer Vorgaben bei der Lieferkettenüberwachung und schärferer Vorgaben für das erlaubte Alltagsverhalten ändern, stünde sie nicht weniger blamiert da als frühere Ideologen, die sich aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Weg in kommunistische Paradiese gewähnt hatten.

Aus der Hoffnung auf die durchschlagenden Erziehungswirkungen des Emissionsrechtehandels (ETS) ist die Angst vor dessen Folgen geworden. Aus der Erwartung, die Welt werde auf dem Pfad zu globaler Menschenrechtsregulierung folgen, die Gewissheit, dass sie das keineswegs tun wird. Alle Anstrengungen, neue Technologien wie KI und Gentechnik umfassend wegzuregulieren, drohen entindustrialisierende Wirkungen zu entfalten. 

Der Fortschritt verlässt Europa. Doch die Führungsklasse wagt keinen Kurswechsel, weil sie fürchtet, durch ein Eingeständnis der eigenen Fehleinschätzungen auch den winzigen Rest an Vertrauen zu verlieren, über den sie hier und da vielleicht noch verfügt.

Furcht vor Konsequenzen 

Die Furcht vor den Konsequenzen der eigenen Beschlüsse, sie beherrscht inzwischen die Berliner wie die Brüsseler Bühne. Dass die Wirtschaft wegsterben könnte, wenn man es ihr immer schwerer macht, wettbewerbsfähig zu bleiben, war seinerzeit durchaus diskutiert worden. Doch passieren sollte das alles erst viel später, dann, wenn andere den Kopf für die Konsequenzen hinhalten müssen. 

Jetzt ist es heute schon so weit und die Knochen zittern, dass das Klappern auf dem gesamten Kontinent zu hören ist. Wer soll denn all die guten Gaben zahlen, wenn niemand mehr produktiv arbeitet? Wer soll die gigantischen Verwaltungen und Überverwaltungen und Kontrollorgane ernähren? Wer den politischen Apparat füttern, die Sender, Stiftungen, Gefälligkeitswissenschaftler und NGOs, die man sich angeschafft hat, um seine Entscheidungen als alternativlos und unausweichlich darstellen zu lassen?

Aus dem CO2-Handel, gefeiert als "grundsätzlich das beste Instrument, um kosteneffizient auf klímaschonendes Heizen und Autofahren umzustellen", ist in den zurückliegenden Monaten eine Bedrohung geworden. Aus dem Lieferkettengesetz eine Fußkugel. Aus dem Energieausstieg eine Angstmaschine. Der Unmut, den Habeck mit seinem Heizungsgesetz heraufbeschwor, steht als Menetekel an der Wand: Das, was die EU derzeit immer noch geplant hat, jeder weiß es, würde Größenordnungen schlimmer ausfallen, wenn die Leute erst merken, was es wirklich bedeutet und welche Summen aufgerufen werden.

Ursprünglich unauffällig 

Ursprünglich sollte die Sache mit dem CO₂-Preis still und auffällig über den Tisch gehen. Es würde teurer werden, aber ganz langsam, genau so, dass es niemand richtig mitbekommt, weil die zusätzlich zu zahlenden Summen im großen Rauschen des allgemeinen Kaufkraftverlustes untergehen. Damit eine Zusatzsteuer funktioniert, muss sie akzeptiert werden. Damit das klappt, darf sie nicht schmerzhaft sein. Wenn aber der Tonnenpreis für CO₂ von 55 auf 100 oder gar 200 Euro hochschnellt, würde ein Sturm der Entrüstung auch noch die wenigen Regierungen in der EU hinwegfegen, die am Klima als wichtigstem Thema festhalten. 

Es wäre der Todesstoß für den europäischen CO₂-Zertifikatehandel, der weltweit ohnehin als Unikum gilt. Doch guter Rat ist teuer: Einfach aufheben lassen sich die Beschlüsse zur Einführung nur um den Preis einer globalen Blamage. Einfach laufenlassen aber können Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten die Sache auch nicht, denn wütende Wähler tendieren dazu, falsche Parteien zu wählen. Am liebsten würden natürlich alle Mehrbelastungen mit soziale Ausgleichszahlungen wegdämpfen. 

Die 400-Milliarden-Frage 

Allein es fehlt an Geld -  78 Prozent des gesamten End-Energieverbrauchs in der EU werden nach wie vor fossil gedeckt, allein die Deutschen zahlen einem CO2-Preis von 55 Euro pro Tonne zuletzt fast 19 Milliarden zusätzlich für Energie. Bei 200 Euro wären es knapp 80 Milliarden, europaweit um die 400 Milliarden. Die wären wie die derzeitigen Einnahmen schon weg, ehe jemand sie an die Einzahler zurückgeben könnte. Es gibt schließlich immer Wichtigeres als Klimageld.

Das Zetern aus der SPD, die den Klimaschutz nach zwölf Jahren dauerhafter Regierungsbeteiligung  bezichtig, zur Deindustrialisierung zu führen, illustriert das Dilemma. Man kann nicht mehr mit, aber man traut sich auch nicht ohne die selbstgebauten Instrumente. Die Vorstellung, nach der Freigabe des Emissionshandels könne der Literpreis für Benzin an der Tankstelle wieder über die Zwei-Euro-Marke springen, ohne dass der Russe als Schuldiger bereitsteht, bereitet auch der Union schlaflose Nächte. Verbrennerverbotsfurcht allenthalben. 

Beerdigt, aber nicht begraben 

Die EU, die noch deutlich abgehobener agiert, hat den großen "Green deal" zwar stillschweigend beerdigt. Aber nicht offiziell begraben. Derzeit gilt er als "laufender Prozess", bei am Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden, festgehalten wird. Nur die konkreten Maßnahmen zur Umsetzung würden "weiterentwickelt" - im EU-Wortschatz ein Code für Aufweichen, auf die lange Bank schieben und die komplette Absage der nächsten Kommissarsgeneration überlassen.

Unausgesprochen ist allen klar, dass es so, wie es gedacht war, nicht gehen wird. Alles an der Transformation verläuft viel zu langsam. E-Autos sind nicht gefragt. Grüne Kraftstoffe gibt es nicht. Der Wasserstoff fehlt. Und die Umrüstung von 20 Millionen Gebäuden auf klimafreundliche Heizungen könnte sich nicht einmal ein Deutschland leisten, das noch im Vollbesitz seiner wirtschaftlichen Potenz wäre. Die EU bräuchte realistische Klimaziele. Die aber kann sie sich nicht geben, weil jedes Zurückweichen die jahrelang wiederholten Behauptungen konterkarieren würde, wenn nicht gleich gehandelt werde, sei die Menschheit zum Aussterben verdammt. 

Windelweich geht die EU den Mittelweg zwischen Weiterso und Liebernicht. Sie schafft ihre Visionen nicht ab, sondern genehmigt sich Ausnahmen. Sie versucht, sich mit Zöllen zu schützen und die 20 zentralen Richtlinien und Verordnungen, die den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft erzwingen sollten, als Kann-Bestimmungen zu behandeln, die weitergelten, aber nicht eingehalten werden müssen. 


Dienstag, 4. November 2025

Die Brandmaurer: Uniformierte Gewalt

Uniformiertes Bekenntnis: Die Jugend trägt Überzeugung wieder außen.


Sie sind weiß, sie tragen Schwarz und sie schauen entschlossen in die Kamera. Niemand wird an ihnen vorbeikommen, denn auf ihren T-Shirts steht ihr Glaubensbekenntnis: "Antifaschist*in". Sie sind nur zu elft, dicht geschart um ihre Anführerin. Katrin Göring-Eckardt, deutlich älter, deutlich situierter, deutlich teurer frisiert, ist sichtlich das Herz dieser Gruppe an Entschlossenen. Deren Botschaft ist klar: "Unsere Demokratie wird bedroht und die Angriffe häufen sich", sagen sie. Und wer die Demokratie verteidigen wolle, müsse lautstark gegen Faschismus und für eine tolerante, vielfältige Gesellschaft einstehen.

Angriff gegen Minderheit 

Es ist am Tag nach dem feigen Brandanschlag auf das Auto eines AfD-Politikers in Hamburg ein klares Bekenntnis. Demokratie zu verteidigen heißt, antifaschistisch zu sein! Gerade jetzt, wo sich "die Angriffe gegen Minderheiten häufen", wie es auf der Instagram-Seite der Thüringer Grünen zur Feuerattacke auf den Hamburger Politiker heißt, kann niemand mehr am Rande stehen und zuschauen. 

Die hier, das ist an den schwarzen Uniformen zu sehen, "stehen an der Seite all jener, die sich für unsere demokratisch freie Gesellschaft einsetzen". Nicht zuletzt der Umstand, dass bei der Attacke auf Baumann drei weitere Fahrzeuge Unbeteiligter zerstört wurden, ist unschwer erkennbar als einer jener "gezielten Versuche, demokratische und menschenrechtsorientierte Bewegungen kleinzumachen". Genau dagegen stehen die jungen Leute in ihren entindividualisierenden T-Shirt-Uniformen. Wir sind viele, wir sind stark, sagen die Hände in den Hosentaschen. Wir meinen es ernst, sagen die überwiegend jungen Gesichter, die kein Lächeln sehen lassen.

Niemand soll allein sein

Das Bild bei Instagram, es zeigt, dass niemand allein ist, der entschieden gegen den erstarkenden Faschismus und gegen die gezielten Versuche stellt, "demokratische und menschenrechtsorientierte Bewegungen kleinzumachen". Keiner verlässt den Pfad, keiner geht allein!  Ja, in Hamburg hat ein Auto gebrannt. Aber wenn auf die amerikanischen Dienste kein Verlass mehr ist, was sollen denn dann deutsche Behörden tun? 

Die Ermittlungen immerhin laufen auf Hochtouren, aber ob ein bei Indymedia erschienenes Bekennerschreiben echt ist, vermag nicht einmal die Frankfurter Rundschau zu sagen. Das Portal sei "immer wieder von Trittbrettfahrern benutzt" worden, die dort Antifa-Aktionswochenenden bewarben und  anständige Bürger als Nazis outeten

Eine feurige Brandmaueraktion 

Dass dort jetzt eine feurige Brandmaueraktion gefeiert wird, unter der Überschrift "Feurige Grüße an die angeklagten, eingeknasteten und untergetauchten Antifas!" erscheint der in den zurückliegenden Jahren immer weiter nach links radikalisierten Zeitung kaum glaubhaft. Denn als grundsätzliche friedliche Gemeinschaft könnte kein Antifa-Kollektiv sich auf einen Aufruf wie "Bildet ein, zwei, drei, viele Hammerbanden!" oder "Alerta antifascista, egal ob mit Hammer oder Brandsatz!" einigen, geschweige denn auf "Wir wollen keine Sexisten, Rassistinnen und Faschos im Stadtbild sehen!"

Das ist die Handschrift des Verfassungsschutzes. Das muss sie sein, denn anderenfalls hätte sich Katrin Göring-Eckardt  längst zu Wort gemeldet, um sich und ihre schwarze Gang aus Antifas von denen zu distanzieren, die das Wort Antifa und die gleichnamige Bewegung missbrauchen. "Antifa", eine verharmlosende verbale Zusammenziehung von "Antifaschismus", wird vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages als Bezeichnung  "eher locker strukturierter Strömungen der linken bis linksextremen Szene" definiert. 

Die Uniform gehört dazu 

Die Anfang der 30er Jahre entstandene Bewegung konnte den Faschismus nicht aufhalten und sie überlebte ihn auch nicht. Erst ein Nostalgienachbau Jahrzehnte später, entstanden unter den Laborbedingungen eines demokratischen Staates ohne Faschisten, erlangte die modische Bewegung ihre aktuelle Bedeutung: Antifaschisten kämpfen nicht mehr gegen tatsächliche Faschisten. Sondern aus Mangel an solchen gegen jedermann, der nach eigener Definition kein Antifaschist war.

Gemeinsame Feinde, gemeinsame Glaubenssätze, eine gemeinsame Zeichensprache und eine einheitliche Uniformierung gehörten auch beim dezentral organisierten Nachwuchs eines kommenden totalitären Regimes zum Selbstbild, das sich nicht nur als antifaschistisch, sondern auch als gerecht, sozialistisch, antirassistisch, antisexistisch und antikapitalistisch imaginiert. 

Wie jede ähnliche Bewegung kleidet auch der Antifaschismus seine follower in einheitliche Anzüge. Das bedient eine vor allem bei Jugendlichen auftretende Sehnsucht: Man möchte zu etwas gehören, Teil von etwas sein, das nach Möglichkeit etwas Großes zu sein hat. Zudem möchte der junge Mensch erkannt werden als einer, der für etwas steht.

Schwarz ist die Farbe der Vielfalt 

Schwarz ist die Farbe des Demoblocks, der für Vielfalt steht und bei Bedarf auch zuschlägt. Diese eiserne Faust der Gerechten unter den Völkern kombiniert dieses der SS-Uniform abgeschaute Schwarz in seinem Logo mit dem Blutrot, das für die Millionen Toten der anderen totalitären Ideologie steht, ermordet von Lenin, Mielke, Stalin, Mao und Pol Pot.

Wie Benito Mussolini, der Erfinder des Faschismus, und sein Schüler Hitler, der daraus den Nationalsozialismus, machte, strebten auch die Antifaschisten immer danach, ihre    Nachwuchsorganisationen zu uniformieren, äußerlich wie inwendig. Um eines Tages die erhoffte vollständige Kontrolle über Gesellschaft, Individuum und Zukunft ausüben zu können, galt es als unerlässlich, Kinder möglichst früh möglichst umfassend zu indoktrinieren. 

Die Hitlerisierung der Jugend 

Der Wunsch nach einer Jugend, die als einheitlicher Block hinter ihren Führern steht, ist bei jedem Diktator übermächtig. Die Herrschenden in der DDR etwa ließen jeden begeistert öffentlich feiern, der der Hitlerisierung von Jugend und Kindheit im Dritten Reich mannhaft widerstanden hatte, und sei es durch den Rückzug in eine gesellschaftliche Nische. Zugleich aber gingen sie davon aus, dass es ihnen im Gegensatz zu Hitler gelingen würde, durch harte Disziplinierung jedwedes Abweichlertum zu verhindern.

Die Uniformierung von Kindern und Jugendlichen war dabei das zentrale Instrument. Wer Menschen zwingen kann, in eine Einheitskleidung zu schlüpfen, die demonstrativ keinerlei Zweckbindung hatte als die eine, Individualität auszulöschen und visuell Macht zu demonstrieren, der hat sein Volk besiegt. Sich selbst attestieren die Erfinder und Verbreiter von derartigen Ziviluniformierungen, dass das gemeinsam getragene Tuch ein "Wir-Gefühl" förder, die Gruppenzugehörigkeit stärkt und Eigenständigkeit unterdrückt. 

Die ältere Frau im Mittelpunkt 

In jeder uniformierten Gruppe entstehen Hierarchien - im Bild der Instagram-Antifaschisten symbolisiert durch die deutlich ältere Frau im Mittelpunkt, die auf den ersten Blick als Anführerin zu erkennen ist. Soziologisch basieren diese unwillkürlichen Abläufe auf seit Jahrtausenden bewährten Militärtraditionen: Die einheitliche Kleidung erschafft eine Armee. Winzige Zeichen auf den Uniformen oder informelle Kenntnisse über Unterstellungsverhältnisses erzwingen Gehorsam, Gehorsam wiederum schafft Kampfbereitschaft.

Der Kampf ist meist symbolisch, auch bei der Antifa. Deren Massengefolge kommt zu Aufmärschen zusammen, die sich gegen die vermuteten follower am anderen Ende des politischen Regenbogens richten. Dabei verbreitete Parolen wie "Wir sind mehr" dienen der Selbstvergewisserung nach innen und der Propaganda nach außen: Massenaufmärsche mit uniformierten Kindern und Jugendlichen demonstrieren die Stärke der Ideologie, der die Marschierer anhängen, naturgemäß nicht durch Argumente, sondern allein durch Masse und Überwältigung.

Die neuen Pioniere 

Die Methode ist dieselbe wie in den in den faschistischen, kommunistischen und nationalistischen Systemen des 20. Jahrhunderts, allein die Farben von Fahnen und Uniformen wechseln. Die Hitlerjugend trug braunes Hemd und schwarze Hose, dazu ein rotes Halstuch mit Lederknoten und die HJ-Armbinde. Ihre "Pioniere" kleidete die SED nach dem Vorbild des großen Bruders in Moskau in weiße Hemden und dunkle Hosen, das rote Halstuch wurde anfangs blau. Ältere bekamen dann wieder ein rotes, noch Ältere eine blaue Bluse mit dem Symbol einer aufgehenden Sonne.

Sie waren die "Freie Deutsche Jugend", gefangen in einem System, das ihre Freiheit strenger begrenzte als jeder andere deutsche Staat zuvor. Sie hatten Wehrunterricht für den Frieden. Und zu glauben, was ihnen gesagt wurde, denn Zweifel zu äußern, reichte bereits für den Verdacht, den Falschen auf den Leim gegangen zu sein.  Die visuelle Gleichschaltung, geplant als optische Klammer, die Kinder früh lehrt, dass Individualität kein Wert ist, sondern Konformität gezeigt werden muss, wurde zum Schutzmantel für Millionen: Gekleidet wie ein Mensch, der sich unterworfen hat, blieb die innere Einstellung verborgen hinter einer Illusion von totaler Herrschaft.

Symbol für Einheitsmeinung  

Die Antifa, in den USA und Ungarn zuletzt verboten, kopiert das auf preußische und zaristische Traditionen zurückgehende Prinzip der Einheitskleidung als öffentliches Symbol für eine Einheitsmeinung dennoch. Streng durchideologisiert, kombiniert die Bewegung ihre Farben Schwarz und Rot seit einiger Zeit mit allen übrigen der Farbpalette, um den Vorwurf zu begegnen, man habe selbst faschistoide Bezüge und Sehnsüchte. 

Unter dem Banner der farblichen Beliebigkeit soll diesmal nicht der neue Mensch, sondern der totale Mensch geformt werden: gehorsam, opferbereit, identitätslos und bereit, Widersprüche klaglos und ohne Fragen hinzunehmen. Wo es bei Pegida, den Corona-Leugnern und den Friedensdemos noch hieß, jeder, der teilnehme, müsse sich umschauen, mit wem er da marschiere, gilt bei der Antifa, dass gelegentliche Terroranschläge, brutale Prügelattacken und die gewaltsame Zerstörung von Teilen der kritischen Infrastruktur nichts am insgesamt friedlichen Wesen des Antifaschismus änderten. 

Das Schweigen im Walde 

Für die großen Medienhäuser ist das ausgemacht. Während sie die Blockade einer Fähre, auf der der damalige Klimawirtschaftsminister Robert Habeck unterwegs war, als Anschlag eines "motorisierten Mistgabelmobs" auf die freiheitliche Fundamente unserer Demokratie anprangerten, läuft der Brandanschlag auf einen AfD-Spitzenpolitiker unter "in Flammen aufgegangen" (Die Welt). Demonstrativ haben sich weder der Bundesinnenminister noch der Kanzler, die Justizministerin oder der Vizekanzler zum Terrorakt gegen einen gewählten Abgeordneten geäußert. Und ebenso wenig zur Ankündigung im Bekennerschreiben: "All you damn’ MAGAfreaks, you will follow Kirk to hell!"

Stahlpakt: Guter Zoll für den Wachstumsschub

Gute Zölle in der EU
Es kommt nie darauf an, was jemand tut, sondern immer darauf, wer es macht.

Schädlich! Verheerend! Wohlstandsverzehrend! Und natürlich spaltend. Auf die Zollpläne des US-Präsidenten Donald Trump gab es in Europa Anfang des Jahres nur eine einzige Antwort. Erstens würde das starke Europa sich das alles nicht gefallen lassen. Zweitens würde man den Präsidenten  zwingen, sich eines Besseren zu besinnen. Und dritten müsste selbst er doch einsehen, dass sein Vorhaben, die Industrie in den Vereinigten Staaten zu stärken, indem er ausländische Produkte mit hohen Zöllen aussperrt, schlussendlich nur die amerikanischen Verbraucher bezahlen würden.

Die Zolltarife der Taliban 

Das war nicht nur rechtswidrig, wie sich die Mehrzahl der Ökonomen einig war. Das war auch dumm. Trump würde durch seinen Traum von der Abschottung von der globalen Arbeitsteilung zum "Verlierer" (FAZ). Auch wenn Ursula von der Leyen das Allerschlimmste schließlich doch noch abwenden konnte. Für die EU handelte sich beherzt und mutig dieselben Konditionen aus, wie das Weiße Haus sie den afghanischen Taliban zugesteht, blieb der ganz große Freihandel als Ziel der Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft auf der vernünftigen Seite des Atlantik bestehen.

Kein Zoll für niemandem auf Nichts, etwa so, wie die EU seit dem Ende der Punischen Kriege mit Südamerika aushandelt.  Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Staaten des MERCOSUR-Bündnisses - Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay - ist seit Jahrzehnten auf der Zielgerade. Klappt alles, werden auch die noch zu führenden Gespräche über das sogenannte "Begleitinstrument zur Stärkung von Nachhaltigkeitsaspekten" bis zum St. Nimmerleinstag abgeschlossen. 

Großgebiet mit Begleitinstrument 

Stimmen Rat und EU-Parlament dann im Rahmen des Trilogs zu, das gilt als Formsache, außer Frankreich stellt sich quer, könnte schon irgendwann eine der weltweit größten Freihandelszonen mit über 715 Millionen Konsumenten aus der Taufe gehoben werden. Faktisch würden danach sämtliche anderen Staaten Schlange stehen, um baldmöglichst auch zu den Zollsparern gehören zu dürfen.

Es wird ein knappes Rennen. Denn kaum hat die EU, einst gegründet als Zollunion und bis heute auf Zolleinnahmen zur Finanzierung ihres Betriebs angewiesen, unter der Leitung ihrer Besten einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen Trump geführt, schwinden die Prinzipien in Brüssel und Berlin schneller als Brandmauer- und Stadtbild-Debatte den öffentlichen Raum verlassen haben. 

Die Krieger des Lichts entdecken ihr Herz für Handelsschranken, Einfuhrhindernisse und Zölle, je höher, desto besser. Ursula von der Leyen, immer dort, wo akut gerettet werden muss, hatte schon vor Tagen angekündigt, dass  EU-Kommission die wankende und dahinschwindende EU-Stahlindustrie vor Auswirkungen globaler Überkapazitäten schützen müsse.  

Kochen mit Luft 

Nicht mit  mit einem "Aktionsplan" diesmal, wie er noch im März im Handumdrehen eine "wettbewerbsfähige und kohlenstoffarme" Stahlindustrie schaffen sollte. Weil nämlich die "Stahlindustrie als Motor des europäischen Wohlstands" weiterhin gebraucht werde, nur eben stahlkochend in Hochöfen, die angetrieben werden mit grünem Wasserstoff, den es nicht gibt.  Nein, diesmal solle eine "Reihe von Maßnahmen den EU-Stahlsektor vor unlauteren Auswirkungen" der Stahlkocherei in Staaten schützen, die immer noch auf herkömmliche Weise arbeiten - und Strom aus fossilen Quellen beziehen.

Die EU-Kommission hält also einerseits natürlich "am Grundsatz des offenen Handels fest".  Andererseits kürzt sie die Menge des zollfreie nach Europa lieferbaren Stahl auf die Hälfte. Und verdoppelt für den Rest den Zollsatz auf 50 Prozent. So hoch muss der Schutzzaun sei, erstmal, um einen "starken Stahlsektor" zu erhalten, den man "für die Wettbewerbsfähigkeit, die wirtschaftliche Sicherheit und die strategische Autonomie" benötige. Aber auch dafür, dass er in Bälde "dekarbonisiert" (EU-Kommission) werde, so dass er dann "sauberen Stahl der nächsten Generation" liefern könne.

Ausgleichszölle für Gerechtigkeit 

Eine strenge Maßnahme nach dem Vorbild der erfolgreichen Sonderstrafzölle auf chinesische Elektroautos. Mit denen hatte die Kommission im Sommer 2024 die Daumenschrauben für die Produzenten in Fernost angezogen. Die würden, hieß es, im Gegensatz zu europäischen Autobauern, vom Staat bezuschusst. Deshalb müssten Ausgleichszölle für Gerechtigkeit sorgen. 

Die Bilanz des ersten Versuchs fällt beeindruckend aus: Im letzten Jahr vor den Abschreckungszöllen exportierten chinesische Hersteller 129.800 Autos mit reinem Elektroantrieb im Wert von 3,4 Milliarden Euro nach Deutschland importiert. Zahlen aus dem Jahr 2025 zeigen: In ersten fünf Monaten kamen die Exporteure nur noch auf 45.000 Fahrzeuge.

Ein schöner Rückgang um fast ein Fünftel, der den europäischen Herstellern geholfen und die Absatzflaute bei VW, Mercedes, Stellantis und Opel behoben hat. Die Wende zur Elektromobilität kommt endlich in Gang, und sie ist selbstgemacht. Nach demselben Muster eilen Kommission und Bundesregierung  nun herbei, der maladen Stahlindustrie aus der Misere zu helfen. Zollschranken hoch und damit die "Zukunft der deutschen Industrie" retten, so hat CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann den Plan umrissen, mit neuen EU-Einfuhrzöllen Wachstum zu generieren.

Unterschiede zum Jahresanfang 

Im Unterschied zum Jahresanfang, als Trumps Zollpläne ein verfrühtes Ende der Welt heraufbeschworen, sind diesmal alle dafür. Die sozialdemokratische saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) unterstützt die Forderung. Ihr Parteigenosse, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, wies vor dem geplanten Stahlgipfel darauf hin, dass "auch die chemische Industrie massiv unter Druck" stehe. Die Zollschraube, so hieß das, müsse noch viel weiter gedreht werden. Heiko Maas, nach einem kühnen Besetzungsmanöver seit kurzem Aufsichtsratsvorsitzer bei Saarstahl und Dillinger Hütte, hat sich noch nicht äußern können. Aber "für den Moment sind das gute Nachrichten."

Nicht jeder Zoll ist schlecht. Es kommt schließlich immer darauf an, wer ihn erhebt. Damit "hier in Deutschland produzierter Stahl seine Chance bekommen" kann (Rehlinger), darf der Freihandel nicht übertrieben werden. Schließlich müsse die Industrie hierzulande nicht gegen eine zuweilen irrwitzig erscheinende Energie und Transformationspolitik ankämpfen, sondern "gegen Dumpingpreise" derjenigen, die aufgrund ihrer Standortbedingungen günstiger produzieren. 

Hoffentlich kein Tünkram 

Vom Stahlgipfel im Kanzleramt, zu dem mit Friedrich Merz ein Mann eingeladen hat, dessen Zweifel am Erfolg einer Transformation zu grünen Herstellungsprozessen nach großem Widerspruch der progressiven Stahlparteien schnell wich, erwarten alle viel und noch viel mehr. Nicht noch einmal "Tünkram" (Habeck) soll Merz über die Möglichkeit erzählen, Stahl künftig nicht nur mit den rekordhohen deutschen Stromkosten zu weltmarktfähigen Preisen zu kochen, sondern das mit noch dreimal teurerem grünen Wasserstoff tun wollen. Sondern eines jener "wichtigen Signale" setzen, die als "konkrete und nachhaltige Hilfen für die kriselnde Branche" zu verstehen wären. 

Nicht die Ergebnisse, sondern der Stahlgipfel im Kanzleramt selbst sei "ein wichtiges Signal für die gesamte Industrie in Deutschland" hat Dirk Wiese übertriebene Erwartungen an Ergebnisse vorab einfangen. Er erwarte "klare politische Antworten" - im politischen Berlin gilt das als direkte Aufforderung, jetzt aber endlich mindestens von einem "klaren Kompass" zu sprechen und "die Energiekosten in den Griff zu bekommen" (Wiese). 

Chinas Stahlangriff 

Da in dieser Beziehung wenig Aussicht besteht, hat der auch der Parlamentarische SPD-Geschäftsführer die Zölle als Lösungssimulation im Hinterkopf.  Es gebe da "Länder, die die Regeln der Welthandelsorganisation systematisch verletzen". Auch wenn Deutschland und Europa sich deswegen nie beschwert hätten, sei klar, dass diese Staaten "die Regeln der WTO schwächt oder faktisch beseitigen" wollten "und damit auch unsere wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlichen Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg."

Da müssen neue Zölle sein, auch wenn die letzte diesbezügliche Auseinandersetzung mit China noch genau andersherumgeführt wurde. Dann obendrauf noch das Übliche: "Der Industriestrompreis, eine zukunftsfeste Kraftwerksstrategie und die Deckelung der Netzentgelte". Schon wäre "unsere Industrie international wettbewerbsfähig" und die Arbeitsplätze gesichert. Und das, obwohl es ihr weiterhin an Abnehmern fehlen wird, so lange Autoindustrie unter China-Importen leidet der Wohnungsbau unter  dem Geiz der Vermieter und die Investitionstätigkeit unter dem Umstand, dass Friedrich Merz die Stapel von Ansiedlungsangeboten ausländischer Konzerne erst noch "ordnen" muss. 

Wenn Stahl erst teurer ist

Die Zölle werden es richten, denn wenn Stahl erst deutlich teurer wird, kommt auch die Bautätigkeit wieder in Gang. In einem Strategiepapier hat die SPD bereits eine Bevorzugung von Stahl aus Deutschland und der EU gefordert. Koste es, was es wolle, das Geld ist ja da, es hat dann nur ein anderer. Der zuständige EU-Kommissar Stéphane Séjourné hat den 50-prozentige Trump-Zoll schon als Geburtshelfer einer "Reindustrialisierung Europas" gelobt. 

Danach wird global immer noch zu viel Stahl auf dem Markt sein. In der Kommission wird von deutlich mehr als 600 Millionen Tonnen weltweiter Überkapazität gesprochen. Doch China, das nach den Zahlen des Weltstahlverbands heute noch mehr als 1.000 Millionen Tonnen produziert, wird damit aufhören und die überzähligen Hochöfen herunterfahren - auch aus Respekt vor der in Deutschland heimischen Stahlindustrie und ihrer schweren Lage. Die hiesigen Hütten produzieren gerade mal 40 Millionen Tonnen im Jahr, zu Preisen, die bei 550 bis 650 Euro pro Tonne liegen, so lange fossil geschmolzen wird. Der grüne Stahl würde dann bei 1.100 bis 1.200 Euro liegen - China liefert derzeit für 440 Euro.