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Die Verfassungsrichter haben gesprochen: Solidarität kennt kein Verfallsdatum. |
Kein Schrecken ohne Ende, aber wenn schon nicht für ewig, dann wenigstens für immer. Den Erblastentilgungsfonds, eine Art Sondervermögen, in das die Väter und Mütter der deutschen Einheit die Extrabelastungen durch den drohenden Wiederaufbau Ostdeutschlands verlagerten, hatte Angela Merkel bereits 2009 für erledigt erklärt. Die Einheitsschulden, 1995 ohne großes Aufheben eingerichtet und 171 Milliarden Euro schwer, seien "getilgt", verkündete die Kanzlerin. Die Einheit war vollendet, und nicht nur das. Eine deutsche Regierung hatte zudem den Beweis angetreten, dass sie Schulden nicht nur aufnehmen, sondern auch zurückzahlen könne.
Bisschen Budenzauber
Ein bisschen Budenzauber war dabei, denn nicht unwesentliche Reste des negativen Sondervermögens landeten im allgemeinen Haushalt. Und nicht die Regierung hatte irgendetwas zurückgezahlt, sondern die Bürgerinnen und Bürger, denen damals schon im15. Jahr der Solidaritätszuschlag auferlegt war. Der warf allemal genug ab, um alles zu zahlen: Jahr für Jahr brachte die Sondersteuer auf die allgemeine Steuer zwischen 20 und 30 Milliarden ein. Bis zum Stichtag, an dem Merkel ihren Triumph verkündete, pünktlich ein paar Tage vor einer Landtagswahl, waren mit Hilfe von Einnahmen in Höhe von rund 400 Milliarden Euro immerhin 85 Milliarden Euro zurückgezahlt worden.
Der Rest - durch Zinsen und Zinseszins ergab sich eine Höhe noch 156 Milliarden Euro - wurde einfach Teil der normalen Schuldenmasse des Bundes. "Die letzte planmäßige Verbindlichkeit des ELF steht 2011 an", hieß es in einem Bericht des Finanzministeriums. Mit diesen 50 Milliarden Euro sei dann aber wirklich alles erledigt. Die finanzielle Einheit vollendet. Die Erblasten getilgt.
Ein großer Sprung
Ein kleiner Schritt für eine Bundesregierung, die Jahr für Jahr mit Zahlen jongliert, die eine Null mehr haben. Ein großer Sprung auf dem Weg zur vollendeten Einheit. Die kam, als der erste Ostbeauftragte ernannt wurde. Als die erste Verfassungsrichterin aus dem Osten kam. Als offen diskutiert wurde, ob Ostdeutsche theoretisch dieselben Chancen haben sollten, hohe Staatsämter zu besetzen. Und bei der Vergabe von Orden genauso berücksichtigt werden sollten wie in Westdeutschland geborene Bürgerinnen und Bürger.
Die jüngste Generation, die in der DDR geboren wurde, geht heute auf die 40. Sie ist die letzte Generation vor dem Geburtenknick im Osten und die erste, die sich nicht mehr selbst an das Land erinnern kann, das vor unserer Zeit war und ohne Solidaritätzuschlag auskam. Heute 35- oder 40-Jährige kennen keine andere Welt als die, auf der an der Tankstelle nicht nur Umsatzsteuer auf die Benzinsteuer fällig wird, sondern auch eine Soliabgabe auf die Einkommenssteuer. Sie wissen: Wem danach zu viel übrig bleibt, so dass er sich Akten kaufen und Dividenden kassieren kann, der wird noch einmal um Solidarität gebeten. Zahlt ihm ein Unternehmen 100 Euro Dividende, verschwinden davon nicht 25 Prozent, sondern 25 Prozent plus 5,5 Prozent für den guten Zweck in Vater Staats tiefen Taschen.
Steuersteuer mit schickem Namen
Doch wer wäre wohl angesichts dieser großen, aber auch großartigen Aufgabe geizig? Mit der Taufe der Steuersteuer auf "Solidaritätsabgabe" gelang es Helmut Kohls Regierung vor 30 Jahren nicht nur, die bis dahin provisorisch und auf ein paar wenige Jahre begrenzte neue Geldquelle dauerhaft sprudeln zu lassen. Wie einst die Sektsteuer, die weiterlief, als die kaiserliche Flotte, für die man sie gedacht hatte, längst untergegangen war, wurde der finanzielle Daueraderlass für Millionen Familien zur neuen Normalität.
In den 35 Jahren bis hierher haben deutsche Durchschnittsverdiener pro Kopf zwischen 20.000 und 30.000 Euro aus Solidarität an Solidaritätssteuern bezahlt. Allein die Niedriglöhner im Osten, von denen im Westen immer das Gerücht ging, er nehme nur, zahle aber nicht, kamen insgesamt mehr 100 Milliarden Euro zusammen. Das war es, was Helmut Kohl mit dem selbsttragenden Aufschwung gemeint hatte: So lange es Sachsen gibt, muss Sachsen für Sachsen zahlen, Brandenburg und Thüringen dito, denn gerade wer wenig hat, braucht viel Hilfe, weil ihm viel fehlt. Moralisch stand jederzeit außer Frage, dass die 20 oder 30 Milliarden im Jahr, die einfach zu dem anderen Geld in den ganz gewöhnlichen Haushalt wanderten, etwas Besonderes waren.
Gegen das Bröckeln
Keine andere Zwangsabgabe bewirkte so viel Gutes. Der liebevoll "Soli" genannte Extramalus für jeden Berufstätigen, jede Firma und jede Rentnerin, die ein paar Euro Zinsen einheimste, baute Autobahnen, Schnellzugstrecken und prächtige neue Ministeriumspaläste. Der Soli finanzierte nicht alle Blütenträume. Doch die Brücken verfielen zweifellos langsamer. Die Autobahnen bröckelten nicht ganz so schnell. Für Leuchttürme blieb ein bisschen Spielraum. Auch die Sicherheit kam nicht zu kurz.
Fünf Prozent mehr im Haushalt zu haben, ermöglichte den Bundesregierungen über zwei Jahrzehnte hinweg, mit mehr Fantasie zu wirtschaften als es der Fall gewesen wäre, hätte Helmut Kohl seinerzeit nicht die grandiose Idee gehabt, mit einer zusätzlichen Steuer auf die Steuern der Bürger den eigenen finanziellen Spielraum auszuweiten. Dass er den einfachen Leuten damit für drei Jahrzehnte die Last nahm, die sie hätten tragen müssen, wenn sie das Geld selbst hätten ausgeben müssen, mag dem Kanzler der Einheit nicht bewusst gewesen sein. Doch Millionen sind ihm dankbar.
Wie lange ist für immer?
Wie lange aber ist "zeitlich begrenzt"? Ist "zeitlich begrenzt" für immer minus ein Tag? Oder wann ist es vorbei? 2007 war die Zeit noch nicht abgelaufen, weil eine Ergänzungsabgabe nur zur Finanzierung eines aufgabenbezogenen Mehrbedarfs des Bundes" mit der Verfassung vereinbar war. Ab 2021 ließ der Bund dann die meisten Zahlungspflichtigen von der Kette. Nur noch Einkommensstarke, Reiche, Firmen und Anleger von Kapital, die mehr als den staatlich zugelassenen Betrag von 1.200 Euro im Jahr leistungslos kassieren, mussten weiter zahlen.
Da es sich nur noch um die oberen zehn Prozent der Steuerpflichtigen handelt, denen ein Zuschlag von 5,5 Prozent auf die Einkommenssteuer, auf Kapitalerträge und die Körperschaftsteuer nur ein Lächeln entlocken, schrumpften die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag auch so schon genug: Aus 30 Milliarden wurden zuletzt magere 12,6 im Jahr. Mit Genugtuung sahen sich alle, die nicht jeden Monat zahlen müssen, entlastet. Divide et impera. Nach mehr als 2000 Jahren sind es die einfachen Wege, auf denen die Politik am schnellsten vorankommt.
Mehrbedarf ist immer
Dabei bleibt es nun auch weiterhin, denn auch das Bundesverfassungsgericht schloss sich der Auffassung der Richter des Bundesfinanzhofes von vor 18 Jahren an. "Der wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes war bei Erlass des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags mit Wirkung zum 1. Januar 2020 noch nicht in evidenter Weise entfallen", urteilten die Karlsruher Richter nach einer Klage von sechs ehemaligen FDP-Abgeordneten.
Ein Verweis auf die Sektsteuer findet sich in der Entscheidung über die Rückweisung der Klage des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht, aber die Sache ist auch so klar: "Zeitlich befristet" kann eine unbegrenzte Zeit umfassen. Damit ist der Solidaritätszuschlag auch in seiner seit 2021 erhobenen abgespeckten Form verfassungsgemäß. Der Staat darf beim Überverdiener aus dem Handwerk und bei der Seniorin, die ihre Rente mit einem Festgeldkonto aufbessert, zugreifen, wenn er denkt, dass er das Geld nötiger braucht.
Solidarität als Ergänzung
Eine solche zeitlich begrenzt erhobene Sondersteuer, die Richter nennen sie "Ergänzungsabgabe", dürfe jedoch nicht zeitlich unbegrenzt erhoben werden. In Karlsruhe ist das Vertrauen in die Selbstkontrolle des Gesetzgebers groß. Der nämlich habe eine "Beobachtungsobliegenheit" und müsse aufhören, zu kassieren, sobald er meine, dass der Solidarität der Bürger nicht mehr bedürfe. Das sei der Fall, wenn der vor 30 Jahren prognostizierte "Mehrbedarf" wegfalle.
Eines Tages wird es so weit sein. Aber nicht heute, nicht in diesem Jahr, nicht in diesem Jahrzehnt. Bis etwa 2030 hat das Bundesverfassungsgericht eine Rechtfertigung für die Beibehaltung der Steuer auf die Steuer prognostiziert. 40 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung könne dann geschaut werden, ob es ohne gehe. Menschen, die 1990 ins Berufsleben eingetreten sind, werden dann bereits Rentner sein. Und bei entsprechendem beruflichen Erfolg von sich sagen können, dass sie jeden Monat gegeben haben, was sie mussten. Ein Durchschnittsverdiener, der im Leben auf rund 800.000 Euro an gezahlten Steuern kommt, wird dann zufrieden von sich sagen können, dass er zusätzlich für 50.000 Euro extra Solidarität geliefert habe.
Die Union wird handeln
Wenn ihm nicht die Union noch einen Strich durch die Rechnung macht. Denn Friedrich Merz war da i Wahlkampf sehr klar und seine Partei nicht minder. "Wir reduzieren Steuern", schrieben sich die früheren Konservativen ins Wahlprogramm, und "wir schaffen den Solidaritätszuschlag ab". Wer den Gang der Koalitionsgespräche bis hierher verfolgt hat, weiß, dass Merz kein Mann leerer Sprüche ist.
Was der Münsteraner ankündigt, das wird auch gemacht. Nachdem der schlimmste Fall für den Bund nicht eingetreten ist - die Karlsruher Richterinnen und Richter hätten auch gegen den Soli entscheiden und die Bundesregierung zur Rückzahlung von rund 65 Milliarden Euro extralegal eingestrichener Einnahmen verurteilen können -, bietet der Haushalt alle Möglichkeiten, auf die Abgabe zu verzichten. Gemessen am Volumen der neuen Sondervermögen wirken die Einnahmen aus dem "Soli" inzwischen nur noch wie das Trinkgeld eines knauserigen Säufers.
Nein, Friedrich Merz braucht die paar Kröten nicht. Der künftige Kanzler wird sich zweifellos gegen den Widerstand der SPD durchsetzen und sein Wahlversprechen halten. Der Soli für den Osten fällt weg und ein Soli für die Bundeswehr kommt. Zeitlich begrenzt natürlich bis zum Angriff der Russen.
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