Dienstag, 16. September 2025

Neubauers Visionen: Eine Hand am Ordensband

Luisa Neubauer Schweitzer Preis Medaille
Zum Abschied von der Klimabewegung bekommt deren Mutter Luisa Neubauer noch einen verdienten Preis geschenkt.

Es wird ein neues Hochamt für unsere Demokratie werden, ein unübersehbares Zeichen gegen und zugleich ein eindrucksvolles Signal der Geschlossenheit und der Solidarität. Es gibt kein Zurückweichen, kein Einknicken und kein Nachgeben im Kampf gegen Narrative, Rechtsruck und Klimaleugnung, das wird mit der Vergabe der renommierten Albert-Schweitzer-Medaille an Luisa Neubauer und ihre Klimabewegung "Fridays for Future" noch einmal nachdrücklich unter Beweis gestellt. 

Der rechte Namenspate 

Albert Schweitzer, in einer "Spiegel"-Reportage aus dem Jahr 1957 als "verbohrt, diktatorisch, vorurteilsvoll, pedantisch auf eine eigentümlich teutonische Art, reizbar und etwas eitel" beschrieben, ist der rechte Namenspate für die Auszeichnung der letzten deutschen Aktivistin. Der geniale Arzt sein ein "tiefer Moralist", berichtet John Gunther, sein Besucher vom "Spiegel", er habe "aber verhältnismäßig wenig Interesse für die Menschen selbst, seien sie nun Afrikaner oder etwas anderes." 

Einen passenderen Preis hätte Luisa Neubauer nicht erhalten können, denn auch Schweitzer ließ seine  "zärtlichste Fürsorge" seinen Hausantilopen zukommen. "Er scheint die Tiere lieber zu haben als die Menschen; vielleicht - wer weiß? - sind sie ihm dankbarer", staunte in seinem Buch "Afrika von Innen".

Luisa Neubauers letzter Bestseller hieß "Was wäre, wenn wir mutig sind?", er analysiert die Machtkämpfe hinter der Klimakrise, legt die fossilen Wurzeln unserer Demokratie frei und zeigt, wie eine realistische Utopie auf unserem Planeten aussehen kann. Doch kaum jemand hat die 144 Seitchen gelesen, kaum jemand will noch Neubauers Aufruf folgen, "zu intervenieren und unsere ökologischen Grenzen zu verteidigen". 

Zumindest Schweitzer-Laudator Heinrich Bedford-Strohm lobte "Neubauers Vision" einer klimafreien Welt und ihre "guten Argumente". Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Zentralausschusses des Weltkirchenrates (ÖRK) muss es wissen, denn er war vor drei Jahren selbst Empfänger des von der baden-württembergischen Ärzteschaft vergebenen Preises.

So ist das am Ende jeder Ära. Die Kreise derer, die Preise verliehen bekommen, werden immer kleiner, die Doppelehrungen immer häufiger. Sicher im Rennen um höchste Ehrungen ist in den letzten Tagen vor einer Zeitenwende ist irgendwann nur noch, wer sich bereits als preiswürdig erwiesen hat. Bundesverdienstkreuze werden unter denen verteilt, die ganz nah an den Verleihern arbeiten. Die Vordenker und Vorkämpfer der neuen Zeit lassen sich eigens für sie selbst geschaffene Sonderauszeichnungen wie frühere Hauptmänner für sich den Rang "Feldmarschall" erfinden ließen.

Verdienst am Schulterband 

Eine Hand am Ordensband wäscht die andere. Es kann gar nicht genug solcher Auszeichnungen geben, um alle regelmäßig abzufüttern. Wem es als Politschaffenden nicht gelingt, sich auf halber Strecke seiner Laufbahn wenigstens ein Bundesverdienstkreuz verleihen zu lassen, der bekommt später ein Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband für seinen Trophäenschrank daheim. Nirgendwo ist die Anzahl von Ordensträger höher als dort, wo die Nähe zu denen, die die Auswahl treffen, groß und die Anzahl der Ordensträger hoch ist. 

Unter den insgesamt 264.620 Trägern von Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ist die Anzahl von Diktatoren, Mördern und Menschenrechtsverletzern höher als die von Schlossern, Hausfrauen und Kellnerinnen. Je exquisiter die Stufe der Verdienstkreuze, Großen Verdienstkreuze und Großkreuze, desto adliger, elitärer und blutbefleckter der Trägerkreis.  Nicht nur Joe Biden und François Hollande, Václav Havel und König Charles III. sind Träger der "Sonderstufe des Großkreuzes", sondern auch Nicolae Ceaușescu und Josip Broz Tito, Mohammad Reza Schah Pahlavi und Haile Selassie.

Zum Abschied noch eine Medaille 

Das Muster, das auch Luisa Neubauer eine Medaille zum Abschied einer kurzen, aber erfolgreichen Karriere beschert, springt ins Auge. Unter den Inhabern des "Grimme"-Preises ist kaum einer, der nur einen hat. Beim führenden Fernsehschaffenden des ZDF, dem Komiker Jan Böhmermann, stapelt sich ein halbes Dutzend auf dem Hausaltar. Böhmermann trägt außerdem mehr als 50 weitere Orden, Medaillen und Ehrenpreise. 

Darunter ist auch der nach dem letzten ARD-Journalisten Hanns Joachim Friedrichs benannte Friedrichs-Preis - nicht zu verwechseln mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - , den 2023 auch Elmar Theveßen verabreicht bekam, als USA-Korrespondent des ZDF einer der treffsichersten Analysten des amerikanischen Elends.

Die Jury hatte den Mittfünfziger seinerzeit geehrt für seine "souveräne Sachkenntnis" und den "scharfen Blick für die großen Zusammenhänge". Seine Chefredakteurin Bettina Schausten, berühmt geworden durch ihre feinfühligen Merkel-Verhöre, freute sich, "dass mit Elmar Theveßen ein exzellenter Journalist ausgezeichnet wird", der "mit großer analytischer Tiefe in der aktuellen Berichterstattung ebenso wie in hintergründigen Dokumentationen komplexe globale Zusammenhänge" erkläre und "für Zuschauerinnen und Zuschauer die Lebenswirklichkeit der Menschen in seinem Berichtsgebiet erlebbar" mache. 

Da kommt noch was nach 

Die Ärzte-Jury wird womöglich von "Theveßens Vision" und seinen "guten Argumente" für behauptete Steinigungen angeführt, um dem deutschen Talkshowkönig und "höchst effizient arbeitenden Profi", der zwar Träger des Medienpreises des Deutschen Bundestages, dreifacher Gewinner des Radio-, TV- und Neue-Medien-Preis der RIAS-Kommission und Deutscher Fernsehpreisträger ist, aber bislang ohne Grimme-Preis leben muss, im kommenden Jahr die Albert-Schweitzer-Medaille zu verehren. 

Nötig wird es werden, denn seit Elmar Theveßen dem jüngst verstorbenen Charlie Kirk mit mutigen Worten die Maske des Ultraradikalen vom Gesicht gerissen hat, steht der Mann, der Auge und Ohr des ZDF in den USA sowie aus El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Jamaika, Kuba, Panama und "Mexico" (ZDF) ist, unter Remigrationsdruck. US-Politiker haben ihn und seine Kollegen Dunja Hayali ins Visier genommen. Kaum schafft es die solidarische Linke noch, den Unmut als unangebrachten Hass und die Fake News als folkloristische Meinungsausrutscher zu entschuldigen und die hart arbeitende Mitte zur Gegenwehr auf die Barrikaden zu rufen.

Montag, 15. September 2025

Krieg dem Sport: Freizeitterror auf dem Fußballplatz

Hetzjagd auf Fußballspieler: Weitgehend ungestört von Polizei und Justiz terrorisieren sogenannte Ultras den Fußball.

Sie terrorisieren den Sport, erpressen die Vereine, nutzen Fußballspiele, um absurde Kleinkriege mit auf den Rängen zu führen. Seit Jahrzehnten halten die sogenannten "Ultras" vor allem die unteren Ligen und vor allem die im Osten Deutschlands in Atem. Gerade erst wieder führten die "Ultra"-Fans des tief gefallenen früheren Zweitligisten Hallescher FC vor, wem ihrer Meinung nach der Fußball gehört. Nach einem enttäuschenden 0:0 gegen den Tabellenletzten der 4. Liga stürmten drei Handvoll schwarzgekleideter sogenannten erlebnisorientierter Ultra-Hooligans den Platz. Ungestört von Ordnungskräften und Polizei jagten sie die hektisch flüchtenden Spieler der gegnerischen  BSG Chemie Leipzig. Erst nach Minuten gelang es, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen.

Außer Rand und Band 

Dabei ist sie dauerhaft schon vor Jahren außer Rand und Band geraten. Regelmäßig zerstören die selbsternannten Fans große Fußballabende. Regelmäßig fallen sie durch organisierte Gewaltausbrüche auf. Zuletzt hatten HFC-Anhänger im April beim Spiel in Jena planmäßig ein Zaunfeld abgeschraubt, um die Anhänger des Gegners angreifen zu können. Das Spiel wurde für 40 Minuten unterbrochen, der Nordostdeutsche Fußballverband verhängte später eine Geldstrafe von 18.700 Euro gegen den HFC. Aus den erstatteten 82 Strafanzeigen, immerhin waren 38 Personen verletzt worden, wurde bis heute keine einzige Anklage. Trotz vorliegender Videoaufnahmen.

Der Sachschaden, den enthemmte, von keiner Ordnungsmacht zu beeindruckende Ultras Jahr für Jahr verursachen, geht in die Millionen. Der Rufschaden, den sie am Image ihrer Heimatvereine anrichten, ist unbezahlbar. Sie sind wenige, kaum ein paar Handvoll in jeder Stadt. Doch die Polizei und Justiz vermitteln ihnen seit Jahrzehnten das sichere Gefühl, unangreifbar zu sein. Wochenende für Wochenende verbreiten sie Angst und Schrecken. Woche für Woche beschäftigen sie Sportgerichte. Sehr, sehr selten nur Strafkammern. Über eine Saison gerechnet kosten sie die Vereine, denen sie angeblich enger verbunden sind als alle anderen, alle "normalen" Fans, Hunderttausende Euro, die für Spielgehälter fehlen. 

Freundliche Begleitung 

Und doch geschieht ihnen kaum jemals etwas. Die Polizei belässt es bei freundlicher Begleitung. Staatsanwälte schauen weg. Ermittlungsverfahren gibt es allenfalls gegen einzelne Tatverdächtige, nie gegen die fest gefühlten und sorgfältig gegen Einblick von außen abgeschirmten Gruppen der Erlebnisorientierten. Dabei ist deren eigentlicher Charakter unübersehbar. Zwar feiern sich die Ultras aller Klubs als die Unbeugsamen und Unentwegten, die ihre Mannschaft überallhin begleiten, sie anfeuern und damit erst die bei den Tribünenzuschauern so beliebte Stadionatmosphäre erzeugen. Doch verglichen mit dem Schaden, den sie anrichten, ist ihr Nutzen bescheiden. 

Es werden Straftaten begangen, oft angekündigt. Und die Staatsmacht interessiert sich nicht dafür. Es werden Straftaten begangen, und an der mafiaartigen Omerta unter den Ultras scheitert jeder Versuch, Täter zu ermitteln. Es werden Straftaten, doch spätestens vor Gericht werden aus Ultras verfolge Unschuldige. 

Als gehörten die Stadien ihnen 

Selbstbewusst als gehörten die Stadien in Wirklichkeit ihnen, gelingt es den Ultras an jedem Wochenende, unfassbare Mengen von Sprengmitteln an den Ordnern vorbei ins Innere zu schmuggeln. Trotzdem scheint es so, als sei gegen sie kein Kraut gewachsen. In der Definition des einschlägigen § 129 StGB lassen sich fast alle Ultra-Gruppen als kriminelle Vereinigungen erkennen: Mindestens drei Personen, die sich auf Dauer zu dem Zweck zusammenschließen, Straftaten zu begehen, die eine erhebliche Bedeutung haben und mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. 

Die erforderliche feste Hierarchie gibt es, ebenso den festen Namen, die gewisse Organisation und eine rudimentäre Struktur mit verbindlicher Mitgliedschaft, mit der sich Mitglieder den Zielen und der Willensbildung der Gruppe unterwerfen, so dass eine Eigendynamik der Vereinigung entsteht. Es ist eine organisierte Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel, bei der die Begehung von Straftaten im Vordergrund steht und nicht nur eine untergeordnete oder zufällige Tätigkeit ist.

Dem Druck gebeugt 

Die Fußballverbände haben sich schon vor längerer Zeit dem Druck der Freizeitterroristen unterworfen, die in einigen Vereinen bereits Vertreter in den Vorständen platziert haben. Zu deren Brauchtum gehört es, die Durchführung von Fußballspielen mit Hilfe von Rauchtöpfen aus gestohlenen Bundeswehrbeständen oder illegal eingeführten Feuerwerkskörpern aus dem Ausland nach Belieben zu unterbrechen. Stadien werden vernebelt, Raketen fliegen bestenfalls auf den Rasen, schlimmstenfalls gezielt hinein in die zum symbolischen Feind auserkorene Masse der gegnerischen Anhänger. 

Gedrängt von  ihren Ultras, setzen sich mehrere ostdeutsche Fußballvereine dafür ein, den Einsatz von Pyrotechnik der Kategorie F2, der als Silvesterfeuerwerk ausschließlich am 31. Dezember und 1. Januar erlaubt ist, auch außerhalb dieser Zeit zu gestatten zu stellen, wenn es sich bei den Anwender um Mitglieder einer Ultra-Gruppierung handelt. Eine spezielle Genehmigung der zuständigen Behörden, die bisher meist zwei Wochen von eigens ausgebildeten Feuerwerkern vorher beantragt werden muss, soll nicht mehr notwendig sein, fordern Vereine wie Dynamo Dresden, Energie Cottbus, Hansa Rostock und Union Berlin. Ins Sprengstoffgesetz müsse vielmehr eingefügt werden, dass die bisher vorgeschriebene CE-Kennzeichnung und die amtlichen BAM-Prüfnummern ebenso wegfallen sollen wie die Verbandsstrafen für illegal verwendete Pyrotechnik. 

Legal, illegal, scheißegal 

Die Vereine, die sich von ihren Fangruppen zu diesem Vorstoß haben drängen lassen, sind der Ansicht, dass bisher von den Fußballverbänden nach Pyrotechnik-Einsätzen rituell verhängten Geldstrafen für die Vereine "nicht zielführend" seien, weil sie die Probleme nicht lösen könnten. Eine Auffassung, die die zuständigen Staatsorgane teilen, ohne damit so öffentlich hausieren zu gehen. 

Woche für Woche werden hunderte strafbare Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz, nach dem Erwerb, Besitz oder die Einfuhr nicht zugelassener oder nicht konformitätsbewerteter pyrotechnischer Gegenstände mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden können, angestrengt ignoriert. Selbst der Umstand, dass die Benutzung von Pyrotechnik inmitten eines vollbesetzten Stadions immer andere Menschen gefährdet werden und damit regelmäßig eine gefährliche Körperverletzung nach §§ 223, 224 Strafgesetzbuch (StGB) vorliegt, führt nie zu strafrechtliche Konsequenzen.

Unwillig, Straftaten zu verfolgen 

Das Signal, das der Rechtsstaat an die erlebnisorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen  sendet, ist genauso fatal wie das, das die Vereine empfangen. Den einen gibt er zu verstehen, dass ihm  die Vielzahl der von den organisierten Ultravereinigungen begangenen Straftaten - von Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz über Körperverletzung, Erpressung, Bedrohung, Diebstahl bis hin zu Sachbeschädigung und Steuerhinterziehung - vollkommen gleichgültig sind. 

Die anderen lässt er wissen, dass er nicht gewillt ist, Straftaten nach § 125 StGB, bei denen sich Menschen an Gewalttätigkeiten beteiligen oder eine Menschenmenge dazu anstiften, den öffentlichen Frieden stören, kategorisch als Landfriedensbruch zu verfolgen, so lange sich die Menschenmengen, die sich an den strafbaren Gewalttaten beteiligen, hinter den Mauern eines Stadions befinden.

Privatisierung des Rechts 

Eine Privatisierung des Rechts, die es den Veranstaltern von Fußballspielen auferlegt, mit den vom Strafrecht definierten "Menschenmengen" zurechtzukommen, die den "den öffentlichen Frieden" gefährden. Eigentlich sollte der Tatbestand des Landfriedensbruchs mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder wenigstens Geldstrafen geahndet werden, ganz egal, wo Verstöße gegen den einschlägigen § 125a StGB stattfinden oder"Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit"  auch nur angedroht werden. In der Realität hat sich ein extralegales System eingespielt, bei dem nicht die Täter von der regulären Justiz zur Verantwortung gezogen werden, sondern die veranstaltenden Vereine von einer internen Verbandsjustiz nach einem inzwischen fest etablierten Bußgeldkatalog Ablass für schwere Straftaten zahlen.

Dass es zu einer Strafverfolgung kommt, wie sie das Strafgesetzbuch vorsieht, ist seltener als keine Meisterschaft des FC Bayern München. Gelegentliche Verurteilungen erscheinen wie reiner Zufall. In den meisten Fällen werden Ermittlungen nach einigen Monaten ergebnisloser Bemühungen, aus dem Umfeld der mutmaßlichen Täter Erkenntnisse zu gewinnen, eingestellt. Oder aber Urteile fallen, deren erzieherischer Einfluss auf die Szene etwa dem eines Belobigungsschreibens gleichkommt.

Das Rätsel Rechtsstaat 

Mit dieser Haltung gibt der Rechtsstaat Rätsel auf, die unlösbar erscheinen. Selbstverständlich wissen die Behörden, welche großen und illegalen Sprengstoffbestände in den Hauptquartieren der Ultragruppen lagern. Selbstverständlich ist ihnen bekannt, dass der schwunghafte und lukrative Handel, den die Vereinigungen mit Fanartikeln betreiben, am Finanzamt vorbeiläuft. Selbstverständlich sind die Köpfe der Organisationen bekannt und die Archive voller Videoaufnahmen mit dokumentierten Straftaten. 

Aus irgendeinem Grund aber scheint es den Behörden auch ein Vierteljahrhundert nach der Ablösung der alten Hooligan-Bewegung durch die anfangs durchaus friedlicher auftretenden Ultra-Gruppierungen opportun, die Szene gewähren zu lassen. Selbst die Millionen an Kosten, die deutsche Steuerzahler für die immer aufwendigeren Polizeieinsätze zur Überwachung von Fußballspielen bis hinunter in die 4. Liga tragen müssen, erscheinen offenbar günstiger   als die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in und um die Stadien durch konsequente Strafverfolgung.

 

 

 

Euer Glaubwürden: Wie Friedrich Merz die Winterwende einleitet

Friedrich Merz, CDU, Kanzler, Volkspartei, AfD, Kommunalwahlen, Stimmungswende
Ein Mann, ein Wort: Friedrich Merz


Bis zum Sommer hat es nicht ganz geklappt mit dem Stimmungsumschwung, auf dem Friedrich Merz mit seiner Union zurück zu alter Beliebtheit fliegen wollte. Wieder Volkspartei! Wieder vertrauenswürdig. Wieder eine politische Kraft, die treibt und nicht mehr getrieben wird. Doch aus dem Feuerwerk der Versprechen, mit dem sich die selbsternannte letzte Patrone der demokratischen Mitte ins Kanzleramt gebrochen hatte, wurde eine Kette aus Fehlzündungen. Schneller als Friedrich Merz hat  noch nie ein Kanzler auch noch das letzte bisschen Vertrauen verloren, das er besaß.  

Rücknahme vor Vereidigung 

Zentrale Wahlzusagen nahm Merz bereits vor seiner Vereidigung zurück. Die Antworten auf 551 Fragen blieb er schuldig. Die Grundzüge seiner Politik waren mehr stabiles Weiterso als Zeitenwende. Selbst die Grünen, anfangs skeptisch, weil sie Merz verdächtigten, tatsächlich eine zweite geistig-moralische Wende einleiten zu wollen, waren des Lobes voll. 

Die kleinste große Koalition, die jemals in Deutschland regiert hat, setze die klugen Pläne der Ampel-Regierung um, freuten sie sich. Die Energiestrategie stamme von Robert Habeck, die Ideen zu Stahlgipfel, Festhalten am Heizungsgesetz und neuer Staatsförderung für Reiche, die sich E-Autos anschaffen wollen - alles Tricks und Kniffe aus der rot-grün-gelben Transformationsagenda.

Im Stimmungstal 

Im Stimmungstal bringt das bisher keinen Aufwind. Immer näher rückt die Brandmauer in die hart arbeitende Mitte des politischen Berlin, einer Festungsstadt, umgeben von Wirklichkeit, gegen die die unbeliebteste Regierung der bundesdeutschen Geschichte mit der Behauptung kämpft, sie habe doch aber schon so viel geschafft. Merz, auch nach dem Muster einer Vorlage aus seinen ersten Tagen im Amt inzwischen auch von regierungsnahen Medien als "Außenkanzler" verhöhnt, spürt selbst, wie sich die Schlinge zuzieht

Die Wirtschaft kommt nicht in Gang. Die Insolvenzwelle schwillt weiter an. Die Arbeitslosenzahlen steigen, die Hoffnungen auf baldige Besserung sinkt. Es scheint immer mehr Bürgerinnen und Bürger beinahe schon grundsätzlich egal, mit welchen akuten Enthüllungen der einzigen vom Bundesamt für Verfassungsschutz jemals zumindest vorübergehend als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuften Partei nachgewiesen wird, wie fürchterlich das Leben unter ihr erst werden würde. Nach dem Strohfeuer an Begeisterung, das Sahra Wagenknechts BSW entzündet hatte, und einem kurzen dead cat bounce der Linken ist es sie allein, die vom ratlosen Herumregieren der früheren Volksparteien profitiert.

Der größte Kanzler 

Der zumindest in Zentimetern gemessen größte Kanzler, den die Bundesrepublik je hatte, geht proaktiv  mit der Misere um.  Wenn es nicht der Sommer war, der eine Stimmungswende brachte, dann muss es nun es eben der Winter sein. Schon vor dem Anpfiff der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen gab der CDU-Chef das "Lehren ziehen aus den Ergebnissen" als neue Parole aus. 

Was sonst jeweils nach der Wahl rituell betrieben wird - Dank an die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, Dank an die Wählerinnen und Wähler, das zerknirschte Bekenntnis dazu, die Botschaft der Wählenden verstanden zu haben und in Kürze tief in die Analyse der eigenen Fehler einsteigen zu wollen - erfolgte diesmal schon vor der Öffnung der Wahllokale. 

Vorbild Köln 

Merz, mit dem schlechtesten Ergebnis aller Kanzler im zweiten Anlauf ins Amt gewürgt, will andere Saiten aufziehen. In Bälde werde er, hat Merz angekündigt, mit der AfD "um die richtigen Themen" streiten. Womöglich nach dem erfolgreichen Vorbild Köln. Dort hatten sich die demokratischen Parteien der Mitte vor den Kommunalwahlen darauf verständigt, im Wahlkampf Ausländer "nicht für negative gesellschaftliche Entwicklungen" verantwortlich zu machen. Stattdessen wollte man sich auf den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren und die Instrumentalisierung des Themas Migration allein der vor Monaten bereits kurzzeitig als in Gänze "gesichert rechtsextrem" eingestuften AfD zu überlassen.

Das Ergebnis der Strategie kann sich sehen lassen. Der AfD gelang es, ihr Ergebnis in der Domstadt, einer traditionell grün und rot dominierten Metropole der Vielfalt, zu vervielfachen. Aus knapp über vier Prozent wurden zweistellige Zahlen. Die Grünen hingegen verloren die Hälfte ihrer Wähler. Ein Einbruch, den nur der Sieg ihrer OB-Kandidatin Berivan Aymaz in der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl nicht zum Debakel werden ließ.

Das Kraftzentrum 

Bei der CDU feiern sie den Ausgang der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen als Sieg. "Mit 34 Prozent sind wir erneut die stärkste politische Kraft – und das mit großem Abstand", jubelte die Landes-CDU. Dieses Ergebnis bestätige: "Nordrhein-Westfalen ist das Kraftzentrum der CDU." Es ist allerdings eine CDU, die selbst dort nicht mehr zulegen kann, wo der bisher für den allgemeinen Rechtsruck bei den Wählern verantwortlich gemachte Osten in sicherer Entfernung liegt. Der Zugewinn von elf Prozent, den die AfD feiert, speist sich aus erstaunlichen Quellen: Es sind SPD, Grüne und FDP, deren Anhänger mit fliegenden Fahnen zu den Blauen wechseln.  

Wo der Wohlstand schon ähnlich bröckelt wie drüben, sieht es für das Kraftzentrum CDU sogar schon richtig übel aus. In Gelsenkirchen landet die letzte Volkspartei mit 18 Prozent der Stimmen unter "ferner liefen". Stärkste Partei wird die AfD.  NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst verkauft das als Erfolg, indem er einen passenden Vergleichmaßstab heranzieht. Seine Landespartei liege acht Prozent über dem Bundesschnitt. "Insofern ist das ein tolles, ein großartiges Ergebnis." Das müsse trotzdem "zu denken geben", schon Wüst später nach: "Das kann uns auch nicht ruhig schlafen lassen. Selbst meine Partei nicht, die diese Wahl so klar gewonnen hat".

Von Grün zu Blau 

Noch bei der 2015 Kommunalwahl hatten CDU (38,6 Prozent) und SPD (31 Prozent) zusammen beinahe 70 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereint, heute sind es noch 57. Für einen Landesverband, den Konrad Adenauer für "das Kernstück der gesamten CDU" hielt, sind das beunruhigende Zeichen. Für die SPD, die Anfang der 90er vor der CDU lang und bis vor zehn Jahren nie weniger als 30 Prozent der Stimmen holte, ist es die Fortsetzung eines Niedergangs, von dem anfangs die Grünen profitierten. Und nun die Blauen.

Die seien "einer der Gewinner", ordnet die "Tagesschau" den Zugewinn von  zwei Dritteln ein. Die einzige andere Partei, die nicht verloren hat, ist Die Linke mit plus 1,6 Prozent. Der Bundeskanzler nennt es "Verschiebungen in der Parteienlandschaft", dies ich "hinter der CDU ergeben". Er werde sich das "in aller Ruhe anschauen und dann daraus Konsequenzen ziehen im Hinblick auf die Art, wie wir Wahlkämpfe führen; im Hinblick darauf, wie wir Themen behandeln; im Hinblick darauf, wie wir die Auseinandersetzung mit Wettbewerbern aufnehmen", kündigte Merz im Stil seines Vorgängers Olaf Scholz an. 

Das Gesicht der neuen SPD 

Dessen Methode, nichts zu überstürzen, sondern alles darauf zu setzen, dass eines Tages alles von selbst wieder ins oft kommt und die Wirtschaft anspringt, hat Merz schon nach einem halben Jahr zu seiner eigenen gemacht. Nach der ausgefallenen Stimmungswende im Sommer setzt der CDU-Chef jetzt auf eine Winterwende, die sein Berliner Koalitionspartner schon  eingeleitet sieht. Bloß kein heißer Herbst, sagt sich der Kanzler. Und er moderiert die Ohrfeige aus NRW vorbeugend ab.

Bärbel Bas, die personifizierte Verkörperung der neuen SPD, sieht den unaufhaltsam scheinenden Aufstieg der AfD nicht als Aufstieg, sondern als Beweis dafür, dass ihre Partei die Aufgabe habe, "jetzt wieder die Politik zu machen, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bewegt". Bas ist sicher: "Das ist die Aufgabe, die wir jetzt auch haben und da wird uns auch die AfD nicht den Rang ablaufen." 

Bärbel Bas gefällt das 

Ihre Partei habe bei der Kommunalwahl immerhin "kein Desaster", rückt sie die eigenen Erwartungen in die Mitte des Ereignishorizontes. Gäbe es in NRW nicht viel true und sture Stammwähler, hätte das schlechteste Ergebnis aller Zeiten durchaus noch viel schlechter ausfallen können. So geht es als recht gut durch und zeigt, was aus der einst stolzen Arbeiterpartei geworden ist: Ein Funktionärsbeschäftigungsbetrieb, der sich schon wunderbar gefällt, wenn er "gekämpft" hat. Wie der zufrieden Wüst, der nicht mehr "ruhig schlafen" kann, und Merz, der bald mit der AfD "um die richtigen Themen" streiten wird, weiß auch Bas weiter. Sie kündigte "auch Konsequenzen" aus dem Wahlergebnis für die Bundespolitik der schwarz-roten Regierung an. Das Wahlergebnis sei ein Weckruf. "Um die angekündigten Projekte anzugehen."

Es sind Nachrichten aus einer Parallelwelt, zu der die Wirklichkeit keinen Einlass bekommt. Zwei Drittel der Kommunen in NRW können im nächsten Jahr keinen ausgeglichenen Haushalt mehr vorlegen, in Sachsen-Anhalt steht die langjährige Regierungspartei im kommenden Jahr vor der verzweifelten Anstrengung, es wenigstens wieder ins Parlament zu schaffen. Von den 21,5 Prozent bei den Landtagswahlen vor 20 Jahren sind der früheren Arbeiterpartei noch ganze acht geblieben. Das optimistische Szenario einer einfachen Trendfolgerechnung lässt die SPD bei 7,9 Prozent laden. In den Landtag würde das reichen, ohne kollektive Hilfe von Linkspartei und BSW aber nicht zu einer Regierungsmehrheit.

Nur ein gemeinsames Interesse 

Dass Friedrich Merz und Lars Klingbeil etwas einfallen wird, um den Trend zu drehen, steht kaum zu befürchten. Das einzige gemeinsame Interesse de beiden Regierungsparteien bestand von Anfang an darin, zu regieren. Wie genau und wohin, darüber besteht weiterhin keine Einigkeit. Auch Wähler, die seit nunmehr zehn Jahren versuchen, den beiden Hausparteien von "unsere Demokratie" mit immer deutlicheren Signalen Hinweise darauf zu geben, was sie dich bitte, bitte, bitte tun sollen, vermögen daran weiterhin nichts zu ändern.

Sonntag, 14. September 2025

Lebensmittelwende: EU gegen Essenreste

Lebensmittelverschwendung, Ursula von der Leyen, Groceries Act, EU-Verbraucherschutz, Bürokratieabbau, Klimaschutz, Ernährungsvorgaben
Künftig muss in der EU aufgegessen werden. Die Gemeinschaft hat ihren Bürgerinnen und Bürgern das Ziel gestellt, bis 2030 beträchtlich weniger Lebensmittel wegzuwerfen.

Vor Freude strahlend und voller Stolz auf das bereits Erreichte nahm Ursula von der Leyen den begehrten Preis entgegen, den die sächsische Verbraucherschutzorganisation "Friends of Subsidiarity" (FoS) einmal jährlich vergibt. Mit dem "Großen WindbEUtel" ehrt die Vereinigung engagierter Nicht-Regierungsmitarbeiter Institutionen und Behörden, die sich besonders um die Bürokratisierung und den Ausbau von Behördendschungel und Vorschriftenchaos verdient machen. Diesmal war die EU dran - seit Jahren schon immer beinahe in Titelnähe, stets aber doch noch kurz vor dem Erhalt des Zuschlages von anderen Regelkreisen mit noch höherer Eingriffsintensität übertroffen.

Gegen zu viel Bürokratie 

Diesmal aber musste es sein. Mit ihrem im Februar angekündigten radikalen Vorgehen gegeben Versprechen,  gegen "zu viel Bürokratie" (Die Zeit) vorzugehen, um die europäische Wirtschaft zu stärken, hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen einen neuen Kurs eingeschlagen. Green Deal und der Wiederaufbau des Kontinents müssen warten. Die Pandemie-Resilienzprogramme werden ebenso auf die lange Bank geschoben wie der mit dem Chips Act geplante eilige Aufbau einer eigenen  Halbleiterindustrie, den große US-Unternehmen hatten übernehmen sollen. 

Wichtiger sei es jetzt, heißt es in den langen, düsteren und energieeffizienten Fluren des  Berlaymont-Gebäudes in Brüssel, den Kontinent wieder in die Wachstumsspur zu bringen. Ein Hauch von  Isolationismus weht durch das alte Europa. Die Grenzen sollen künftig bewacht sein, Leistung soll sich wieder lohnen und Frankreich notfalls durch die EZB gerettet werden. Mit einer Nagelschere wollen Kommission, Parlament und EU-Rat zudem ins Dickicht der 6.500 Gesetze, Richtlinien und Verordnungen schneiden, die das Heer der 32.000 EU-Bürokraten allein in den zurückliegenden fünf Jahren geschaffen hat. 

Weg mit dem Vorschriftenballast 

Wie damals, als die Zwillingstürme in New York noch standen, will die EU fitter werden durch weniger Vorschriftenballast. Wie damals hat sie sich vorgenommen, sich mit Hilfe einer "Schocktherapie" (Handelsblatt) im Handumdrehen eines Viertels aller hemmenden und einengenden Regelungen zu entledigen. 

Die EU schwört ihre Mitgliedsstaaten deshalb jetzt auf eine harte Diät ein: Privathaushalte sollen weniger Lebensmittel einkaufen und die eingekauften nicht mehr bedenkenlos wegwerfen dürfen. Aufessenmüssen wird zur ersten Bürgerpflicht. Der Groceries Act schreibt den 440 Millionen Verbrauchern vor, die Menge der Lebensmittelabfälle bis 2030 um 30 Prozent zu verringern. Statt wie bisher 60 Millionen Tonnen verdorbener oder nur halb aufgebrauchter Lebensmittel in den Abfall zu werfen, dürfen in fünf Jahren nur noch 40 Millionen im Müll landen. 

Das entspricht 132 Kilogramm je Kopf jedes EU-Bürgers - viel zu viel angesichts eines durchschnittlichen Lebensmittelverbrauchs von nur etwa 700 Kilogramm im Jahr. Die statistischen Daten sprechen eine deutliche Sprache: 1,9 Kilogramm Lebensmittel aller Art verbraucht jeder EU-Bürger täglich, ein halbes Kilo davon wirft er weg. Nach Ansicht aller EU-Institutionen ist das nicht nur Verschwendung, sondern auch eine unnötige Quelle für den Ausstoß von Treibhausgasen. 

Neue Vorgaben zur Ernährung 

Das Europäische Par­lament hat deshalb neue Vorgaben zur Ernährung erlassen: Die EU-Staaten werden beauftragt, Maßnahmen zu ergreifen, um Bürgerinnen und Bürger zur besseren Nutzung von Lebensmittelabfällen zu veranlassen.  Welche Schritte sie dazu ergreifen, ist ihnen überlassen. Sie können unangemeldete Haushaltskontrollen veranlassen oder aber Einfluss auf die Menge der ausgegebenen Lebensmittel durch die Rückkehr zu Lebensmittelmarke nehmen. Vorgeschrieben ist nur, dass die Menge der Lebensmittelabfälle, die ihn Haushalten entstehen, Ende 2030 in allen 27 Staaten um 30 Prozent niedriger liegt.

Die neue, lockere und unbürokratische Art, mit der Ursula von der Leyen Anti-Bürokratie-EU die Lebensmittelwende für die privaten Haushalte plant, zeigt, dass EU-Kommission und EU-Parlament verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat. Mit ihrem koordinierten Vorgehen gegen die drei Hauptverursacher von Lebensmittelresten geht die EU nicht wie früher ins Detail. Stattdessen nennt sie die nackten Fakten: Private Haushalte verursachen mit 72 Kilogramm je Kopf mehr als die Hälfte der Lebensmittelabfälle, schon vorher fallen bei Verarbeitung und der Produktion 35 Kilogramm an. Die restlichen 25 Kilo verschwenden Handel und Gastronomie durch zu hohe Bestellmengen, zu große Portionen und Verschnitt.

EU gegen Essensreste 

Auch für das Weltklima ist das eine Belastung."„Es ist ein Skandal, dass in Europa noch immer Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll landen", hat die sozialdemokratische Europaabgeordnete Delara Burkhardt das Problem angeprangert. Burkhardt hat Politikwissenschaften studiert und den in der SPD vorgeschriebenen Ausbildungsweg für Nomenklaturkader genommen, um jede Konfrontation mit der Realität zu vermeiden. Seit 2019 sitzt sie im EU-Parlament, dort setzt sich die von der Obama Foundation des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als "Obama Leader Europe 2022" für Herzensthemen wie Kreislaufwirtschaft, Kampf gegen die Klimakrise und gegen Kernkraftwerke ein.

Mit der Verschwendungsverhinderungsrichtlinie, die dem Verbrauch von Lebensmittel zu nicht statthaften Zwecken einen Riegel vorschiebt, feiert Delara Nurkhardt den größten Erfolg ihrer noch jungen politischen Laufbahn. Und sie macht Bürgerinnen und Bürgern ein Geschenk: Wer weniger wegwerfe, müsse weniger kaufen. Das sei nicht nur gut für Klima und Umwelt, sondern schone in  Zeiten knapper Kassen und wachsender Armut auch den Geldbeutel. 

Durchsetzung durch Kontrolle 

Bei der Durchsetzung der Beschlüsse vertrauen die europäischen Institutionen ganz auf den Ideenreichtum der Regierungen der Mitgliedsländer. Wie die die Reduktion des gesamten Lebensmittelverbrauches um immerhin fünf Prozent organisieren und durchsetzen, bleibt ihnen überlassen. Wichtig ist, dass sie ihre heute schon verpflichtenden Pläne zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen an die neuen Zielvorgaben anpassen. 

Für Deutschland kein Problem, denn die Bundesregierung hat sich schon jetzt zum Ziel gesetzt, Lebensmittelab­fälle bis 2030 sogar zu halbieren. Herzstück der Strategie ist dabei die neu gegründete "Bundeskompetenzstelle gegen Lebensmittelverschwendung" (BKgL) als zentrale Anlaufbehörde für Verschwendungsfragen. Angedockt ans Bundeslandwirtschaftsministerium, das für die Agrarbranche zuständig ist, in der Jahr für Jahr rund 190 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf der Bevölkerung ungenutzt verlorengehen, koordiniert die BKgL den Kampf an der Ernährungsfront. 

Bald kommen Lebensmittelstreifen 

Ideen zur Umsetzung gibt es bereits einige. Denkbar wären dann Lebensmittelstreifen, die Haushaltsabfälle auf unzulässig entsorgte Speisereste kontrollieren. Diese sogenannten Monitoring-Prozesse versprechen jedoch nur wirksam zu sein, wenn tatsächlich flächendeckend geprüft wird und Verstöße mit Bußgelder geahndet werden können. Ein anderer oder ergänzender Weg wäre das von jungen Tüftlern um den bekannten Dessauer Erfinder und Entrepreneur Jens Urban entwickelte Digitalisierungsprojekt "GrocerieCoin". Dessen Ziel ist es, Lebensmittelbestände vom Acker bis zum Abfallbehälter über die Hinterlegung in einer Blockchain über alle Produktions- und Verbrauchsstufen hindurch verfolgbar zu machen. 

Die Bundesregierung will zudem die App "Zu gut für die Tonne" für Privathaushalte weiterentwickeln - sie soll Menschen helfen, wirklich verdorbene und aus gesundheitlichen Gründen ungenießbare Lebensmittel zu identifizieren. Enthalten in der Applikation wird auch eine mobile Anwendung sein, die sogenannte Specki-Tonnen auf einer Karte lokalisiert und eine Funktion für die Routenplanung dorthin integriert hat. 

Zustimmung ist Formsache 

Nach dem Parlament muss dem neuen Lebensmittelkontroll-Gesetz noch der Ministerrat der EU-Staaten zustimmen. Da sich EU-Parlament und Mitgliedstaaten aber schon im Februar auf eine gemeinsame Fassung geeinigt hatten, ist das wie immer als reine Formsache. Die Regierungen in den Hauptstädten sind dann verpflichtet, die Regelungen in nationales Recht umsetzen. Tun sie das nicht fristgerecht, gilt der Groceries Act jedoch automatisch und unmittelbar.

Geld wird immer billiger: Werteverfall bei der Bundesbank

Sie hatte ein nur kurzes Leben: Nur knapp länger als zehn Jahre konnte die deutsche 20-Euro-Silbermünze dem Wertverfall der Einheitswährung trotzen. Jetzt fällt nach schon ihr Nachfolger weg, die 25-Euro-Münze.

Es wieder einmal so weit, schon wieder. Der stetige Anstieg des Silberpreises zwingt die Bundesregierung zu einer Maßnahme, die in der Geschichte der deutschen Gedenkmünzenprägung früher Seltenheitswert hatte: Ab 2026 werden die Nennwerte der Bundesbank-Silbermünzen erhöht – von 20 auf 25 Euro für Sterlingsilbermünzen aus 925er Silber und von 25 auf 35 Euro für Feinsilbermünzen aus 999er Material. Diese Anpassung ist unumgänglich, um die Wirtschaftlichkeit der beliebten Sammlermünzen sichern, denn deren Materialwert ist dem aufgeprägten Nennwert erneut bedrohlich nahegekommen.  

Ein galoppierender Silberpreis

Der Silberpreis hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Rallye hingelegt. Am 3. September 2025 erreichte er in Deutschland ein Jahreshoch von 35,20 Euro pro Feinunze (31,1 Gramm). Der Anstieg des Preises ist kein Einmalereignis, sondern die Fortsetzung eines Trends, der 2010 begann, als der Preis aufgrund der weltweiten Staatsverschuldung um rund ein Drittel anstieg. Damals führte die Entwicklung dazu, dass der Materialwert der 10-Euro-Gedenkmünzen aus 925er Sterlingsilber (16,65 g Feinsilber) den Nennwert von zehn Euro überstieg. Der Bundesbank drohte eine Situation, in der sie zehn Euro für eine Münze bekommen hätte, deren Materialwert höher liegt.

Das Bundesfinanzministerium reagierte darauf im Jahr 2011 mit einer drastischen Maßnahme: Der Silbergehalt wurde um ein Drittel auf eine 625er Legierung gesenkt, wodurch die Münzen nur noch 10 Gramm Feinsilber enthielten. Doch selbst diese Light-Münzen konnten die steigenden Kosten nicht dauerhaft abfedern. Bereits kurz nach der Umstellung lag der Wert von zehn Gramm Silber bei 10,51 Euro – ein Verlustgeschäft für die Prägeanstalten.

Notgedrungen folgte schon 2016 der nächste Einschnitt: Die 10-Euro-Münzen verschwanden, ihren Platz nahmen 20-Euro-Münzen aus 925er Silber ein. Mit 16,65 Gramm Feinsilber und einem höheren Nennwert sicherte dies zunächst einen Gewinn von etwa 11 Euro pro Münze. Doch inzwischen hat der  Silberpreis die Umstellung zur Profisicherung eingeholt. Bei 35,20 Euro pro Unze Silber liegt er bei einer 20-Euro-Münze bei etwa 18,80 Euro – gefährlich nahe am Nennwert.

Höhere Nennwerte statt Verdünnung

Die Bundesregierung hat sich diesmal entscheiden, nicht erst wieder am Materialwert zu sparen, um den Eindruck von Geldwertstabilität zu erwecken. Stattdessen werden die bisherigen 25-Euro-Münzen aus 22 Gramm 999er Feinsilber durch Münzen mit dem Aufdruck 35 Euro ersetzt. Ziel ist es, den Puffer zwischen Material- und Nennwert wieder zu vergrößern. Den hatte der galoppierende Kaufkraftverlust des Euro in den zurückliegenden Monaten wieder auf nahezu Null schrumpfen lassen. Bei einem Silberpreis von 35,20 Euro liegt der Materialwert der neuen 25-Euro-Münze bei etwa 18,80 Euro, während die neue 35-Euro-Feinsilbermünze nur einen Materialwert von rund 24,90 Euro hat – daraus ergibt sich wieder ein komfortabler Gewinn für das Bundesfinanzministerium. 

Eine erneute Verdünnung hingegen, nur eben nicht über eine neue Materiallegierung, wie sie in Tausenden von Jahren alle Imperien vorgenommen hatten, ehe sie fielen, sondern über einen  neuen Nennwert. Anderenfalls, argwöhnt die Bundesbank, werde das Vertrauen der Sammler untergraben, die sich nach früheren Verdünnungsrunden weigerten, die Light-Münzen zum Nennwert zu kaufen. Verständlich, denn bei der letzten Umstellung war der Silbergehalt von 13,87 Gramm, wie sie noch in den alten 10-DM-Münzen enthalten waren, auf 10 Gramm gesunken, während der Preis verdoppelt wurde. 

Der Anfang vom Ende des Euro als Hartwährung kam schon vor Jahren, damals fast völlig unbeachtet. 2010 beschloss das Bundesfinanzministerium, seine Zehn-Euro-Münzen aus Silber kräftig zu verdünnen: Weil der reine Silberwert der 10-Euro-Gedenkmünzen aus 925er Silber höher geworden war als der Nennwert von 10 Euro, wurde alles anders. Deutschland presste seine Silbermünzen seitdem nur noch aus einer Mischung von 625 Teilen Silber und 375 Teilen Kupfer. Mit dem Wechsel von der D-Mark zum Euro war bereits das Silbergewicht der auf den Nennwert zehn lautenden Münze verändert worden. 

Die Drohung der Verdünnung

Trotz der aktuellen Maßnahme bleibt die Gefahr einer erneuten Verdünnung akut. Die neuen Breakeven-Punkte – der Silberpreis, bei dem Material- und Nennwert gleich sind – liegen bei 46,70 Euro pro Unze für die 25-Euro-Münze (925er) und 49,47 Euro pro Unze für die 35-Euro-Münze (999er). 

Angesichts des aktuellen Preisniveaus von 35,20 Euro scheint dies zunächst ein sicherer Puffer. Doch die Geschichte zeigt, wie schnell solche Schwellen überschritten werden können. Bereits 2011 wurde die 625er-Legierung eingeführt, weil der Silberwert die 10 Euro überstieg. Nur fünf Jahre später war die Einführung der 20-Euro-Münze eine Reaktion auf ähnliche Probleme. 

Experten prognostizieren, dass ein Silberpreis von 46 bis 49 Euro pro Unze in den nächsten Jahren realistisch ist, getrieben durch globale Inflation, geopolitische Unsicherheiten und die Nachfrage nach Edelmetallen als Wertaufbewahrungsmittel. Sollte der Silberpreis diese Marken erreichen, stünde die Bundesregierung vor einer schwierigen Wahl: Entweder eine weitere Erhöhung der Nennwerte – etwa auf 30 oder 40 Euro – oder eine erneute Reduktion des Silbergehalts. 

Letzteres würde die Münzen ihrer Anziehungskraft berauben, wie es bereits in anderen Ländern geschah. Österreich etwa ersetzte seine 5-Euro-Silbermünzen durch Kupfervarianten, während die DDR in ihren letzten Jahren 20-Mark-Münzen mit nur 7,5 Gramm Silber prägte – ein Niveau, das die aktuellen 20-Euro-Münzen (8,32 Gramm bei 625er-Legierung) fast erreichen.

Inflation und Kaufkraftverlust

Der Anstieg des Silberpreises ist kein isoliertes Phänomen, sondern ein Indikator für einen tieferliegenden Prozess: den Verlust der Kaufkraft des Euros. Zwar behaupten Banker, Medien und Politik einhellig, der Silberpreis steige. Doch in Wirklichkeit ist es die Kaufkraft der Gemeinschaftswährung, die dahinschmilzt. Auch der Goldpreis, der in 21 Jahren von 250 Euro (2000) auf 1700 Euro pro Unze (2021) stieg, zeigt das. Was als Wertsteigerung von 700 Prozent oder etwa 33 Prozent jährlich wahrgenommen wird, spiegelt eigentlich ebenso wie der Silberpreis die Schwäche der einst als "stabil" gepriesenen Währung wider. 

Nicht Silber oder Gold werden teurer, sondern das Geld wird billiger. Der Euro kauft heute nicht nur weniger Edelmetall, sondern auch weniger Aktien, Immobilien oder Rohstoffe. Der Silberpreis, so der Tenor, ist ein Indikator für die schleichende Inflation, die durch Nullzinspolitik, Staatsverschuldung und globale Krisen  angefacht wird. Historische Parallelen untermauern diese Sicht. Schon im antiken Rom wurde der Silbergehalt der Denare reduziert, um militärische Ausgaben zu finanzieren – ein Prozess, der die römische Währung über Jahrhunderte schwächte. Diesmal geht alles ein wenig schneller.

Ähnlich agierte die DDR, deren Münzen in den 1980er-Jahren immer weniger Edelmetall enthielten. In Deutschland begann diese Entwicklung allerdings erst mit dem Übergang von der D-Mark zum Euro: Eine 10-DM-Münze mit 13,87 Gramm Feinsilber ist heute etwa sieben Euro wert, während eine 10-Euro-Münze (625er) zwar nahezu den doppelten Nennwert, aber nur etwa sechs Euro Materialwert hat. 

Die neuen 25- und 35-Euro-Münzen sollen diesen Trend bremsen, doch der Versuch wird scheitern. So sehr EZB und Bundesbank betonen, dass die explodierende Verschuldung keine dauerhafte Inflation auslösen werde, so deutlich spricht die Realität eine andere Sprache: Der Silberpreis steigt seit Jahren, weil der Euro an Kaufkraft verliert. 

Die offiziellen Silbermünzen drohen, demnächst wieder ein Verlustgeschäft zu werden. Schon bei einem weiteren Anstieg auf etwa 50 Euro pro Unze müsste die nächste Verdünnung vorgenommen werden. Das würde nicht nur die Sammler enttäuschen, sondern auch die Schwäche des Euros weiter offenlegen. Zwar ignorieren die meisten Bürger diesen sicheren Indikator dafür, was ihr Geld wirklich wert ist. Doch der Wahrung des Vertrauens in die bis heute hochgelobte Einheitswährung dienen höhere Nennwerte so wenig wie weniger Silbergehalt. 

Wie drastisch 

Ein Blick in die Geschichte offenbart Erschütterndes. Eine D-Mark-Münze - einst ausgegeben für zehn D-Mark - repräsentiert heute einen Silberwert von etwa sieben Euro. Der Materialwert einer 10-Euro-Münze mit dem annähernd doppelten Nennwert liegt hingegen nur bei etwas über sechs Euro. Nach den neuen Beschlüssen des Finanzministeriums gibt es für 25 Euro künftig 16,65 Gramm Silber setzte sich der Trend des Kaufkraftverlustes des Euro fort, wie sie seit Einführung aktenkundig ist, müsste die Bundesbank im Jahr 2050 auf eine Münze aus so viel Silber einen Geldwert von 150 Euro stempeln, um den üblichen Abstand zum Materialwert - dann etwa 133,78 Euro - zu wahren. 

Besser wird es auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht: Im Jahr 2100 muss der nominale Aufdruck "7.500 Euro" lauten, um mit dem üblichen Abstand über dem Materialwert von etwa 6.700 Euro zu bleiben. Da ein solcher Nennwert für Sammlermünzen unpraktisch ist, wäre eine drastische Verdünnung 10 Gramm Feinsilber fast schon  zwingend. 

Der aufgeprägte Nennwert könnte dann bei 5.000 Euro liegen. So viel wäre dann auch eine der alten D-Mark-Silbermünzen wert.

Samstag, 13. September 2025

Zitate zur Zeit: Das Vorhaben als Verbrechen

Seit mehr als einem Jahr wird gegen die "Gruppe Reuß" wegen eines Umsturzversuchs verhandelt. Inzwischen sind zwei Angeklagte aus der Haft entlassen worden.Urteile scheinen in weiter Ferne.

Er wusste, dass er nach Paragraf 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR von 1928 nicht einmal mehr als politischer Gefangener galt. Sollte man ihn eines Staatsverbrechens anklagen, war er schlicht und ergreifend ein Krimineller und konnte mit einer entsprechenden Verurteilung rechnen. 

Die Definition der Vergehen in den vierzehn Absätzen des Paragrafen war sehr allgemein gehalten. Man musste nicht einmal Amerikaner sein oder versucht haben, sich der sowjetischen Rechtsprechung zu entziehen. Man musste kein ausländischer Aufwiegler sein, auch kein Spion oder Sympathisant. Man musste nicht einmal tatsächlich ein Verbrechen begangen haben. 

Allein das Vorhaben galt bereits als Verbrechen und konnte als solches bestraft werden. Das Vorhaben des Verrats wurde ebenso scharf geahndet wie der Verrat selbst.

Die sowjetische Regierung brüstete sich mit diesem Zeichen ihrer Überlegenheit gegenüber der Rechtsprechung anderer europäischer Länder, die so töricht waren warten, bis ein Verbrechen begangen wurde, ehe sie die Strafe vollzogen. 

Alle tatsächlichen oder geplanten Handlungen, die den sowjetischen Staat oder die militärische Macht des Staates schwächen konnten, wurden mit dem Tod bestraft. Und nicht nur Handlungen. Auch Unterlassungen galten als konterrevolutionär.

Paullina Simons, Tatiana und Alexander, 2003

Blutdurst im Kulturkrieg: Hey, Faschist!

Nach Jahren des "Kampfes gegen rechts" sind Menschen bereit, sich über Anstand und Menschlichkeit hinwegzusetzen, weil sie sich wirklich im Krieg gegen das Böse wähnen.

Dumpf, gewissenlos und grausam, so fielen viele Reaktionen auf den Tod des US-Influencers Charlie Kirk aus. Ein Milieu, das sich selbst wieder und wieder zugesteht, die Moral gepachtet zu haben, zeigte sich als menschenfeindlich, mitleidslos und ausschließlich interessiert daran, aus einer Tragödie Honig für die eigene Agenda zu saugen. Die Wortmeldungen der Vorkämpfer unserer Demokratie erinnerten an die Art und Weise, mit der in totalitären System über eingebildete oder echte Feinde gesprochen wird. Nach der Entmenschlichung folgt die Verurteilung. Als höchstes der Mitleidsgefühle galt ein "traurig für die Familie", mit dem nachgeschobene "aber" letztlich sei das Opfer doch selbst verantwortlich.

Ein Mord als Menetekel 

Ein Mord als Menetekel für den Verfall der Sitten, der seit Jahren ausgerechnet von denen beklagt wird, die sie selbst noch in einem Moment ablehnen, in dem ein Attentäter einen Familienvater aus dem Leben reißt, weil er ihn wohl für einen "Faschisten" hielt, der nur noch den Tod verdient habe. Überall schimmerte Hoffnung durch, dass der Kulturkrieg, der nach der Zeitenwende in der gesellschaftlichen Stimmung in nahezu allen großen westlichen Demokratien verlorenzugehen droht, doch noch gewonnen werden kann, wenn es gelingt, die Richtigen als Verantwortliche für Tat eines - vermutlich - fanatischen Einzeltäters darzustellen.

"Hey, Faschist" soll der 22-jährige mutmaßliche Schütze auf das Magazin seiner Waffe gepinselt haben - viel Spielraum für andere andere Erklärung ist die, dass der Mörder aus Hass auf Andersdenkende gehandelt hat, die er für Wiedergänger der Nazis hielt, bleibt da kaum. Der Verdächtige wäre mit dieser Vorstellung nicht allein: Seit Jahren schon geht unter historisch weniger Gebildeten die Parole um, bei der neuen Rechte handele es sich um die alten Nazis der Hitlerzeit. Durchweg sind ihre Protagonisten nicht nur von ausgewiesenen linken Vorkämpfern, sondern auch von großen Magazinen, Tageszeitungen und Fernsehsender hüben wie drüben in die Nachfolge der Nationalsozialisten gerückt worden.

Nazis überall, die sich radikalisieren 

Bernd Lucke, ein Professor, der wegen der offiziell als "Euro-Rettungspolitik" bezeichneten  Abkehr von den Maastricher EU-Verträgen eine Partei gründete, verwandelte sich allein durch diesen Akt in einen lupenreinen Nazi. Beiseitegeschoben wurde er von der sächsischen Chemikerin Frauke Petry, die Luckes Nazi-Partei radikalisierte und zur Nazi-Partei machte, ehe sie einen  Machtkampf gegen die wahren Nazis verlor, die die Nazipartei seitdem stündlich weiter radikalisieren. 

Ein Phänomen, das international zu beobachten ist. Von Italien über Ungarn und Frankreich bis in die USA wimmelt es mittlerweile überall von Faschisten. Trump ist selbstverständlich einer, Orban auch, Le Pen selbstverständlich, Milei ebenso und Musk sowieso. Die Italienerin Meloni wurde lange als "Post-Faschistin" feministisch rücksichtsvoller behandelt, auch ihr aber sagte sie nach, am Untergang Europas zu arbeiten und die EU vernichten zu wollen. Als sich das als Märchen herausstellte, endete die Ära der Bezeichnung. Zurückgenommen allerdings wurde sie nie.

Die moralische Vernichtung des Gegenübers 

Warum auch. Nichts eignet sich besser zur moralischen Vernichtung des Gegenübers als der Vorwurf,  aus der Geschichte nichts gelernt zu haben, in der der Westen im Zweiten Weltkrieg gemeinsam gegen Russland kämpfte. Mit der Behauptung, wer mit Faschisten marschiere, sei selbst ein Faschist, fand der Zeitgeist eine bündige Formel. Später, als der "Kampf gegen rechts" die AfD richtig groß gemacht hatte, wurde sie erweitert zu "Wer Faschisten wählt, ist selbst ein Faschist". Zur Zeit sind das deutschlandweit ein Viertel aller Bürgerinnen und Bürger. Da die 14 Millionen "Nichtdeutschen" (Georg Restle) naturgemäß nicht unter ihnen sein können, ist nicht nur die Dunkelziffer höher, sondern ihr Anteil unter den Schonlängerhierlebenden.

Irgendwo in der Landschaft steht eine einsame, halbzerfallene Brandmauer, doch sie umschließt im Grunde nur noch das Berliner Regierungsviertel. Seit die "kleine Koalition (Katharina Dröge) das Werk der Ampel in doppelter Geschwindigkeit fortsetzt, ist das ohnehin kaum vorhandene Interesse der Bevölkerung an den Warnungen vor neuen Nazis noch einmal zusammengeschrumpelt. Wenn selbst der Biedermannn Friedrich Merz, nach fester Überzeugung vieler Linker gekauft von einem US-Konzern, den ein Jude aus Los Angeles führt, ein Nazi ist, wie der Staatskomiker Jan Böhmermann als Erster dekretierte, könne das alles wohl nicht so schlimm sein mit dem Vierten Reich.

Das Nazi-Schwert

Das Nazi-Schwert ist stumpf geworden. Doch während es geschwungen wurde wie noch niemals zuvor in der Geschichte, hat es Schaden angerichtet. Schaden vor allem bei denen, die die wüste Propaganda von der Wiederkehr der Hitlers, Goebbels und Himmlers so gern glauben wollen, dass sie einen US-Amerikaner, dessen einzige Untat die permanente Einladung an Andersdenkende war: "Proof me wrong", widerlegt mich doch. Das Dauer-Hitlern der Medien hat aus dem Mann, der Millionen Tote auf dem Gewissen hat, einen Allzweckreiniger gemacht, der eingesetzt wird, wo immer Erklärungsnot herrscht. 

Der Sozialdemokratin Natascha Strobl, obschon als Österreicherin dem strengen Wiederbetätigungsverbot unterliegend, fiel angesichts von Kirks Lebenswerk Hitlers Holocaustplaner  Reinhard Heydrich ein. Julia Schramm von der Linkspartei zeigte Verständnis für die Tat, denn auch wenn der Ermordete vielleicht wirklich nicht gesagt habe, dass Homosexuelle gesteinigt werden sollen, stehe es doch in der Bibel und die habe schließlich ja gut gefunden. Deutschlands Chefamerikaerklärer Elmar Theveßen widersprach Stephen King, hielt aber an seiner Darstellung fest. Sie sei nur nicht sher ausführlich gewesen. Für das ZDF war die Kette von Falschbehauptungen damit aus der Welt.

Der Fußballspieler Felix Nmecha dagegen bekam wirklich Ärger: Nachdem er öffentlich Trauer über den Mord am "Ultrakonservativen" und "Trump-Unterstützer" Kirk geäußert hatte, kündigte sein Verein Borussia Dortmund Konsequenzen an. Man werde mit dem bekennenden Christen sprechen, der sich erlaubt hatte, mit "möge der Herr der Familie Kirk in dieser Zeit mit besonderer Gnade beistehen" Mitgefühl zu ziegen, wo aus deutscher Sicht keins angebracht ist. 

Sein "polarisierender Post" (Der Spiegel) mit Sätzen wie "Ruhe in Frieden bei Gott" und "so ein trauriger Tag" hatte laut "Spiegel" "Empörung ausgelöst" und "für Unmut gesorgt", weil der Nationalspieler wie mittlerweile auch Elmar Theveßen behauptet, dass Kirk "friedlich für seine Überzeugungen und Werte eingestanden" habe. Eine "fragwürdige Einordnung", wie das Hamburger Magazin abschließend urteilte.

Ein Zeichen der Verachtung 

Das EU-Parlament setzte auf seine Weise ein unübersehbares Zeichen der Verachtung: Nachdem das Präsidium der Volksvertretung eine Schweigeminute abgelehnt hatte, erklärte ein Parlamentarier, dass er den Rest seiner Redezeit im Gedenken an Kirk schwiegen wolle. Katarina Barley, eine "starke Stimme für Europa", würgte den Versuch einer Demonstrativhandlung im Stil der Schweigeminute für den in Polizeigewahrsam ums Leben gekommenen Afroamerikaner George Floyd geistesgegenwärtig ab. "Wir fahren daher fort." Hundert Abgeordnete standen dennoch auf und schwiegen laut. Europa bot das übliche Bild einer Parallelgesellschaft.

Außerhalb Straßburgs ist nach dem Mord an Charlie Kirk ist die Sehnsucht zu spüren, es möge von nun an noch schlimmer kommen in der Vereinigten Staaten. Wie die RAF einst herbeisehnte, wenn schon nicht die eigenen Morde, dann mögen doch am Ende die Fahndungsmaßnahmen der Behörden dafür sorgen, dass das Volk aufsteht und ein Sturm gegen den Staat losbricht, hoffen die Gegner der neuen Nazis auf einen Bürgerkrieg, auf Tod und Verderben durch hasserfüllt marodierende Trump-Anhänger  und den Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Ordnung. Die hatte nach bisherigen Prognosen eigentlich Donald Trump aufheben wollen und sollen, käme es anders, wäre es aber auch rechts.

Methode Stalin 

Hauptsache, der Feind wird so bekämpft, dass er nicht wiederkommen und herumdiskutieren kann. Die Methode der Stalins, Maos und Pol Pots hat immer noch begeisterte Anhänger, sobald die Dauerberieselung mit der Botschaft von Hitlers Rückkehr als Björn Höcke fruchtet. Nach Jahren einer Gehirnwäsche, die nahelegt, dass seit 2015 die 30er Jahre angebrochen sind, hat sich das progressive Milieu in großen Teilen auf eine Weise radikalisiert und fanatisiert, die dazu führt, dass jedes Mittel recht erscheint, das Böse "auszumerzen", wie es der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering einmal ausgedrückt hat.

Der Rechten wird empört und in höchstem Maße aufgeregt nachgesagt, sie träume von Remigration. Die Linke bekennt sich zur Liquidation, weil es halt notwendig ist. Kirk sei ein "Faschist und offen rechtsextrem" gewesen, hat Annika Brockschmidt die Frage aller Fragen beantwortet. Die Journalistin, Autorin und Podcast-Produzentin, bekannt geworden durch ihr Buch "Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet", das ganz ohne Besuch in den USA entstand, gilt als Expertenexpertin beim Hetzportal "Volksverpetzer", die alles mit allem so erklären kann, dass es Dunja Hayali gefällt.

Es riecht nach Blutdurst im Kulturkrieg, der eben noch als "Kulturkampf" verharmlost worden war. "Wenn die AfD mal die Regie übernimmt, werden sich hier einige entscheiden müssen, was zu tun ist", imagniert sich ein Bernd Schwarte auf Facebook als neue Rote Kapelle. "Demo hilft nichts, wie wir wissen. Wie weit geht ihr aus Eurer Wohlfühlzone? Wie 1933 plötzlich ja-Sager werden?"

Nein, da macht Schwarte aus seiner Mördergrube kein Herz. Er bekennt sich demonstrativ zu der "Super Aktion" gegen "das kranke Arschloch". Reicht nur noch nicht. "Sollte in den USA Mode machen, mit Fokus auf Trump" schrieb er. Mit jeder Liquidierung solcher Idioten wird die Welt etwas besser. Von den Wichsern kann man nicht genug erschießen", glaubt er und hat schon genauere Pläne: "Christoph Lemmer auf WELT wäre auch fällig. Ein echter Fanboy von Kirk."

Freitag, 12. September 2025

Gespräche im Zwischendeck: Versöhnung mit dem Bösen

Viele Vorurteile, die einige Sachsen über Besucher aus den alten Ländern immer noch haben, konnten ausgeräumt werden. 


Es versprach erst nur, ein typischer Samstagabend zu werden. Ausgehen, Spaß haben, trinken und lachen, diesmal aber eben nur in Sachsen. Auf der Rückreise aus Prag, der Goldenen Stadt, aus der noch Billigflieger starten, war unser Auto liegengeblieben. Werkstatt? Nicht mehr am Freitagnachmittag. Mietwagen? Und wie zurück? "Wartense hold bis Montag, dann jehd er widder", versprach der Meister, eine große, knurrige Gesatlt aus altem Sachsenleder, womöglich der letzte seiner urigen Art hier in der Stadt August des Starken.

Sachsen also, Dresden, ein Wochenende im tiefsten Osten. Wie von einem Magneten gezogen landen wir in der Neustadt, dem hippen Szeneviertel, das der Lonely Planet preist. Wir nehmen die erste Bar, eng und laut wie in New York oder Taipeh. Kein großes Hallo, aber auch kein peinliches Schweigen, als wir uns setzen. Wir schauen noch, da ruft es schon vom Nachbartisch. "Die Wessis sind wohl was Besseres", versucht einer zu provozieren. 

Der guckt doch freundlich 

Bre sagt gleich, komm, lass uns gehen. Ich sage: Der guckt doch ganz freundlich. Der ist einer von einer ganzen Gruppe, Hans heißt er und wir rutschen nach einem kurzen fröhlichen Geplänkel rüber an den Tisch seiner Truppe. Ein  Gespräch wie ein artifizioeller Tanz. Unsichtbare Andeutungen. Unhörbare Verweise und Fragen. Job, Herkunft, Alter? Fußballverein? Und was denkste so, sagt Bre, die irgendwann immer anfängt, über Politik zu reden.

In Sachsen keine gute Idee, denke ich. Und richtig: Während die Kippen der Kerle qualmen, stellt sich heraus, dass sie alle AfD-Wählende sind und sich auch noch dazu bekennen. "Nur blau", sagt eriner, der es schon beinahe geschafft hat. So weit so gut. Bre, das sehe ich, fühlt sich wie im Zoo. Paviangehege vielleicht. 

Die typischen Ausflüchte 

Aber ich habe es ernst genommen. Wollte dann wissen, was deren Beweggründe waren. Ich meinen Mensch, ihr schadet Euch doch nur selbst!, sage ich. Was ich zu hören bekomme, sind die typischen Ausflüchte, das Nazi-Framing, das man immer hört. Man dürfe ja nichts mehr sagen, sagt einer. Hier in Sachsen gehe es ja noch. Bei ihm in Zwickau drüben, wirft einer ein, sei das Leben noch in Ordnung. Aber bald kämen ja die Entlassungen beim VW.  "Die Medien lügen, die Eliten in Berlin verstehen uns nicht."

Wir haben keine Angst. Wir haben sie dann wissen lassen, dass wir die Grünen wählen. War kurz stioll am Tisch. Einer knirscht: "Wessis hold". Aber die Reaktion danach überraschte mich. Kaum hatten die Männer einen Schluck Bier genommen und fünf neue Kurze bestellt - "ihr wollt ja sicher nicht, moderierte einer unseren Durst kurz ab - kamen die Fragen. Keine Vorurteile, eher echtes Interesse.

Kein Eun der. Denn die wussten gar nicht, wofür die Grünen stehen! Erneuerbare Energien, soziale Gerechtigkeit, massig Investitionen in kritische Infrastruktur, Wohnraum für alle, aber bezahlbar! Ein Land, das einfach funktioniert, sage ich und aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Bre sich freut, dass ich mich so gut schlage.

Der richtige Name 

Sie sind skeptisch, das ist unverkennbar. Einer kommt mit dem Heizungsgesetz. Ich erklär ihm erstmal den richtigen  Namen. "Gebäudeenergiegesetz". Das sitzt. In die Pause schiebe ich nach, dass die Grünen eben auch für wirtschaftliches Wachstum, aber nachhaltig und sauber und für alle. Wachstum, was es mit der AfD nicht geben würde, weil die nur Umverteilung von unten nach oben will eine Rezession und ein Ende für den starken Euro, mit dem man heute sogar in Irland und in Kroatien bezahlen kann.

Es ist wie ein Wunder. Sie hängen an meinen Lippen, der Strom an Widerworten verebbt. Samstagabend, der Wind trägt den Duft von Regen und Rebellion und die Bar ist verraucht, als häte uns eine Zeitmaschine ins Jahr 1975 katapultiert. Aber in diesem Ort, der wie ein Relikt aus vergangenen Epochen wirkt, mit Wänden, die Geschichten von Teilung und Wiedervereinigung flüstern, geschieht ein kleines Wunder. Keiner der Männer zieht sich die Hasskappe über. Keine prügelt und sticht zu. Die Luft ist dick vom Zigarettenrauch, der wirkt, als sei er in der Enge des Ostens gefangen. Doch die kleine Gruppe der Ewiggestrigen, eben noch überzeugt, bei den "Blauen", wie sie sie nennen, ihr Glück zu finden, wird weich und warm.

Wettergegerbte Felsen 

Auch Männern, deren Gesichter wie wettergegerbte Felsen wirkten, mit Händen, die hart sind wie Beton,  ist eine verborgene Zerbrechlichkeit zueigen. Der Älteste, ein Mann mit grauen Schläfen und Augen, die an stürmische Elbe-Wellen erinnerten, nippt an seinem Bier und lauscht aufmerksam. Die anderen – allesamt robuste Gestalten aus dem sächsischen Hinterland, mit Pranken, die Lust am Zupacken haben, lachen über meine Anekdoten aus dem Wahlkampfalltag in Essen. Sie lehnen sich vor, ihre Blicke hungrig nach Erklärung. 

Bre, mit ihrer sanften, aber unnachgiebigen Art, lässt sie immer wieder selbst zu Wort kommen. Sie fragt unumwunden nach ihren Wurzeln. "Aus dem Erzgebirge", brummt einer, "wo das Leben noch echt ist, nicht so verweichlicht wie drüben." Wir spüren beide den Riss, der durch dieses Land zog, eine unsichtbare Mauer, die tiefer reichte als ihre Fundamente. Doch wir sehen in diesem Augeblick auch die Heilungschance für die Psychose einer Nation, deren Osten in Isolation erstarrte, es dem Westen aber nicht verzeihen kann, ihn aus ihr befreit zu haben wie der Prinz das Dornröschen.

Funken im trockenen Laub 

Wie ein Funke in trockenem Laub entzündete sich das Gespräch über Politik. Bre und ich, wir konnten nicht anders; es war unsere Natur, die Worte wie Samen auszustreuen. Aber diese Männer? Sie fochten mit Worten  kaum weniger geschickt als mit ihren Baumaschinen, Schaufeln oder was sonst sie an Werkzeug benutzen. "Und ihr?", musste ich nur einmal fragen, während das Neonlicht über unsere Gesichter tanzte. "AfD, forever", sagte der Jüngste, ein Bursche mit tätowierten Armen, der "forever" wie "fohröver" aussprach als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. 

Sie wirkten zufrieden in ihrer generellen Unzufriedenheit mit allem. "Hier in Sachsen ist das Leben noch in Ordnung", begründete Hans den Widerspruch. Man dürfe nichts mehr sagen, "ohne dass die da oben einen mundtot machen." Aber aus der DDR wisse man doch genau, wie es gehe. "Mir machen unser Ding, immer." Die anderen nickten, ein stummer Chor aus Zustimmung, ihre schweigenden Stimmen wie ein Echo aus vergessenen Tälern.

Die typischen phrasen 

So also geht das, dachte ich. Das sind doch die typischen Phrasen, dachte ich auch. Sätze, die wie Gift in den Adern der Gesellschaft sickeren – Angst vor dem Fremden, Sehnsucht nach einer illusorischen Reinheit, saubere Städte, Leistung soll sich lohnen. Auch Bre lehnte sich vor, ihre Augen leuchteten jetzt wie Sterne in einer sächsischen Klimasommernacht. "Ihr irrt Euch aber gründlich", sagt sie und erklärrte in zehn, zwanzig Sätzen, wo der Hase hinläuft. 

Ich erwartete einen Proteststurm. Stattdessen: Stille, dann wieder unverhohlene Neugier. Offene Blicke, ohne Scheu. "Was swollns denn nu?", fragte der Älteste, ehrlich verwundert, als ob die Welt jenseits ihrer Dörfer ein fernes, unerforschtes Land sei. Diese Männer, weniger weltgewandt, Hinterwäldler in den Augen der Metropolen, lebten in einer Blase aus Tradition und Misstrauen. Sie hatten die Welt da draußen nicht gesehen – die Klimakrisen, die Ungleichheiten, die wie Risse durch Europa laufen.

Die den Wind einfangen 

Ich brauchte einen Moment, um die Frage zu übersetzen. Dann setzte ich es ihm geduldig auseinander, ihm und den anderen fünf Hinterwäldler, freundlich gemeint: "Erneuerbare Energien, wisst ihr? Windräder, die den Wind einfangen, Solarpaneele, die die Sonne in reine Kraft verwandeln – statt Kohle, die die Erde vergiftet." Bre ergänzte: "Soziale Gerechtigkeit, das heißt, dass niemand zurückgelassen wird. Investitionen in Infrastruktur, in Straßen, die nicht bröckeln, in Züge, die pünktlich kommen."

Die Männer lehnten sich zurück, ihre Gesichter eine Mischung aus Skepsis und Faszination. Einer, mit buschigem Bart, murmelte: "Und mei Diesel? Den brauch ich doch, um auf Kleche zu komm." Genau, hakte ich ein, wie ein Chirurg, der eine Wunde öffnet. Der Diesel muss nicht gleich weg, erst später. Wenn wir nachhaltiges grünes Wachstum haben. Der Staat wird die stützen, die es selbst nicht bezahlen können. Es gibt das sehr viele Ideen, sage ich. Nur mit der AfD? Da wird das nichts, denn die will nur Umverteilung von unten nach oben und dass die Reichen reicher, die Armen ärmer werden.

Warum eigentlich, fragt Hans. Ich bin kurz irritiert. Warum eigentlich was? Warum die AfD denn wolle, dass die Reichen reicher, die Armen ärmer werden? Und dass es eine Wehrpflciht gibt, obwohl die doch bekanntlich die Russen unterstützen und vom Kreml bezahlt werden? Hans' Kumpel gucken schräg. Hans sagt: Habe ich gelesen.

Eine Rezession wäre schlimmer 

Ich sage, eine Rezession wäre schlimmer als alles, was ihr kennt. Fabriken schließen, Jobs weg, Isolation." Der eine kleinere mit den Tattoos sagt, hamm wir doch alles schon. Die lauschen dem Klang seiner Worte nach, ihre Augen weiten sich, als ob sie aus einem langen Schlaf erwachten. Noch ein Schluck Bier. Eine Zigarette. Ich höre mich sagen, dass die Grünen Plöne haben, dass es nicht dazu kommt. Und wie wichtig das ist. Der Jüngste nickt: "Das wussten wir nicht. Klingt logisch." 

Bre lächelt jetzt, ihre Stimme weich wie Seide: "Miteinander reden ist so wichtig. Das zeigt uns dieser Abend sicher allen." Auch der Älteste, dessen Falten wie Kartenlinien einer vergangenen Epoche wirkten, nickt langsam, bedächtig, ein Schreitbagger. "Danke, dass ihr uns das erklärt habt", sagt er. Er glaube, dass auch siene Kumpels vieles nicht gewusst hätten. Nicken ringsum. "Kommt mal auf meine Farm, wenn ihr wieder in der Gegend seid, und dann lasst und weiterquatschen." 

Wir Brückenbauer 

Später stehen wir zwei draußen, Bre und ich, noch ganz geflasht vom Erlebten. Wir fühlen uns hier, nicht weit weg von der eingefallenen Carola-Brücke, als Brückenbauer, die einen Abgrund üwunden haben. Der Gedanke ist zerbrechlich wie ein Traum, doch er wa real, gerade noch in dieser Bar, wo der Rauch die Grenzen zwischen links und rechts, West und Ost, klug und ungebildet verwischte. In dieser Nacht, als wir hinaus in die Dresdner Straßen traten, fühlten wir beide die Seele der Republik pulsieren – geteilt, doch heilbar durch Worte. Fünf, einst in ihrer Welt gefangen und dem Bösen auf den Leim gegangen, hatten einen Blick in die Weite gestattet, in eine Welt, in der Erneuerung nicht Bedrohung, sondern Erlösung ist. 

Moralischer Bankrott: Die Ekpathischen

Linkspartei Charlie Kirk TikTok
Das geschieht se recht, was fährtse mits Rad: So wie Vergewaltigungsopfer früher  beschuldigt wurden, einen zu kurzen Rock getragen zu haben, werden Mordopfer heute von der Linken zu den Schuldigen ihres Todes erklärt.

Jeder Mensch ist gleich, keinem darf seine Würde genommen werden. Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt, heißt es im Talmud. Und wer ein einziges Leben nimmt, tötet damit nicht nur sein Opfer, sondern zahllose Menschen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus dieser jüdisch-christlichen Erkenntnis die Lehre gezogen, dass selbst Mörder ein Recht auf Leben haben. Und der normal fühlende Bürger bräuchte nicht einmal diese Vorgabe: dass es sich verbietet, über Tote Schlechtes zu sagen oder sich gar über den Tod eines Menschen zu frohlocken, ist Teil der abendländischen Kultur.

Auf dem absteigenden Ast 

Einer Kultur auf dem absteigenden Ast, einer Kultur, die von innen heraus zu verfaulen scheint. Nach dem Mord am US-Influencer Charlie Kirk flog der dünne Firnis von den Werten unserer Demokratie  wie von einer Schleifmaschine abgerissen. Die Freude darüber, dass es einen getroffen hat, der es wegen seiner politischen Auffassungen schon irgendwie verdient hat, war nicht mehr nur klammheimlich. 

Von El Hotzo, dem garstigen Fernsehclown, der in einem gerichtsfest als Witz anerkannten Post bei X schon Donald Trump vor den Bus Tod gewünscht hatte, bis zur revolutionären Linksjugend, die dem Opfer nachwies, dass er selbst schuld sei, wurde Klartext geschrieben. Mario Sixtus, ein Verbalextremist, der für das ZDF arbeitet und seine Hassblase bei Bluesky seit Jahren mit Hitlervergleichen und Holocaustverharmlosungen füttert, ließ wissen: "Wenn Faschisten sterben, jammern Demokraten nicht." Die "Linksjugend" applaudierte: Mit einem gezielten Schuss wurde das Ende seiner rechtsradikalen, menschenverachtenden und ausbeuterischen Politik besiegelt."

Schon von Monaten hatte der Linken-Chef Jan van Aken eine entsprechende Neudefinition von politischer Gewalt vorgenommen. Kämen sie von links, seien "Straftaten dem Gemeinwohl dienlich", erklärte der Co-Vorsitzende der inzwischen als "Linkspartei" auftretenden SED. Nicht die Art der Tat macht ihre Ungesetzlichkeit aus. Sondern die ideologische Überzeugung des Täters.

Sie sind noch da, die Stalinisten, Trotzkisten  und Sozialisten, die andere erst zwingen wollen, zu sein und zu denken wie sie, ehe sie ihnen die unveräußerlichen Menschenrechte zugestehen. Ein brutaler Mord an einem Rechten, Influencer und "Verführer der Jugend" genügt, um die traurige Fassade einstürzen zu lassen. Nur gut, dass er tot ist, so lasen sich die Urteile auch in großen Medien. Wenn Donald Trump ihn  als "Märtyrer" ehrt, dann wurde niemand ermordet. 

Nein, Kirk "starb an den Folgen einer Schussverletzung" schreibt die Taz. Im "Tagesspiegel" ist es der Mord der "Tod eines Brandstifters", also schon wohlverdient. Natascha Strobl, bei der ARD in der Regel als "Expertin für Rechtsextremismus" aufgeboten, setzt den US-amerikanischen Konservativen mit Reinhard Heydrich gleich, Hitlers Holocaustplaner. 

Auch in der "Tagesschau" gibt es keinen Mord, sondern nur den "Tod des rechtskonservativen US-Aktivisten Charlie Kirk", der, das ist offenbar das eigentlich Schreckliche, "das ohnehin gespaltene Land noch stärker polarisieren" wird. Der unübertreffliche Georg Restle hörte zuerst "Schüsse" (Restle). Und erging sich dann in der Anmoderation eines kurzfristig noch umgeschnittenen Beitrags zu Trumps geplanter Zerstörung der - 238 Jahre alten - Demokratie in den USA Verschwörungstheorien: Trump ist schuld, dass einer seiner Anhänger ermordet wurde. Die Republikaner stecken hinter allem. 

Keine Tränen, nirgendwo 

Tränen gab es nicht zu sehen. Trocken wurde das Ende des " berühmtesten rechte Aktivist der USA" (Spiegel) kommentiert: Wie Trump habe auch "Kirk die Lüge von der gestohlenen Wahl 2020" verbreitet und er haben "vor Glück geweint, als Donald Trump 2024 erneut gewann  - nun ist der rechte Aktivist tot, erschossen im Alter von 31 Jahren. 

Elmar Theveßen, ein außerordentlich profunder Kenner der amerikanischen Verhältnisse, wie er sie sieht,  dichtete Charlie Kirk in der ARD an, er habe "gefordert, dass Homosexuelle gesteinigt werden müssen." Im Unterschied zum Hoororschriftsteller Stephen King, der ungeprüft denselben Unsinn verbreitete hatte, sich später aber entschuldigte, rückte Theveßen nicht von seiner Erklärung ab, warum Kirk zwangsläuifg hatte streben müssen. Irgendwas wird schon hängenbleiben bei denen, die zugeschaut haben.

Das geschieht se recht, was fährtse mits Rad, sagen die Alten im ländlichen Ostdeutschland achselzuckend, wenn die Nachricht im Dorf die Runde macht, dass sich die 77-jährige Elsbeth bei einem Sturz mit dem Fahrrad bei Glatteis die Hüfte gebrochen hat. Immerhin aber bringen sie dann doch Blumen und gute Wünsche, sie fühlen mit und es tut ihnen leid. 

Kirk darf darauf nicht hoffen, jedenfalls nicht bei denen, für die weniger Mensch als - unbekannterweise - Feindbild ist. So wie Thilo Sarrazin sich einst als "lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur" beschimpfen lassen musste, weil er zwar nicht lispelte, stotterte und zuckte, aber nicht davon abließ, anderer Meinung zu sein, liefert Charlie Kirk die perfekte Vorlage für korrekte Menschenfeindlichkeit.

Selber schuld

Ein "rechtskonservativer Aktivist" (Die Zeit). Ein "rechter Influencer, Netzwerker, Jugendorganisator und Trump-Vertrauter" (SZ). Ein "Ultrakonservativer" (ZDF) und "Einflüsterer der MAGA-Bewegung" (Spiegel) darf keine Gnade von denen erwarten, die ihre höhere Moral an gewöhnlichen Tagen wie eine Monstranz vor sich hertragen. Wenn so einer ermordet wird, eignet sich ein Affenbild am besten, die Genugtuung darüber auszudrücken, dass ein 31-Jähriger hingerichtet wurde. Mit "Oh nein, was soll..." kommentierte der Sprecher der Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek (37), Felix S. Schulz, den Tod des Vater von zwei Söhnen. Das hat er nun davon.

Abgründe tun sich auf, Abgründe, die schon lange zu erahnen sind. Sie sind randvoll mit dem Gegenteil von Empathie, einer Wesensart, die weniger bekannt, durchaus aber weit verbreitet ist. Die sogenannte Ekpathie ist die Fähigkeit, das dem Menschen eigentlich angeborene Einfühlungsvermögen in andere nicht zu besitzen oder aber bei Bedarf unterdrücken zu können.

Aufstieg der Ekpathiker 

Jeder normale Mensch kennt das Gefühl, das aufsteigt, während er an einer auf dem kalten Boden einer innerstädtischen Einkaufsstraße hockenden Bettlerin vorübergeht, ohne ihr wenigstens einen Euro in ihren alten Kaffeebecher zu werfen. Obwohl der moderne Großstädter weiß, dass der Chef ihrer Bettlergang ihr am Abend ohnehin alles Geld wegnehmen wird, erscheint das sogenannte schlechte Gewissen automatisch. Man muss wegschauen. Und - wissenschaftliche Untersuchungen haben das bestätigt - im Durchschnitt gehen Passanten in der Nähe von Bettlern schneller.

Die, die das nicht tun, sind die Ekpathiker. Ihr Innenleben ist immun gegen Mitgefühl, ihr Anstand ist nur oberflächlich angelernt, sie können ihn in jedem beliebigen Moment ausschalten. Diese kalte, Nicht-Ekpathikern oft grausam erscheinende Gegenteil von Empathie ist vor allem im beruflichen Umfeld nützlich. Ekapthiker können rücksichtslos sein, ohne Reue zu empfinden. Sie können andere verletzen und dabei Freude empfinden. Wie sensible Empathiebegabte den Schnupfen eines Kätzchens in heißen Tränen beweinen können, sind sie in der Lage, die kleine Katze ohne Zögern vom Balkon eines Hochhauses zu werfen.  

Der nützliche Mangel 

Ekpathie ist ein Mangel, aber ein im Aufmerksamkeitsgeschäft sehr nützlicher. Ekpathie ist eine Gnade, die hilft, die Realität so zu verstehen, dass sie stets ins eigene Weltbild passt. Ein Terroranschlag auf eine Ostseepipeline ist eine gute Sache. Ein Terroranschlag auf ein Datenkabel in der Ostsee ein empörender Angriff auf die kritische Infrastruktur. Eine theaterreif inszeniertes Vertreibungstreffen in Potsdam raubt über Wochen den Schlaf. Ein Brandanschlag auf die kritische Infrastruktur, der Pflegeheimen für Tage den Strom abdreht, allenfalls ein bisschen ärgerlich. Nein, "da sind die jungen Leute ein wenig übers Ziel hinausgeschossen" schreibt niemand. Aber gemeint ist es.

Empathie entwickelt sich im Kleinkindstadium. Ekpathie im harten Alltag des politischen und medialen Überlebenskampfes. Sieht ein kleines Kind ein anderes Kind weinen, kann es sich zunächst noch nicht in dessen Situation hineinversetzen, dann aber doch. Hat es erst selbst geweint und ist getröstet worden, weiß es, dass es hilft, die Traurigkeit oder den Schmerz eines anderen zu teilen. Der Ekpath lernt das Gegenteil. 

Regimenter an Relativierern 

Hotzo, Sixtus, die Regimenter an Relativierern, Opferbeschuldigern und Keinwunder-Erklärern - sie alle finden ihre mentale Stabilität darin, die Grundrechte nicht zu verteidigen, sondern sie wie auf dem Gnadenhof zu verteilen. Wer zu uns gehört, dem steht Menschenwürde zu. Wer nicht, dem nicht einmal das Recht auf Leben.

In der Pandemiezeit zeigte sich erstmals, dass die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, den einfachen Anstand gegen die durchzusetzen, die ekpathisch agieren, sobald sie mit ihrem Weltbild auf Unerklärliches stoßen. Später zeigten sich das Phänomen immer wieder und immer öfter, zwei oder drei Maßstäbe anzulegen und Moral als Waffe zu benutzen, wurde in Politik und Medien zur Alltagsübung.

Mancher glaubte, es gehe nicht schlimmer, verdorbener, verkommener. Aber es war doch nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zu moralischen Bankrott.