Sonntag, 9. März 2025

Klimageld: Beerdigung zweiter Klasse

Sechs Jahre lang war das "Klimageld" die Mohrrübe, mit der die Parteien Wähler lockten, CDU, CSU und SPD haben es nun für immer beerdigt
Entlastung abgesagt: Sechs Jahre lang war das "Klimageld" die Mohrrübe, mit der die Parteien Wähler lockten, CDU, CSU und SPD haben es nun für immer beerdigt

Erst war es beschlossen und verkündet, dann sehr, sehr schwierig umzusetzen. Schließlich dauerte es lange, die Möglichkeiten zu prüfen, bis sich herausstellte, dass es wohl bald etwas werden würde. Das Klimageld, 2019 von der damaligen Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD ausgedacht und 2021 von allen Parteien versprochen, stand kurz vor der Tür. 

Nach sechs Jahren sollten die Bürgerinnen und Bürger bekommen, was ihnen die Einführung der CO2-Abgabe als finanziell eher lukrative als zusätzlich teure neue Steuer hatte schmackhaft machen sollen. Doch drei Jahre nach dem Start der Fortschrittskoalition aus Rot, Grün und Gelb platzte mit der Bundesregierung auch der Zeitplan. Der "Spätzünder Klimageld" starb einen stimmen Tod genau in dem Moment, in dem sich die ersten regierungsnahen Blätter schon mit einer "Überweisung an alle vor Weihnachten" (FR) bemüht hatten, die miese Stimmung aufzuhellen.

Absage für immer

Nun ist der Traum endgültig aus, das Kapitel Rückzahlung der zusätzlich von den Wählern eingetriebenen Milliarden endgültig abgesagt. Wie es sich gehört, nicht mit großer Geste und Begründung, sondern durch Nichterwähnung: Als die Spitzen der künftigen kleinsten Großen Koalition aller Zeiten in Berlin vor die Kameras traten, um die Ergebnisse ihrer Sondierungsgespräche vorzustellen, fiel das Wort "Klimageld" nicht. 

Eine Beerdigung zweiter Klasse, aber eine, die richtig teuer werden wird. Mehr als 200 Euro kostete die 2019 erdachte und mit einem symbolischen Preis von 25 Euro pro Tonne eingeführten Zusatzsteuer auf Benzin, Gas, Öl, Kohle und alle ihre Nutzungsmöglichkeiten jeden Bürger im vergangenen Jahr. Zum 1. Januar 2025 erhöhten SPD, Grüne, CDU, CSU und FDP der CO2-Preis von 45 auf 55 Euro pro ausgestoßener Tonne. 

Ständig steigende Belastung

Berechnungen zufolge steigt die Belastung für einen vierköpfigen Haushalt damit von durchschnittlich 800 auf 1.000 Euro im Jahr, das aber ist erst der Anfang. Bereits im übernächsten Jahr soll der CO2-Preis auf 80 Euro steigen, bis 2040  rechnen Experten mit einem Preis von 275 Euro pro Tonne. Pro Kopf sind das dann 350 Euro Belastung im Jahr 2027. Und 1.200 im Jahr 2040.

Geld, so haben es Friedrich Merz und Lars Klingbeil beschlossen, das in den Händen der Regierung besser aufgehoben ist als dort, wo es ursprünglich hatte landen sollen. Die Idee hinter dem Klimageld, anfangs auch als "Klimaprämie" und "Klimabonus" ausgelobt, hatte eigentlich darin bestanden, die, die mehr als ihr Klimabudget verbrauchen, weil sie viel fliegen, ihre Wohnungen dauernd warmhalten, zur Arbeit pendeln oder den Einbau einer Wärmepumpe verweigern, zusätzliche finanzielle Lasten aufzuerlegen. Denen aber, die klimasparsam leben, die Chance zu geben, bescheiden von der Dividende der eigenen Klimaanstrengungen zu leben.

Dieses Versprechen kassieren CDU, CSU und SPD nun kommentarlos ein. In den öffentlich vorgelegten Sondierungspapieren kommt der Begriff Klimageld nicht vor, obwohl Friedrich Merz noch vor acht Wochen vollmundig sogar die Auszahlung eines Klimageldes von 200 Euro pro Monat angekündigt hatte. Die SPD wollte nicht so großzügig sein, war aber bis zum Wahltag auch nie von ihrem Versprechen des "sozialen Klimaschutzes" abgerückt. 

Milliarden für den Staat

Der durch die eigenen Beschlüsse beständig "steigende CO2 -Preis muss mit einer sozialen Flankierung einhergehen, die auch ein Klimageld enthält", betonte die Partei im Wahlkampf und sie zeigte sich kompromisslos, was Versuche anbelangt, dem Staat etwas von den künftig um die 25 bis 60 Milliarden Euro Einnahmen aus der Luftbepreisung zuzuschustern: "Die über die CO 2 -Bepreisung eingenommenen Mittel müssen vollständig an die Bürgerinnen und Bürger zurückfließen", zeigte sich die deutsche Sozialdemokratie unbeugsam und prinzipienfest.

Wie 2005, als Union und SPD mit unterschiedlichen Forderungen zur Zukunft der Umsatzssteuer in die Koalitionsverhandlungen gingen, fand sich aber auch diesmal schnell ein Kompromiss. Vor 20 Jahren hatten sich die Unionsparteien für eine Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent ausgesprochen, die SPD kritisierte das im Wahlkampf scharf, weil es "unsozial". Die Einigung lag dann nicht ganz in der Mitte: Unter Führung der erstmals als Bundeskanzlerin antretenden Angela Merkel beschlossen die Koalitionäre eine Erhöhung der Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent.

Vorbild Mehrwertsteuerkompromiss

Ein gutes Vorbild, sich jetzt in der Mitte zwischen dem Versprechen einer monatlichen Klimageldzahlung von 200 Euro pro Person (Union) und dem einer kompletten Rückzahlung aller Einnahmen in voller Höhe (SPD) darauf zu einigen, weder das eine noch das andere zu tun. Der Staat, der nach dem Inhalt des Sondierungspapieres künftig eine noch zentralere, noch tiefer ins private und gesellschaftliche Leben hineinregierende Rolle einnehmen soll, braucht das Geld mehr als der Einzelne, der nach dem Menschenbild, das SPD, CDU und CSU pflegen, ohnehin nur selten in der Lage ist, richtige Entscheidungen zu treffen.

Die beiden ehemals Großen sind nach den vielen verlorenen Wahlen der vergangenen Monate nicht etwa gesundgeschrumpft und demütig geworden. Nein, die Jahrzehnte, die sie wechselseitig oder gemeinsam an der Macht verbracht haben, haben die früheren Volksparteien zur Überzeugung gebracht, dass sie identisch sind mit dem Staat, der wiederum nicht stark genug sein kann, um die Menschen zu ihrem Besten zu zwingen. deutschland ist nicht Österreich, das Klimageld an seine Beürger bereits seit zweieinhalb Jahren auszahlt.

Der Deutsche sehnt sich eher nach mehr als nach wenioegr Betreuung, er möchte an der Hand genommen werden von einem fürsorglichen Staat, der es ihm erspart, mündig zu werden. Dass er dafür den Verlust des so lange und so fest versprochenen Klimageldes schlucken muss, ist ein geringer Preis angesichts der Notwendigkeit, Deutschland aus der Mitte heraus verlässlich weiterzuregieren und Vertrauen wiederherzustellen, dass durch allzu viele gebrochene Wahlversprechen bereits leicht angeschlagen wirkt.

Ende einer Ära: Trauer um den grünen Teamchef

Annalena Baerbock und Robert Habeck ziehen sich zurück
Das Traumpaar der deutschen Politik zieht sich vergnatzt zurück. Ein herber Verlust für unsere Demokratie. Abb: Kümram, Öl auf Schraffierpapier

Ein ganzes Land war wie im Schock verliebt, als Robert Habeck sich endlich seinem eigenen Wunsch beugte und „Ja“ zur Kanzlerkandidatur sagte – eine Rolle, nach der er sich monatelang gesehnt hatte. Die großen Medienhäuser zeigten sich hochzufrieden, und die Grüne Partei war bereit, vom kollektivistischen Geist früherer Jahre Abschied zu nehmen und sich mit dem Mann zu verbünden, der nichts besser erklären konnte als irgendjemand sonst.  

Robert Habeck – der Traumschwiegersohn unserer Demokratie – wurde zum Aushängeschild, mit dem man in den Wahlkampf zog. Später stellten Meinungsforscher jedoch fest, dass Wählerinnen und Wähler, die Wert auf Seriosität statt auf Kumpelei legten, sich zurückgesetzt fühlten. 

Die vielen Verwandlungen

So verwandelte sich das "Team Robert" in das "Team Habeck". Der Spitzenkandidat schlüpfte in eine altmodische Joschka-Fischer-Weste, um deutlich zu machen: "Von buchhalterischen Sachen verstehe ich auch etwas." Kein grüner Kandidat hatte jemals so große Chancen – und das in einer so schweren Zeit. Noch vier Jahre zuvor hatten die Grünen trotz einer stolpernden Kanzlerkandidatin mehr als 14 Prozent geholt. Die Zielmarke jetzt lag bei 25, wenigstens aber bei 20. Sein Team insistierte, als Habeck bei den Kanzlerduellen nicht eingeladen wurde. Er sei doch der Favorit!

Die Zahlen bestätigten es nicht. Also räumte Habeck eilig alle noch übriggebliebenen Prinzipien und Inhalte beiseite, für die seine Partei einst bekannt gewesen war. Für seinen Traum von der Macht war er bereit, über jede thematische Leiche zu steigen. Klima? Nicht mehr so wichtig. Der Heizungsumbau im Land? Die energetische Sanierung von Millionen Häusern erwähnte er im Wahlkampf nicht einmal. Ebenso wenig die 30 oder 40 Erdgaskraftwerke, später einmal, wenn es Wasserstoff gäbe, selbstverständlich auch wasserstofftüchtig. Die ersten hätten schon dampfen sollen, um die Gelegenheitsenergien aus Wind und Sonne an dunklen, windstillen Tagen zu ersetzen. Aber die waren jetzt auch nicht mehr entscheidend.

Details später

Stattdessen versuchte der geborene Wirtschaftsexperte Robert Habeck, sich als Finanzpolitiker einen Namen zu machen – ähnlich wie einst Friedrich Merz, der auf einem Bierdeckel Steuergesetze umriss. Mit KI-gestütztem Eifer fasste er zusammen, was er vom Sozialsystem verstand: "Mehr nehmen bei denen, denen es fehlt, und denen geben, die es dann brauchen – das wird schon hinhauen. Details besprechen wir später", sagte er großzügig. 

Habeck hatte ein Erfolgsrezept. Und Jahre zuvor wäre es vielleicht sogar eins gewesen. Immerhin hatte er sein Wahlkampfbuch, Pflicht für jeden grünen Kanzlerkandidaten, selbst geschrieben. "Den Bach rauf" war ein Bestseller, noch zwei Monate nach Erscheinen steht das Bändchen auf Platz 1.000 bei Amazon. Der Popularität des Kandidaten half es nicht.

Ein Kanzlerwahlverein

Zu viel hatte Robert Habeck sich zugemutet als Alleinkämpfer im grünen Wahlkampf: Erstmals war die ehemalige Alternative Liste für Deutschland ganz Kanzlerwahlverein geworden - der vielstimmige grüne Chor war verstummt, die zahllosen Häuptlinge vergangener Jahre schwiegen. Keiner aus der alten Garde – weder Claudia Roth noch Renate Künast oder Jürgen Trittin warfen sich für ihren Spitzenmann in die Schlacht.

Es gab bei den Grünen keine Realos und keine Fundis mehr, nur noch "Habeckianer". Nach Jahren mit ihm oder ohne ihn war von der übrigen Partei nichts mehr übrig. Vorn auf der Bühne sang der Chef mit Annalena Baerbock ein Duett, begleitet vom instrumentalem Gebirge einer Nachwuchsband mit Franziska Brantner, Felix Banaszak und Andreas Audretsch. Musiker, die Habeck selbst handverlesen und persönlich zu seinem Schutz eingestellt hatte. 

Surfen auf einer Welle aus Fake News 

Diese Marschkapelle der grünen Armee – bestehend aus ungedienten, pazifistischen Generalen – spielte Narzissmus nach Noten. Robert war der Eine, der Herabgesandte, der Erlöser – er war es, weil es kein anderer hätte sein können. Er wusste, er wollte, und er würde können; man müsste ihn nur lassen. Aber wen denn sonst? Mit der größten Welle an Fake News seit der Corona-Pandemie befeuerte die grüne Wahlkampfmaschine die Vision, Robert Habeck habe eine reelle Chance, Bundeskanzler zu werden.

Kurz vor Schluss gab es schon Beerdigungsbilder.
Wie eine Tsunamiwelle rollten gefälschte Grafiken, die Robert Habeck als beliebtesten Kandidaten zeigten, übers Land. Es hagelte hanebüchene Berechnungen, die die Grünen zur zweitstärksten Partei machten. Mit allen Mitteln versuchten die Streiter des Herrn sogar, unabhängige Medien unter Druck zu setzen. So sollte das ZDF gezwungen werden, Habeck in eine Diskussionsrunde zwischen dem Kanzler und seinem aussichtsreichsten Herausforderer einzuladen. Das ersatzweise angebotene Duell mit einer in Teilen als rechtsextreme aktenkundigen Gegenkandidatin verweigerte er, vermeintlich ein mutiges Zeichen gegen rechts. Es verblasste schneller als ein Blitz. Und kaum war es wieder dunkel, stand Habeck mit derselben Kandidatin in einem anderen Studio.

Teuer, aber nutzlos

Es war der teuerste Wahlkampf, den die Grünen je führten. Und er endete noch enttäuschender als der Annalena Baerbocks dreieinhalb Jahre zuvor. Die Zahlen blieben schlecht. Mit jeder Bühne mehr, die er abklapperte, musste Habeck mehr kämpfen, um noch irgendwen zu erreichen. Sein Salbadern fing nicht mehr; das Themenhüpfen und Ausweichen auf die Metaebene – alte Tricks und Kniffe, die die Grünen einst groß gemacht hatten – verpufften. Die Themen, auf die die Werber von Jung von Matt ihn sorgsam vorbereitet hatten, spielten für die Wähler keine Rolle. Habeck sprach ins Leere. Er konnte nicht angreifen. Es gelang ihm meist nicht einmal mehr, sich zu verteidigen.

Unter schweren Augenlidern

Jeder Termin wurde zum schwersten Tag im Leben des Grünen. Robert Habeck ging sichtlich auseinander. Er schaute unter schweren Augenlidern hervor. Seine Schlagfertigkeit wirkte behäbig und einstudiert. Die Junge Garde, mit der er die Schwergewichte Ricarda Lang und Omid Nouripour ersetzt hatte, stellten sich Personal heraus, dass die Flügel nicht halten konnte. Wie er ganz allein gewonnen hätte, verlor Robert Habeck allein. Leger in Fliegerjacke nahm er drei Tage später Abschied. Annalena Baerbock folgte ihm wenig später. Beide lehnten demonstrativ alle Ämter ab, die ihnen bis dahin niemand angeboten hatte. 

Der Grund liegt auf der Hand: Nach sieben Jahren, in denen das Duo die Grünen zu einer reinen HB-Partei gemacht hatten, bleibt nicht viel zurück, das sie ersetzen könnte: Neben Brantner, Banaszak und Audretsch sind da noch die beiden Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann. Dahinter folgt mit Pegah Edalatian, Sven Giegold, und Manuela Rottmann schon eine zweite Reihe aus Akademikern, die vom Ostdeutschlandvertreter Heiko Knopf abgesehen alle Stufen der grünen Nomenklatura vorschriftsmäßig absolviert haben.

Enttäuscht von den Wählern

Habecks Abschied war zu erwarten gewesen. Schon in der Elefantenrunde wirkte der geborene Charismat bockig und unwillig, überhaupt noch über irgendetwas zu reden. Der Mann, der immer "ich" meint, wenn er "wir" sagt, war müde und enttäuscht von den Wählern. Wie Franz Beckenbauer 1990 drehte er eine einsame Abschiedsrunde über Platz. Alle sollten es sehen. Dann verstummten seine Social-Media-Accounts demonstrativ. Die Talkshows mussten ohne ihn auskommen. Selbst die brennenden aktuellen Themen lockten den 55-Jährigen nicht mehr heraus, sie endgültig einzuordnen und den den weg hinaus zu weisen.

Doch so betont endgültig er ging, so fest entschlossen ist er doch, zu bleiben. Es führt kein Weg zurück nach Heikendorf, an den Kamin sitzen und den Schreibtisch mit den Exposés für die nächsten Bücher. Robert Habeck ist keiner, der auf ein Angebot von Amazon wartet – vielleicht für eine Serie über sein unvergleichliches Leben. Er ist noch nicht fertig, er hat noch viel vor in der Politik und mit den Wählern. Seine Ankündigung, auf alle Ämter zu verzichten, die er nicht hat und vermutlich auch nicht bekommen hätte, kündigte die Karrierefortsetzung an: So ein Rückzug drückt immer die Hoffnung aus, doch noch gerufen zu werden. 

Ein klassischer Martin Schulz

In der beobachtenden Politikwirtschaft kennen Forscher das Manöver als "klassischen Martin Schulz": Wenn er sich nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt, ist der Egoman ist sich nicht zu schade, sich selbst zu verletzten, um auf sich aufmerksam zu machen. Robert Habeck konnte einen Erfolg verbuchen: Eine Petition der Fans des scheidenden Klimawirtschaftsministers, die ihn zum Bleiben bewegen will, kam bei den Medien hervorragend an.   

"In einer Zeit voller Krisen braucht es Menschen - und noch wichtiger Führungspersönlichkeiten - wie dich", heißt es in dem inständigen Appell, den der "Geschäftsentwicklungsmanager" eines "Energie-Start-ups" mit Spezialgebiet kostenloser Strom gestartet hat. Nach drei Tagen hatten schon 300.000 Fans unterschieben, nach einer Woche 400.000, obwohl der so unter Druck geratene Teamchef bereits eingewilligt hatte, sein Bundestagsmandat anzunehmen.

Was seitdem geschehen ist, zeigt das ganze üble Ausmaß an Ablehnung, die Robert Habeck trotz seiner längst großzügig eingestandenen Niederlage immer noch aus der Mehrheitsgesellschaft erfährt. Immer noch liegt die Zahl der Unterzeichner weit unter 450.000, der Appell, das Land jetzt nicht allein zu lassen, droht zu verhallen, weil nicht einmal zehn Prozent der grünen Wähler von 23. Februar sich noch gewillt zeigen, den Mann zu unterstützen, an dem letztlich alles hängt.

Die Klimakrise, so rechnet Robert Habeck, wird sich bis dahin verschärft haben. Auch Friedrich Merz wird scheitern. Der grüne Führungsanspruch wird erneut werden, gestärkt und die Sehnsucht vieler Wählerinnen und Wähler nach einer Alterntive zur Alternative wird wachsen.

In spätestens vier Jahren ist wieder Bundestagswahl.

Und ein anderer Kandidat ist weit und breit nicht in Sicht.

Samstag, 8. März 2025

Der Staatsstreich: Schulden bis zum Mond

Es gab schon viele Angriffe auf den Verfassungsstaat, etwa durch eien Gruppe rechter Rentner. Die Grundgesetzänderung durch ein abgewähltes Parlament aber dürfte langfristig am wirksamsten sein.

Es ist vorbei, es ist erledigt, der Traum ist ausgeträumt. In einem Handstreich, so planen es Union und Sozialdemokraten, soll der abgewählte alte Bundestag an seinem letzten Sitzungstag die Geldschleusen öffnen, um Deutschland kriegsfest und die neue Bundesregierung dauerhaft handlungsfähig zu machen. Panik war in den letzten Tagen in allen Blicken. Panik wie zuletzt vor fünf Jahren, als ein neuartiges Lungenvirus aus China kam. Was jetzt tun, um so zu tun, als könne man etwas tun?

Der erste Weg deutscher Politiker führt in solchen Momenten immer zum Geldautomaten. Der wirft die Rettung aus, dieser irrationale Grundglaube beherrscht alle, die meinen, führen zu können. Fehlt es Ideen, an Konzepten, an einer Vorstellung dazu, warum eigentlich alles schiefgeht, hilft frisches immer. Diesmal wird eine Billion Euro gezogen, die Geheimnummer soll der alte Bundestag noch schnell herausgeben, ehe die leidige Demokratie mit der unglücklichen letzten Wahlentscheidung des Souveräns alles verdirbt.

Eine runde Billion

Ein Billion Euro neue Schulden entsprechen etwa 40 Prozent der Kreditlast, die Deutschland bisher in 76 Jahren aufgenommen hat. Den derzeit bekannten Plöänen nach wird die unfassbare Summe in zwei neuen Schattenhaushalten versteckt, um sie vor dem verfassungsmäßig vorgesehenen Verbot struktureller, also von der Konjunktur unabhängiger, staatlicher Verschuldung von mehr als 0,35 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu verbergen. Dieser Angriff auf die verfassungsmäßigen Grundlagen, die als Reaktion auf wachsende Sorgen über die Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen beschlossen worden waren, ist nicht der erste, aber der umfassendste und bedrohlichste. 

Zwar ist es den deutschen Bundesregierungen auch mit der Schuldenbremse nur ein einziges Mal in den vergangenen 15 Jahren gelungen, die eigenen Vorgaben einzuhalten. Doch zumindest wurde über dieses komplexe Versagen schamhaft geschwiegen und jeder einzelne Verstoß mit einer ganz besonderen, einmaligen und außerordentlichen Notlage begründet. Man müsse jetzt gerade. Die Zeiten seien so. Der schlimmste überhaupt seit. Angela Merkel entwickelte diese Art Ausrede zur Kunstform.

Donald Trump als Grund

Auch diesmal ist das natürlich so. Als Begründung dient ein Gespräch zwischen Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj, in dem der letztere sich geweigert hatte, die amerikanischen Bemühungen um einen schnellen Friedensschluss mit Russland zu unterstützen - whatever it takes. US-Präsident Donald Trump hatte daraufhin die US-Hilfe für die Ukraine für beendet erklärt. Selenskyj könne gern wiederkommen, wenn er bereit sei, statt Forderungen nach Sicherheitsgarantien die Bereitschaft mitzubringen, den Realitäten ins Auge zu schauen: "Ihr habt keine guten Karten", hatte ihm Trump klarzumachen versucht.

In Europa aber fand der Brüskierte Trost. Europas Spitzenpolitik überbot sich gegenseitig mit Unterstützungs- und Aufrüstungsschwüren. Bis zum letzten Ukrainer werde man kämpfen, sich den USA niemals beugen, sondern sie vielmehr zwingen, die einem schnellen Frieden kritisch gegenüberstehenden Europäer mit an den Verhandlungstisch zu bitten. Ein eigener Plan wurde vorgelegt. Er bestand aus dem Vorschlag, irgendwer solle irgendwie einen Waffenstillstand organisieren, der, soviel stand fest, einen Monat zu dauern habe. 

Dementiere Idee aus Europa

Kaum war die peinliche Idee nach Washington übermittelt, wurde sie auch schon dementiert. Alles ist im Fließen, alles ist im Gehen, nur einer kommt und das mit Wumms: Deutschlands neuer Kanzler Friedrich Merz sprach mitten in den Abfall Amerikas seinen "whatver it takes"-Satz: Was auch immer es kosten mag, wie schwer es auch gegen den gesunden Menschenverstand, gegen jede Berechnung von Militärstrategen und gegen jedes Wahlversprechen von vorletzter Woche verstößt. Deutschland wird die Gelegenheit nutzen, wieder Rüstungs- und Militärmacht zu werden wie in den großen Jahren, als die Welt vor deutschen Waffen und deutschen Soldaten zitterte. 

Die SPD, bei der Wahl vernichtend geschlagen, stimmte schnell zu, eingekauft mit einem eigenen Schattenschuldenposten von einer halben Billion, auszugeben für Brücken, Straßen, Schulen und was sonst noch so gut ankommt beim Volk. Um die Grünen zu überreden, die Linken oder die Reste der FDP, wird sich auch noch etwas finden. Und für den Bundesrat sind schon 100 Milliarden beiseitegelegt. Die werden die Länder auf eigene Faust verbraten dürfen.

 Der Aufstand der Abgewählten

Alle, die da beschließen, sind erstens abgewählt und zweitens in einem Alter, in dem ihr Leben vorbei sein wird, wenn die neue Schulden richtig zu drücken beginnen. Es ist, wenn auch gewaltfrei, nichts weniger als ein Staatsstreich. Die offiziell ausgewiesene Staatsverschuldung in Höhe von 2,6 Billionen Euro steigt in einer explosionsartigen Bewegung auf 3,6 Billionen. Dazu kommt eine in 29 verschiedenen alten Sondervermögen versteckte weitere Billion - eine Summe, die bei normalen Wirtschaften irgendwann um das Jahr 2055 erreicht worden wäre. Damit ist Deutschland, ein Land, dem immer vorgeworfen wird, es komme zu spät, richtig viel früher dran.

Als der Bundestag an jenem historischen 29. Mai 2009 nach jahrelangen Verhandlungen mehrheitlich die Hände hob, um dem Grundgesetz eine Schuldenbremse einzuschreiben, glaubten die Parlamentarier von damals, sie könnten ihre Nachfolger auf diese Art davon abhalten, immer wieder und immer tiefer in die Kasse zu greifen. Eine Hoffnung, die sich sichtlich nicht erfüllt hat, denn jedes neue Parlament hat selbstverständlich das Recht, sich die Dinge so zusammenzubiegen, dass es selbst am besten klarkommt. 

Eine kleine Klüngelrunde reicht 

Die kleine Vorkoalitionsklüngelrunde von SPD und CDU/CSU hat nun festgestellt, dass es für künftige Regierungsbemühungen recht günstig wäre, wenn die seinerzeit von SPD und Union beschlossenen Grenzen knallhart weitergelten. Aber, so handhabt die Europäische Union den Umgang mit der völkerrechtlich bindenden Verschuldungsgrenze für die Mitgliedsstaaten seit Jahren mit großem Erfolg, Verstöße dagegen keinerlei Konsequenzen haben. 

Manuela Schwesig, ausgebildete Finanzbeamtin, Gründerin der berühmten Nord-Stream-Stiftung und Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, hat die neue Rechtslage etwa so beschrieben: Im Haushalt seien bisher 1,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung veranschlagt worden, das sei erlaubt. Wenn der Verteidigungshaushalt aber nun auf zwei Prozent und vielleicht weit darüber hinaus steige, dann würden künftig einfach alle Schulden, "also alles, was über ein Prozent ist" nicht mehr als Schulden gerechnet. Das Konzept ist aus der Behandlung von Alkoholkranken bekannt: Es wird dabei kontrolliert so viel getrunken, dass es dem Patienten so schlecht wird, dass er zumindest kurzzeitig einfach nicht mehr weitertrinken kann. 

Die Magie der großen Zahl

Der "Deutschlandplan", wie ihn Schwesig nach einer Idee ihrer Partei aus dem Jahr 1959 nennt, ist eine Mischung aus klassischem Rettungspaket der Marke Merkel, Beschwörung der Magie der großen Zahl und Versuch, grundgesetzliche Regelungen mit einem Augenzwinkern auszumanövrieren. Die Dringlichkeit der Wiederbewaffnung Deutschlands dient als Vorwand für den Versuch, mit noch mehr staatlichen Ausgaben wenigstens wieder ein bisschen Wirtschaftswachstum zu erzeugen - von Schwesig als "Stärkung der Wirtschaft" bezeichnet.

Das Rezept, nach dem gekocht werden soll, wenn der scheidende Bundestag erst seine letzte vaterländische Pflicht erfüllt und die Kriegskredite durchgewunken hat, ist bekannt. Die Ankündigung von "Investitionen in die Infrastruktur, vor allem in Straßen, Brücken, Krankenhäuser, Kitas und Schulen" kamen bereits 2019 prima an, 2020 war der "erhebliche Investitionsbedarf dann "Konsens", 2021 wurden sie greifbare Realität und 2023 sollte alles sogar noch schneller gehen mit den "leistungsstarken Straßen, Brücken, Schienen und Mobilfunknetzen", für deren Aufbau der Deutsche Gewerkschaftsbund schließlich 2024 600 Milliarden Euro veranschlagte. 

Neue monetäre Dimensionen

Eine Summe, die bei der SPD niemand kleinlich nachrechnete.  In solchen monetären Dimensionen kommt es auf die Million nicht an, jeder Cent ist ein Zeichen, dass etwas getan wird, unabhängig davon, ob jemand genau weiß, was genau getan werden müsste. Kleinlich, wer wie die Grünen jammert, sie hätten schon immer gesagt, "Klotzen statt Kleckern", wie es Hitlers Panzergeneral Heinz Guderian einst so vortrefflich ausgedrückt hatte.  

Niemand kennt jetzt mehr Partialinteressen, die Summen, die im Schwange sind, werden für alles reichen. Schwesig etwa würde gern auch in die Strompreise investieren, denn "die sind für alle teuer und steigen immer mehr, obwohl wir grünen Strom längst sehr preiswert produzieren". Wenn den Netzausbau, damit der viele Strom nicht ungenutzt versickert, nicht mehr auf alle umlege, sondern als Schuldenlast in die Zukunft verschiebe, werde alles für alle billiger. "Und gerade die Energiekosten sind ein ganz wichtiger Baustein für die wirtschaftliche Entwicklung." 

Das bisschen Verfassung

Das bisschen Verfassung, das dazu geändert werden muss, schaffen sie locker noch im alten Bundestag. Nörgelei an der hastigen Terminierung der Abstimmung auf den 13. und 18. März und der Hinweis auf das Desaster, dass die Ampel mit ihrem ähnlich eiligen Versuch erlitten hatte, das Heizungsgesetz flott durchzudrücken, ist die Vorstufe zu Staatsfeindlichkeit.

Nur weil das Bundesverfassungsgericht seinerzeit per einstweiliger Anordnung eine Abstimmung untersagt hatte, um sicherzustellen, dass "allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des für die zweite Lesung maßgeblichen Gesetzentwurfs mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind" , heißt es nicht, dass die diesmal nicht schneller lesen können: Es geht um "ein großes Finanzpaket" (Klingbeil)! Das über Wohl und Wehe der westlichen Welt entscheiden wird, abzüglich der Vereinigten Staaten.

Mit wem denn, wenn nicht jetzt

Eine Zweidrittelmehrheit ist nötig, um wenigstens erstmal vorübergehend raus aus den Kartoffeln zu kommen, die die Zweidrittelmehrheit von SPD, CDU und CSU 2009 im Bundestag angesetzt hatte. Auf den vom Wähler und der Wählerin so unklug zusammengestellten neuen Bundestag darf Friedrich Merz nicht hoffen: Mit der AfD zusammen geht es ja nicht,das hat er geschworen. Die Linkspartei aber, der die Union mit einem Unvereinbarkeitsschwur ebenso eng verbunden ist, wird sich schwer tun, gegen die alten Genossen im Kreml aufzurüsten.

Nach der Entscheidung der schwarz-roten Klüngelrunde ist also vor der Entscheidung darüber, ob das ganze gewagte Manöver klappt. Olaf Scholz aber hatte die funkelnagelneuen Billionen trotzdem schon in der Aktentasche, als er beim Krisengipfel in Brüssel erneut vor einem "Diktatfrieden" mit Russland warnte, wie ihn Zar Alexander I. 1807 über die Köpfe Deutschlands hinweg mit Frankreich geschlossen hatte. Scholz lobte die Bereitschaft Volodomyr Selenskyjs, mit Europa, Russland und den USA über einen Waffenstillstand zu sprechen. 

Dass weder die USA noch die Russen sich von Europa oder der Ukraine in ihre Gespräche hereinreden lassen werden, ist ein Detail, mit dem Nachfolger Merz wird arbeiten müssen.

Freitag, 7. März 2025

Stabile Renten: Ein bisschen Schwund ist immer

Wie versprochen: Stabile Renten hat Olaf Scholz auch geliefert.

Es war eines der zentralen Versprechen, mit denen Olaf Scholz seinerzeit hoffnungsfroh in das "eigentliche Projekt" startete, wie es sein erfolgsverwöhnter Gesundheitsminister Karl Lauterbach wenig später stolz nannte. "Stabile Renten" hatte Scholz den 21 Millionen Seniorinnen und Senioren versprochen.  

Scholz packte das an. Im ersten Jahr unter seiner Verantwortung kletterten die Renten in Ost und West um 6,1 und 5,35 Prozent. Das war beinahe genug, um die Inflation von 7,9 Prozent auszugleichen. Und gemeinsam mit seinem Arbeitsminister Hubertus Heil, einem Schwergewicht der Sozialpolitik, blieb Scholz auf Kurs. 2023 gab es im Westen schon fast 4,4 Prozent mehr, im Osten immerhin 5,85. Da die Inflationsrate auf 5,9 Prozent gefallen war, entsprach das beinahe wieder einer stabilen Auszahlung, gemessen in Kaufkraft. 

Die deutsche Renteneinheit

Der Schluck, der 2024 ausgegeben wurde, war dann auch etwas kleiner, wenn auch erstmals endlich einheitlich in Ost und West: 4,4 Prozent mehr für alle. Die Inflation war nun auf offizielle 2,2 Prozent gefallen. Jeder konnte sich wieder mehr leisten. Seit 2021 hat der Euro in Deutschland etwa 18 Prozent an Kaufkraft verloren, die Renten aber stiegen um fast 16 Prozent. Genau das meint Stabilität, wie sie der von so vielen unterschätzte Bundeskanzler immer meinte. 

Allen etwas nehmen, aber nicht zu viel, dieser Weg hat sich im zurückliegenden Vierteljahrhundert als goldrichtig erwiesen. Zwischen 2000 und 2024 stiegen die Verbraucherpreise um fast 60 Prozent. Die Brutto-Standardrente humpelte im gleichen Zeitraum zumindest für West-Rentner und -Rentnerinnen mit einem Anstieg von etwa 54 Prozent hinterher. Oder wie es Gundula Roßbach, die Präsidentin Deutsche Rentenversicherung Bund knapp zusammenfasst: "In der Vergangenheit sind die Renten zudem im Durchschnitt stärker gestiegen als die Verbraucherpreise". 

Ein besseres Leben

So ein besseres Leben in einer besseren Welt gibt es freilich nicht umsonst. Es braucht Vorbereitung, es braucht die großen Linien, die einer zieht und zwischen denen die anderen sich bewegen. Olaf Scholz, der den Unmut vieler einfacher Bürger zu spüren bekam, als die Preise sich vom Boden lösten und die Politik scheinbar ratlos danebenstand, hat die Erhöhung der Bezüge für die vielen alten, ehemals fleißigen Menschen in einer Regierungserklärung unumwunden als "einen richtigen Schritt" und "ein Zeichen der Sicherheit" bezeichnet. 

Zwar ist es ein gesetzlich festgeschriebener Automatismus, der über die Rentenhöhe bestimmt, aber Scholz war trotzdem stolz auf seine Leistung und sein Ohr, das immer noch so nahe am Volk ist. Er schätze, dass bei einer Volksabstimmung 80 bis 90 Prozent der Deutschen für eine Rentenerhöhung stimmen würden, wagte der selbst kurz vor dem Ruhestand stehende Niedersachse sich mit einer Vermutung weit vor.

Automatisierte Bescheidenheit

Es ist fast anzunehmen, dass er auch damit richtig liegen würde. Der Deutsche Bundestag etwa, der sich vor Jahren zur Vermeidung unnötig aufgeheizter Diskussionen um die Vergütung der Anstrengungen der Abgeordneten einen Mechanismus hatte einfallen lassen, nach dem die Diäten automatisch im selben Maße steigen wie der Nominallohnindex. Rein theoretisch könnten die Diäten sinken, dazu müssten allerdings die Löhne in Deutschland rein numerisch fallen. Das tun sie jedoch nie, weil für das Sinken die Geldwertverluste zuständig sind, die in der Politik gern als eine Art Naturgewalt namens "Inflation" beschrieben werden.

Der Wechsel vom öffentlich zelebrierten Selbstbedienungsmodell am Steuerzahlerbüfett zur vermeintlich bescheidenen Automatenausgabe höherer Diäten war für die Bundestagsabgeordneten ein Geschenk. Die leidige Debatte um die Angestellten der Wählerinnen und Wähler, die sich einmal im Jahr selbst die Gehälter erhöhen, ist verstummt. Und zugleich hat der kluge Schachzug dazu geführt, dass ein Anstieg der Diäten um rund 76 Prozent in nur zehn Jahren möglich wurde: 2013 musste ein Bundestagsabgeordneter noch mit schmalen 8.252 Euro im Monat auskommen. Derzeit bekommt er im Monat bereits Höhe 14.558 Euro.

Der Index will es

Und die nächste Erhöhung um sechs Prozent, der Nominallohnindex will es nun mal so, dagegen kann niemand etwas machen, steht unmittelbar bevor. Sie folgt auf eine von sechs Prozent im vergangenen Jahr, der Erhöhungen von 3,1 und 2,6 Prozent in den Jahren 2022 und 2023 vorausgingen. Summiert freuen sich die Abgeordneten heute über 17,3 Prozent Entgeltsteigerung in vier Jahren. Der Langzeitvergleich zeigt echte Wohlstandsgewinne: Die Renten kletterten um 54 Prozent, die Preise um 60, die Diäten um stolze 76.

Rentnerinnen und Rentner kamen mit ihren fast 16 Prozent nicht ganz so gut weg, aber auch beim ZDF zeigt sich eine solidarische neue Bescheidenheit: Statt der 3,74 Prozent mehr Rente, einer Erhöhung, die erstmals seit fünf Jahren über der offiziellen Inflationsrate liegt, gibt es beim ehemaligen "Zweiten" Lohn- und Gehaltserhöhungen von knapp fünf Prozent. 

Die als „lineare Anhebung der Grundvergütung um 4,71 Prozent“ bezeichnete Gehaltserhöhung bekommen auch "außer- wie übertariflich Beschäftigte des Senders", als die Mitglieder der Geschäftsleitung, der Intendant, die vier Direktoren und der Justitiar. Wenn nun Regierungsjahre ins Haus stehen, in denen andere Prioritäten gesetzt und viele Entscheidungen der Bundesregierung noch viel besser erklärt werden müssen, wird beim ZDF mit Sicherheit weiterhin gute Arbeit im Dienst der guten Sache geleistet werden.

Festung Europa: In Mauern aus Illusionen

Festung Europa: In Mauern aus Illusionen
Ein Hufeisen aus Sehnsucht: Früher träumten die Identitären von einer "Festung Europa", heute sieht der "Spiegel" es aus Aufgabe an, Europa zur Festung auszubauen.


Was war das für eine grausame Vorstellung. Hohe Zäune, womöglich bewaffnete Wachen. Streifen Tag und Nacht. Mauern, Gräben wie rund um den Deutschen Bundestag. Rechtsextreme und Rechtsextremisten träumten diesen totalitären Fiebertraum von der "Festung Europa", einer fürchterlichen Vision, in der Praxis schon allein daran scheitern musste, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel offen und frei gestanden hatte: Deutschland habe Grenzen mit 3.000 Kilometern Länge. Die ließen sich in der Praxis einfach nicht schützen.  

Der Traum von der sicheren Grenze

Identitäre, Sachsen und Ausländerfeinde aller Colour ließen dennoch nicht ab von Verlangen nach Abschottung und Grenzbefestigungen. Geduldig hielten Wissenschaft, Politik und Medien dagegen. "Je härter die Grenzen, desto begrenzter die Demokratie", argumentierten sie. Als sich Rechtspopulisten aus Deutschland und Österreich in Potsdam zu einer neuen Wannsee-Konferenz trafen, um das künftige Zusammenleben in jener mythischen "Festung Europa" zu verhandeln, blieb das Geheimnis nicht lange geheim: Die „Festung Europa“, während des Zweiten Weltkriegs Synonym für Hitlers Atlantikwall, der das Dritte Reich vor Angriffen der Alliierten schützen sollte, stand für Entmenschlichung, Brutalität und einen Rückfall in die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte.

Plötzlich aber hat sich das Image des verpönten Begriffes für ein verpöntes Vorhaben gewandelt.  Die "Festung Europa" ist kein rechtsextremes Schreckgespenst mehr, dessen sacht angetäuschte Verwirklichung durch europäische Bürokratieregeln mit härtestem Widerstand zu bekämpfen waren. Sondern eine politische Wunschvorstellung, die umzusetzen alle Anstrengungen erlaubt sind.

Der Kontinent als Festung

Denn so ist die Lage, hat ein Reporterteam des "Spiegel" ermittelt: "Europa erlebt historische Zeiten: Es gilt, die Ukraine zu retten und den Kontinent zur Festung auszubauen". Es das große Vorhaben, vergleichbar nur mit dem Bau der Brandmauer im Bundestag und den Länderparlamenten, sei "ein Wettrennen gegen die Zeit", von dem noch offen sei, ob "die Europäer es gewinnen" könnten.

Von wegen"
Vieles an dieser Beschreibung ist unklar. So wird nicht erwähnt, ob die Russen und die ehemaligen Weißrussen, mittlerweile in Belorussen umgetauft, mitbauen an der Festung, weil es sich ja bei ihnen auch um Europäer handelt. Noch viel weniger weiß man nicht, ob der titelgebende "Mut der Verzweifelten" ausreichen wird, die Seegrenzen zu sichern, über die jeder halbwegs verschlagene Usurpator in den vergangenen zehn Jahren ungestört ganze Schläferheere an den Küsten der EU hätte anlanden können. 

Die Vereinigten Staaten von E

Sicher ist nur: Es drängt die Zeit und "im Angesicht der Raubtiere Putin und Trump erscheint manchem Europa als "ein großartiger Kontinent", der wieder einmal schnellstens zu den "Vereinigten Staaten von Europa" umgebaut werden muss, deren Gründung der heute als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung abgeparkte frühere SPD-Vorsitzende Martin Schulz eigentlich bereits auf den 1. Januar diesen Jahres terminiert hatte. 

Jetzt soll es, nach Demonstranten, die die Spiegel-Reportergruppe in 20 Städten Italiens aufspüren konnten, "sofort" geschehen. Wenn die USA nicht mehr "die Führungsmacht des Westens sein" wollen, sondern US-Präsident "jetzt lieber mit Wladimir Putin" spricht wie damals Nixon mit Breschnew und später Reagan mit Gorbatschow, obwohl der Russe einen völkerrechtswidrigen Krieg in Afghanistan führte , dann müssen die Verbündeten, die im "Spiegel" "die Verbündeten von einst" genannt werden, Konsequenzen ziehen.

Zur Not auch nuklear

Europa muss sich selbst verteidigen, zur Not auch nuklear. Um ein Zeichen zu setzen, hatte Deutschland die jüngsten UN-Verhandlungen zur Überprüfung des Atomwaffenverbotsvertrags demonstrativ geschwänzt. Litauen hatte den internationalen Vertrag über das Verbot von Streumunition verlassen. Die Briten, mit denen sich die EU seit fünf Jahren nicht auf von beiden Seiten akzeptierte Nachbarschaftsregeln einigen kann, haben sich in die besten Freunde verwandelt, die die EU noch hat. Frankreich lässt erkennen, dass es bereit wäre, seine "Force de dissuasion nucléaire française" nach Osten zu verschieben, vielleicht dorthin, wo die Bundesregierung heute noch US-Kernwaffen vermutet. Aber Deutschland ist souverän, seine Regierung kann sich entschließen, es bei einer Vermutung zu belassen.

Ob Deutschland, seit Italiens Kehrtwende das Kernland des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, eigene Atombomben braucht, ob es sie selbst herstellen wird, wo dann angereichert werden soll und auf welche Raketen die Sprengköpfe geschraubt werden, ist noch nicht entscheiden. Die französische Lösung hätte den Charme, dass es schnell gehen könnte, und um Geschwindigkeit geht es. Ständig trifft Trump derzeit Entscheidungen, die Europa zu Reaktionen nötigen, die schon wieder halb hinfällig sind, ehe sie mit allen Partnern besprochen wurden.

Die Dystopie als Zukunftsversprechen

Die Festung Europa wird in dieser Situation von der rechtsextremen Dystopie zur leuchtenden Zukunftsvision aller aufrechten Demokraten. Zieht Trump alle in Europa stationierten US-Truppen ab, werden genug Kasernen und Truppenübungsplätze frei, um die Lücken mit Landeskindern zu füllen, die das dann wieder "starke abwehrbereite Europa" mit seiner "liberalen, weltoffenen Demokratie ohne die amerikanische Schutzmacht verteidigen" (Spiegel). Vor ein paar Monaten hätte man diese Vorstellung noch als Spinnerei irgendwelcher Freier Sachsen oder der Reuß-Rentnerarmee abgetan. Inzwischen aber steht das Szenario als "Plan" im ehemaligen Nachrichtenmagazin aus Hamburg. Er sein ein "verzweifelter", aber in Europa sei eben auch "der Ernstfall eingetreten". 

Die Europäer bräuchten "dringend Antworten auf die Parallel-Attacken aus Moskau und Washington", ein Miesmacher, Verhöhner und Schwachkopf, wer hier eine Gleichsetzung der russischen Diktatur und der - nach San Marino - ältesten Demokratie der Welt sieht. Alle, die schon immer skeptisch auf Amerika geschaut haben, das so viel innovativer ist, wagemutiger und erfolgreicher, wollen jetzt mitmachen beim am großen Werk, den "eigenen Kontinent zur Festung umzubauen". Ami, go home! "Die Pax Americana ist vorbei", triumphiert der französische.Außenminister Jean-Noël Barrot, dessen Land immer großen Wert auf eine Sonderolle in der Nato gelegt hat

Gute Voraussetzungen

Bei aller Solidarität unter Europäern, die soll bleiben. Über den Schutzschirm, den Frankreich mit den anderen Staaten in höchster Not teilen will, werde auch in Zukunft nur einer bestimmen. "Was auch immer geschieht, die Entscheidung lag und liegt immer in den Händen des Präsidenten der Republik, des Oberbefehlshabers der Streitkräfte", hat Emmanuel Macron gesagt. Gute Voraussetzungen schon mal für die immer wieder herumgespensternde EU-Armee, deren deutsche Truppenteile erst marschieren würden, wenn der Bundestag mehrheitlich zugestimmt hat. Während die Franzosen in der Stunde der letzten Entscheidung erst dann mit Atombomben auf die Invasoren werfen würden, ihr Präsident nach dem Fall von Polen feststellt, dass die Bundeswehr die Russen wohl auch nicht aufhalten werde.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die einen wollen Europa zur Festung machen, die anderen einen Schutzschirm spannen, der ihre Vorneverteidigung verbessert. Ursula von der Leyen, als ehemalige deutsche Verteidigungsministerin intensiv beteiligt am Rückbau der ehemals so gefürchteten Fähigen der deutschen Streitkräfte, denkt darüber nach, "die Ukraine in ein stählernes Stachelschwein zu verwandeln" und Briten und Franzosen möchten aus den "willigsten und militärisch stärksten Partnern" eine "Koalition der Willigen" schmiede - einen neuen "Rat", der "militärische Einsätze, die Ausbildung ukrainischer Truppen und den Ausbau der Rüstungsindustrie koordinieren" würde, weil mehr Koordinierung immer schon so gut funktioniert hat.

Jeder darf mitspielen

Jeder will mitmachen, jeder die Gelegenheit nutzen. Friedrich Merz kann seine anstehende Amtszeit mit einem Erstschlag komplett durchfinanzieren. SPD-Chef Klingbeil seinen Leuten das 600-Milliarden-Paket vor die Füße legen, das seien Genossin Saskia Esken schon lange vor Trumps Attacken auf die Einheit des Wertewestens ins Spiel gebracht hatte. Keir Starmer rückt unauffällig an die EU heran. Emmanuel Macron bekommt eine außenpolitische Bühne, die vom andauernden innenpolitischen Drama ablenkt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, deren Hauptaugenmerk eben hektisch noch vom Modethema Klima zum Modethema Wirtschaft gewandert war, hat zwischen Rücknahme des Autoverbots und Rettung der Stahlindustrie kurzfristig noch den "ReArm Europe Plan" aus dem Blusenärmel geschüttelt: 800 Milliarden Euro, die niemand hat, sollen, denen, die sie bezahlen, dabei helfen, zu finanzieren, was sie sich nicht leisten können. 

In der "Festung Europa" mit ihren Mauern aus Illusionen klingt das vollkommen logisch.

Donnerstag, 6. März 2025

Themenschwund im Hysteriechannel: Aufrüstung über alles

Über viele Themen wurde im Wahlkampf demonstrativ gestritten. Mittlerweile sind sie alle beerdigt und vergessen und nur noch eine Frage zählt: Wie teuer wird der nächste Krieg?

Wie war das alles gerade noch wichtig. Die Meinungsfreiheit. Die Brandmauer. Die Energiepreise. Die Wirtschaft. Der "Made in Germany"-Bonus und Elon Musks Einmischungsversuche. Die russischen Trollarmeen. Die Wissenschaftler, die an die X-Akten heranmussten, um die Spur der AfD-Erfolge bis nach Moskau verfolgen zu können. Wichtig, weil wenn alles ganz schiefgegangen wäre, lag irgendwo dort die Rückfalllinie zur Wahlwiederholung.

Rückblick im Rundflug

Es war ein wirklich großes Ringen in den wenigen Wochen Wahlkampf zwischen Neujahr und Neuanfang mit den alten Aktivisten. Beredet wurde, was brennend wichtig war. Die Fehler der Ampel. Die Fehler der großen Koalition zuvor. Die guten Absichten und schönen Erfolge von Angela Merkel und Robert Habeck. Die Notwendigkeit, dass Olaf Scholz Gelegenheit bekommt, sein Werk zu vollenden. Nichts fehlte, kaum etwas, das wirklich wichtig war, kam nicht als kleine Fußnote vor. 

Von den Grünen über die SPD bis zur Union und der spät radikalisierten FDP hatten alle ziemlich plötzlich einen großen Plan. Selbst die rechte und die linke Linkspartei kamen hier und da mit Vorschlägen vor, immer im Dienst der einfachen Leute und der eigenen Funktionäre, für die ein paar Tausend Stimmen mehr oder weniger den Fall aus der sicheren Bundestagsexistenz ins Nichts der prekären Beschäftigung als Bedenkenträger bedeutete.

Ungeplantes Thema Migration

Die Migration, sie hatte nach einer informellen überparteilichen Vereinbarung eigentlich aus dem Wahlkampf herausgehalten werden sollen. Kein Plakat keiner Partei deckte diesen Bereich ab. Alle versteiften sich auf Zusagen wie "Mit Sicherheit mehr netto", "Zuversicht", "Zusammen" oder "Unser Land wünscht sich Frieden" und "In Europa darf nur einer herrschen: Frieden"

Doch niemand hatte daran gedacht, den Beschluss bis in die Einzelfallkreise draußen im Land durchzustellen. Und so kam es, aufmerksame Beobachter vermuteten später eine gezielte Steuerung aus dem Kreml, zu den befürchteten Vorkommnissen, die sich mit den traditionellen Beileidsbekundungen nicht mehr eindämmen ließen. 

Der Messerangriff eines Afghanen in Aschaffenburg wurde zum Flügelschlag des Schmetterlings, der die Verhältnisse durcheinanderbrachte. Vom Unionskandidaten bis zum grünen Hoffnungsträger rückte alles nach rechts. Die Grenze, der Zustrom, die EU-Regeln und die Notwendigkeit, "in großem Stil abzuschieben" (Olaf Scholz) schaffte es in dieser Phase des Werbens um Wählerinnen und Wähler, gern auch vom rechten Rand, alle anderen Themen zur Belanglosigkeit zu degradieren. Die Wahl würde gewinnen, werde die Menschen davon überzeugt, er könne ihnen das in den alten Zeiten vorherrschende Gefühl einer relativen Sicherheit zurückgeben, da waren sich Wahlkampfplaner aller Parteien einig.

Auftritt als zorniger Gott

Friedrich Merz ließ sich überzeugen. Mit einem nicht einmal schlecht gespielten Auftritt als zorniger Rachegott stellte er klar, dass für ihn eine Grenze erreicht sei, dass er die Zustände nicht mehr dulde und damit zu rechnen sei, dass andere Saiten aufgezogen werden würden. Zurückweisungen, rief Merz. Grenze dicht, versprach er. Schluss mit allem, was die Union unter Merkel als "menschliches Gesicht" Deutschlands hatte sehen wollen.

Aus dem Manöver des Unionskandidaten, der damit endlich Bewegung in die festgenagelten Umfragen hatte bringen wollen, wurde das Thema der letzten Wahlkampfphase. Ein breites Bündnis nutzte Merzens Versuch, sich als starker Mann für Sicherheit und Gesundheit darzustellen, umgehend, um aus dem Juristen aus dem Hochsauerland den neuen Adolf Hitler und aus seiner Partei eine wiedergeborene NSDAP zu machen.

Es ging mit einem Schlag nicht mehr um Energiepreise, um innere und äußere Sicherheit, um Steuern, neue und höhere Abgaben, Grenzen, erweiterte Rechte für Geheimdienste, um alle immer abhören zu können, oder die Abschaltung von Internetportalen, die die Meinungsfreiheit anders interpretieren als deutsche Aktivisten, Minister und vom Staat beauftragte Ansichtenaufseher.

Was würde er wirklich

Sondern nur noch um den Rechtsrutsch, die Gefahr einer regierungsfähigen Mehrheit ohne SPD, Grüne und Linkspartei und Merzens vermutete Charaktermängel: Würde er, wenn ihn das an die Macht brächte, mit den Teufeln koalieren? Würde er, wie es die SPD in den 90er vorgemacht hatte, einen  halblegalen Weg finden, sich trotz aller Parteibeschlüsse, Schwüre und Versprechen doch von den Feinden von "unsere Demokratie" zum Kanzler wählen zu lassen?

Historiker werden später staunend über den Parolen sitzen, die Wahlprogramme studieren und die Auftritte der Spitzenkandidaten wieder und wieder anschauen und analysieren. Und sie werden feststellen: Alles lässt sich ändern, wie die FDP in einem verzweifelten Versuch des Appells an eine erhoffte Aufbruchsstimmung im Land plakatiert hatte. Mancher aber ändert sich von ganz allein - und dann deutlich heftiger als alle Strategen, Wahlkampfplaner und Visionäre in den Spitzenämter vorausgesehen hatten.

Opfer einer Disruption

Disruption, einer der Stars, zugleich aber auch eines der Schreckgespenster des Wahlkampfs, lässt sich herbeibeten oder aber vermeiden wollen. Die normative Kraft des Faktischen aber, 1911 vom sächsischen Staatsrechtler Georg Jellinek als das Prinzip formuliert, nach dem eine tatsächliche Entwicklung stets einen Zustand schafft, den die Rechtsordnung anzuerkennen gezwungen ist, sorgte nur Stunden nach dem Urnengang für ein Themensterben, wie es Deutschland noch niemals erlebt hat.

Russische Trollarmeen, die die Wahl beeinflusst haben? Elon Musk, der unzulässige Meinungen äußerte? Der Nazi Merz, gegen den große Teile der deutschen Sozialdemokratie, die Linken und die Grünen mutig aufgestanden waren? Die freche Anfrage der Union nach der staatlichen Finanzierung eines milliardenteuren Biotops aus Meinungsaufsichts- und Meinungsbeeinflussungsorganisationen? Die längste Rezession aller Zeiten? Die lahmende Energiewende? Die Sicherung der Renten? Das außer Kontrolle geratene Gesundheitssystem? Die Pflege? Die Infrastruktur? Die Inflation, die einfach nicht richtig sinken will? 

Aufrüstung über alles

Wie alle anderen zentralen Streitpunkte verschwanden sie über Nacht, besser gesagt in dem Moment, als US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance im Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj feststellen mussten, dass ihr Gast immer noch glaubt, sein Land durch eine Fortsetzung des Kampfes gegen die russischen Invasionstruppen eines Tages in eine bessere Verhandlungsposition bei Friedensverhandlungen bringen zu können. Trump warf Selenskyj aus dem Weißen Haus. In Deutschland warfen die Parteistrategen von Union und SPD alle Fahrpläne für die Koalitionsverhandlungen über Bord.

Jetzt geht es nur noch um ein Thema, alles andere ist obsolet. Wie Anfang 2020, als die Corona-Pandemie Angela Merkel die Gelegenheit verschaffte, auf dem Verordnungsweg durchzuregieren, unveräußerliche Grundrechte aussetzen zu lassen und neue Schulden zu machen, um eine längst überalterte, zu großen Innovationssprüngen unfähige Wirtschaft wie gehabt weiterwurschteln zu lassen, erkannten Friedrich Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil im "Verrat" (Spiegel) des US-Präsidenten am gemeinsamen Ziel des Endsieges über Russland sofort die Chance, ein neues Notstandsregime auszurufen.

Munition statt Impfstoff, Kanonen statt Beatmungsbetten, Panzer statt Biontech. Aber jedenfalls Milliarden über Milliarden, begründet mit einer allumfassenden medialen Alarmstimmung, die nur noch eine Antwort auf alles kennt: Aufrüstung, Kriegstüchtigkeit, fest geschlossene Reihen, Helm auf zum Gebet, Strammstehen der abgewählten Abgeordneten im Bundestag für eine letzte Rettungstat, koste es, was es wolle, und sei es der allerletzte Rest an Glaubwürdigkeit.

Das zahlt der Staat: Mit dem Geld von Morgen

Das neue Billionen-Schuldenprogramm
Friedrich Merz hat ein sehr altes Haus gekauft. Jetzt beleiht er es bis zum Dachfirst.

Nach zwei Wochen im Amt ist klar: Donald Trump hat damit begonnen, die amerikanische Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln. Wann ist der Punkt ohne Wiederkehr erreicht?

Jakob Augstein, 2. Februar 2017, 12.38 Uhr

Schneller ging es noch nie. Sagenhafte 76 Jahre benötigten 24 deutsche Bundeskabinette, um 2,5 Billionen Schulden anzuhäufen. Keine zwei Wochen dagegen brauchte die noch nicht einmal ins Amt gewählte 25., um auf den Berg eine weitere Billion aufzuschütten. Nicht mitgezählt ist hier die halbe Billion aus Corona-Zeiten, ein Sondervermögen, das erst ab 2028 wieder in der Wahrnehmung auftauchen wird wie Nessi im Loch Ness. Bis dahin ist die Rückzahlung ausgesetzt.

Das Billionenspiel

Dann aber geht es los, und wie. Die 2,5 Billionen Verbindlichkeiten kosteten den Bund zuletzt etwas mehr als 34,2 Milliarden Euro im Jahr. Mit den 1,5 Billionen Euro an neuen und alten Sondervermögen  - inklusive des Scholzschen Zeitenwende-Fonds - erhöht sich der Betrag demnächst auf rund 60 Milliarden. Ein gutes halbes Bundeswehr-Sondervermögen, das nicht in dringend benötigte Wärmepumpen, Haubitzen, Elektroautos und Digitalisierung fließt. Sondern direkt in die Taschen internationaler Kuponschneider, Spekulanten und Finanzjongleure.

Es ist das Geld von Morgen, das sich besonders leicht ausgeben lässt. Jeder Kreditkartenbesitzer kennt das Phänomen: Was ich heute kann besorgen, geht immer besser mit borgen. Wie wir heute leben, das werden andere morgen bezahlen. Nimm zwei, zahl' drei, aber erst, wenn das Geld nur noch einen wert ist. Wer für die Kosten aufkommt. Der Steuerzahler jedenfalls nicht - der Bund hat gut gewirtschaftet!, hat die wichtige Merz-Beraterin Julia Klöckner schon vor Jahren klargestellt. Robert Habeck, bis heute Klimawirtschaftsminister, hat es erst kürzlich bestätigt: "Nicht die Bürger zahlen, sondern der Staat".

Trockenes Freibier

Das ist Freibier, aber knoechentrocken. Von den Jungen für die Alten. Im Moment stehen in Deutschland noch 15 Millionen Nettosteuerzahler bereit, die Last zu schultern. Perspektivisch werden es weniger werden, weil sowohl SPD als auch CDU und CSU die hart arbeitende Mitte kräftig entlasten wollen. Das muss sein, denn nur mehr Fleiß, Anpacken und Leistungswille können die Steuereinnahmen so steigern, dass die schlagartig um fast 50 Prozent gestiegenen Zinslasten zu schultern. 

Die liegen künftig nicht mehr bei 25 Milliarden Euro im Jahr, sondern eher bei 50 Milliarden. Ironischerweise passt das: Das neue Bundeswehrsondervermögen hat einen Umfang von 500 Milliarden, aufgeteilt auf zehn Jahre. Es ist also pro Jahr genau so hoch wie die Zinsen, die Deutschland zu zahlen hat.

Dass eine solche Reform gründlich vorbereitet sein muss, liegt auf der Hand. In ihren Sondierungsgesprächen vor den anstehenden Koalitionsverhandlungen ließen sich SPD, CDU und CSU denn auch Zeit. 2009 hatte der Bundestag zwei Jahre verschwendet, um schließlich mit Zwei-Drittel-Mehrheit zur Entscheidung zu kommen, dass Deutschland ohne eine Schuldenbremse nicht weiterexistieren könne. 

Die Handvoll Spitzenpolitiker der informellen Gesprächsrunde von Union und SPD brauche kaum drei Tage, um den Irrtum zu korrigieren: Afuera, Schuldenbremse! Afuera, Maastricht-Vertrag! Afuera, Verbot von Schattenhaushalten! 

Trumps Verrat

Die im Augenblick noch im Grundgesetz enthaltene Schuldenbremse, in den 16 Jahren ihrer Existenz gerade zweimal eingehalten, steht einer neuen Zeit im Wege, von deren Kommen die Par­la­men­ta­rie­r des Jahres 2009 nichts ahnen konnten. Damals, mitten in der großen Finanzkrise, mussten nicht Russland und Amerika, sondern außer Rand und Band geratene Landesbanker eingehegt werden, es galt nicht, die Ukraine vor dem Verrat Donald Trumps zu schützen, sondern den deutschen Sparer vor Spekulanten und Hedge Fonds. Deutschland wollte, das Schicksal Griechenlands vor Augen, zudem Vorbild für die Welt sein und zeigen, dass jeder Staat nur so viel Geld ausgeben sollte, wie er zur Verfügung hat.

Heute ist das in Deutschland doppelt so viel wie damals und noch mehr viel zu wenig als seinerzeit. Mehr geht nicht. Aber einer geht immer noch rein, schließlich sind die Einzigen, die mit einer Schuldenbremse etwas zu gewinnen haben, heute zum großen Teil noch nicht einmal in der Lage, das Wort auszusprechen. 

Der Gewinner nimmt alles

Alle anderen verlieren nichts, denn die Finanzbremse versagte bereits im Jahr ihres Inkrafttretens 2011 zum ersten Mal. Es war Finanzkrise! Notfall! Danach kam Corona. Notfall! Schließlich das Klima und der Klimafonds! Notfall! Richtig durchregieren lässt sich erst, niemand weiß das besser als Friedrich Merz, der Olaf Scholz beim Scheitern aufmerksam zugeschaut, wenn Not kein Gebot mehr kennt und der Staat als weißer Ritter einreitet, um Geld auf die Wunden zu streuen.

Das größte Verschuldungsprogramm, das sich jemals eine Bundesregierung hat gestatten lassen, hat als Begründung eine Lage vorzubringen, die sich bereits wieder geändert hat. Schneller als Deutschland und Europa zu ihren eiligen Krisengipfeln marschieren können, zieht der böse Mann im Weißen Haus die Daumenschrauben an. 

Kommando zurück

Gerade noch am Überlegen, mit welchen Raketen, die Europa nicht hat, die neuen Satelliten, die Deutschland nicht hat, als Ersatz für des verhassten Elon Musk' Starlink ins All geschossen werden sollen, hat der eingeschworene Volodymyr Selenskyj seine letzten Freunde verraten: Auf einmal will er doch Karten spielen und dann auch noch mit dem Blatt, das Trump ihm geben will. EU-Europa gibt alle seine Werte auf. Deutschland ist bereit, seine finanzpolitischen Grundsätze aufzugeben. Das alles für Geschütze, Panzer, Schützenpanzerwagen und Gewehre, die noch vor der Herstellung vielleicht niemand mehr braucht.

Katastrophe zurück. Wo aber nun mit dem ganzen frischen Geld hin? Ein Problem, das sich lösen lassen wird. Schon steigen die von der EZB mühsam und unter Vernachlässigung der eigenen Grundsätze gesenkten Zinsen wieder an, weil das viele neue Geld das schon im Übermaß vorhandene weiter kräftig verdünnt. Schon muss die Bundesbank darüber nachdenken, die 20-Euro-Silbermünzen, die erst vor zehn Jahren die Zehn-Euro-Silbermünzen ersetzen mussten, wegen des bedrohlich steigenden Silberpreises durch 50-Euro-Münzen zu ersetzen. Nahe an dem Preis, den die älteren aus 925er-Silber heute schon kosten.

Im Fell des Bären

Für all das und noch viel mehr werden Mittel gebraucht, Mittel, die es noch gar nicht gibt, die aber von Leuten vorgestreckt werden werden müssen, die noch gar nichts von ihrem Glück wissen. Kommt das Ende des Krieges nicht unangenehm schnell, schafft es die kleinste große Koalition aller Zeiten, nach der Regierungsbildung "bis Ostern" (Friedrich Merz) mit vollen Taschen aus ihren Verhandlungen um das Fell des Bären zu kommen.

Am Zinsmarkt ist die absehbare neue Nachfrage sehr gut angekommen. Der Zins zehnjähriger deutscher Staatsanleihen stiegt im ersten Anlauf um zehn Prozent, zehnjährige Anleihen machten einen Hüpfer von von 2,5 auf 2,8 Prozent. Es war der höchste Tagesanstieg seit 30 Jahren.

Von der Einführung des Euro bis zum ersten Halving seiner Kaufkraft dauerte es fast ein Vierteljahrhundert. Das nächste aber dürfte bereits in zehn Jahren anstehen. Falls alles richtig gut geht.

Mittwoch, 5. März 2025

Bange machen gilt nicht: Frau Prantl, wie positiv blicken Sie in die Zukunft?

Die ausgebildete Psychosoziologin Svenja Prantl schaut derzeit überaus optimistisch auf die Welt.

Sie gilt als seine der stärksten Stimmen der jungen Generation, sie setzt sich unumwunden für soziale Freiheit und Grundgerechtigkeit in der Verteilungsgesellschaft ein, aber beherzt auch in die Wespennester des Widerspruchs. Svenja Prantl hat dem gewohnten bürgerlichen Leben schon als junge Frau rasch entsagt, vor sieben Jahren packte ihren Laptop und machte sich auf eine lange Reise raus aus Deutschland, weg von Europa, ins ferne Ausland, wo das Wetter besser und die Strände leer sind. Hier, weitab von den deutschen Alltagssorgen, arbeitet die heute 36-Jährige, wann immer sie Lust hat – und zwar am liebsten am Strand, von dem aus die deutschen Verhältnisse oft besonders bizarr anmuten.

Für PPQ begleitet die überzeugte Digitalnomadin den Fortgang der Ereignisse mit Kolumnen und Interviews mit Zeitzeugen. Heute allerdings sitzt sie selbst vor dem Mikrofon, um Auskunft zu geben und mit geübter Hand einzuordnen, was inländische Beobachter zusehends überfordert.

PPQ: Frau Prantl, überall heißt es, die Welt sei aus den Fugen geraten, Amerika lasse seine Verbündeten im Stich, alles breche zusammen und bald wohl ein Krieg aus. Wie positiv blicken Sie gerade in die Zukunft? 

Svenja Prantl: Überaus positiv. Wir kommen aus Jahren der politischen Lähmung, aus einer Zeit, in der alle Dinge für immer festgezurrt zu sein schienen. Wenn wir Europa betrachten, dann hatten wir eine Perspektive des Immerweiterso. Aller paar Jahre wählten alle Politiker, die niemand kannte und von denen niemand wusste, wieso gerade sie auf dem Wahlzettel stehen. Die verschwanden dann nach Brüssel, wo sie übereinstimmenden Angaben zufolge nichts zu sagen und nichts zu entscheiden haben. Parallel dazu wuchs uns dann immer eine Kommission zu, die niemand gewählt hatte, die aber alles entscheidet, etwa auch, wer was sagen darf. Sogar den nationalen Regierungen weist diese Meta-Bürokratie bis heute zu, was sie dürfen und was nicht. Das ganze Konstrukt haben wir "unsere Demokratie" genannt und so tief inhaliert, dass jedermann und jede Frau in der EU sich schon fürchtet, wenn ihm insgeheim der Gedanke kam, dass das ja wohl nicht der demokratischen Verhältnisse letzter Schluss sein könne. 

PPQ: Diese Beschreibung ist vielleicht justiziabel, aber optimistisch klingt sie nicht.

Prantl: Mein Optimismus erwächst aus dem Pessimismus dieser Situationsbeschreibung. Schlimmer kann es doch nicht kommen. Sehen Sie, 440 Millionen Europäer akzeptieren Verhältnisse, die so konstruiert sind, dass demokratisch gewählte nationale Regierungen Entscheidungen treffen und Gesetze beschließen müssen, die ihnen von einer überhaupt von niemandem gewählten Kommission und einem unter sehr fragwürdigen und undemokratischen Regeln gewählten Parlament ohne Parlamentsrechte vorgegeben werden. Das klingt doch dystopisch! Das ist doch eine Horrorvorstellung für jeden Demokraten. Um diese Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, wie ein großer kommunistischer Vordenker mal gesagt hat, braucht es ein Erdbeben, eine umfassende Erschütterung. Und die spüren wir gerade. Das macht mich optimistisch, nicht weil ich an ein gutes Ende glaube, sondern weil ich denke, dass ein gutes Ende ohne Anfang unmöglich ist.

PPQ: Viele einfach Menschen draußen auf der Straße und viele  Hinterbänkler im Parlament und Beisitzer in den Koalitionsverhandlungen empfinden die derzeitige Phase aber als sehr heftige Zeit, weil gerade viele politische Glaubenssätze infrage gestellt werden und es so scheint, als seien alle Schutzmechanismen vollkommen überfordert.

Prantl: Diesen Effekt kennen wir aus der Katastrophenforschung. Sie können da rund um die Welt schauen und quer durch alle Zeitalter. Immer stellt sich nach einem Unglück, sei es nun eine Naturkatastrophe oder ein menschengemachtes Auto- oder Messervorkommnis, heraus, dass die Vorsorge nicht ausgereicht hat, dass es Fehler gab, Versäumnisse und Dinge, die niemand vorausgesehen hat, als alle sich wappneten, wie man das ja inzwischen nennt. Letztlich ist es nie genug, aber ohne Katastrophe erfährt das eben keiner. Aus Sicht der Demokratieanwender im politischen Berlin ist das immer der Idealfall, es garantiert, dass man weitermachen kann, ohne von Brüchen und neuen Herausforderungen gestört zu werden. Das Ideal einer solchen Führung ist die berühmte EU-Fake-News von den vermeintlich 75 Jahren Frieden, die die Gemeinschaft garantiert habe. Man eignet sich einfach etwas an, das andere verbürgt haben, feiert sich dafür und zieht daraus die Bestätigung, dass es keinerlei Bedarf mehr nach Fortschritt, Entwicklung oder auch nur Veränderung gibt.

PPQ: Aber wenn alles gut läuft, braucht es das doch auch nicht. Never change a winnig team, sagt man doch?

Prantl: Ja, läuft es denn? Hat denn diese ganze große EU, der größte zusammenhängende Wirtschaftsraum der Welt seit mehr als zwei Jahrzehnten, im vergangenen Vierteljahrhundert irgendeine Entwicklung von Belang zum Fortschritt der Menschheit beigesteuert? Ich rede jetzt nicht von den 12.000 Rechtsakten und Gesetzen, nicht von der neuen Spitzenstufe der Bürokratisierung und nicht vom kreativen Umgang mit früher festgelegten Begriffen wie Einigkeit, Solidarität und Gemeinsamkeit. Nein, ich meine zum Beispiel technische Innovationen, die das Leben von Millionen besser machen, einfacher und lebenswerter. Hat Europa da etwas vorzuweisen? Irgendetwas? Ein kleines soziales Netzwerk im Internet? Einen winzigen Routenplaner? Ein überzeugendes Smartphone? Computersoftware? Ein Satellitennetz? Künstliche Intelligenz? Raumfahrtpläne? Wiederverwendbare Raketen? Irgendetwas? Sagen Sie es mir!

PPQ: Auf Anhieb springt einem da sicher nichts ins Gesicht, aber in einer Welt, die auf Arbeitsteilung beruht, ist das vielleicht gar nicht wichtig. Jahrhundertelang hat Europa die Welt mit Innovationen und dann auch mit Produkten versorgt. Warum soll das über die nächsten Jahrhunderte nicht andersherum sein?

Prantl: Es wird andersherum sein. Ein kluger Mann, weitgereist und welterfahren, hat mir kürzlich erzählt, dass er sich immer dann, wenn er aus Asien zurück nach Europa fliege, vorkomme wie bei einem Besuch im, so wörtlich "Museum unserer Überheblichkeit". Während wir selbstverliebt auf unsere Vergangenheit schauten, ziehe Asien unaufhaltsam an uns vorbei. Und, so sehe ich das, mit jeder Stunde, die EU-Europa in seinen kalten, leeren Ritualen verharrt, sinken die Chancen, dass diese zerrüttete, zerstrittene und von jeder einzelnen Krise der vergangenen 20 Jahre sofort überforderte angebliche Wertegemeinschaft noch einmal den Anschluss schafft.

PPQ: Nun heißt es ja aber, in den USA sei mit der Wiederwahl von Donald Trump eine neue Zeit unter Vorzeichen einer Kleptokratie angebrochen und Europa sei nun gefordert, die alte weltpolitische Ordnung aufrechtzuerhalten, also gerade den Status Quo zu verteidigen, von dem Sie sagen, er müsse enden. Wie geht das aus?

Prantl: Wie immer. Es hat in den zurückliegenden acht Jahrzehnten einige Fälle gegeben, in denen sich die Kleinmächte des Westens amerikanischen Wünschen verweigert haben. Denken Sie an de Gaulle oder Gerhard Schröder. Aber das waren kurze, taktische Aufstände, meist aus innenpolitischen Gründen losgetreten. So ist es auch diesmal, weil Europa und insbesondere Deutschland sich natürlich in den  zurückliegenden zehn Jahren ein Bild von Trump und dessen Ambitionen und Zielen zurechtgezimmert hat, das sich jetzt nicht so einfach beiseitefegen lässt. Der Mann ist ja für irre und für wahnsinnig erklärt worden, man hat ihn bekämpft mit allem bisschen, was man hatte, er wurde zum Hassprediger, zum  russischen Agenten und zum Kriegstreiber ernannt und jeder Versuch, wenigstens halbwegs bei den Fakten zu bleiben, unterblieb, je länger dieser Kampf erfolglos geführt wurde. Niemand kann jetzt so einfach den Schalter umlegen und sagen, okay, er hat gewonnen, wir machen wie immer mit. Ei großes Problem, das sich aber wie immer auswachsen wird.

PPQ: Aber bleiben dann nicht unsere zentralen Inhalte auf der Strecke? Europa hat sich zuletzt vor allem über den Kampf für den Schutz des Klimas und der Meere, für Biodiversität, für Nachhaltigkeit und so weiter definiert. Das fiele ja alles weg.

Prantl: Zweifellos, aber das wird niemand bemerken, abgesehen von denjenigen, die die Felder aus geschäftlichen Zwecken beackern. Seit wir mit dem Ukrainekrieg aus der Zeit der monothematischen Beschäftigung mit dem Klima herausgerutscht sind, haben sich Angebot und Nachfrage nach diesen ehemaligen Zukunftsthemen ja bereits halbiert, ohne dass Klagen kamen. Das resultiert natürlich aus den Grundgesetzen der Mediendynamik: Es kann immer nur eine begrenzte Anzahl an Wichtigkeiten geben, weil eine Tagesschau, wie die Medienforscher sagen, eben nur 15 Minuten hat und auch noch der Sport, das Wetter und irgendetwas Launiges über Kultur gesendet werden muss.

PPQ: Steht also das Abendland vor einem Neustart und die Menschheit vor goldenen Jahren? Da sind Sie eine recht einsame Stimme.

Prantl: Die Zukunft ist wie immer offen, beziehungsweise sie ist jetzt wieder offen. Nach Jahren, in denen sich erwiesen hat, das eine multilaterale Kooperation über Klimaverträge und globale Abmachungen mit Mindestssteuervorgaben und ähnlichen Trick ersten langwierig und zweitens erfolglos ist, bekommen wir nun die Chance, auszuprobieren, ob sich diese Themen mit Hilfe eines konkurrenzbasierten Modells in den Griff bekommen lassen. Wir haben  im Moment drei Blöcke, die unterschiedliche Ansätze verfolgen und wechselseitig in großen Abhängigkeiten stecken. Die Amerikaner haben Europa angeboten, weiterhin zu kooperieren, allerdings wieder nach eher konservativen Vorgaben. Das folgt der strengen Logik von Zbigniew K. Brzezinskis Klassiker "The Grand Chessboard" , in dem er "Amerikas Strategie der Vorherrschaft" schon Ende der 90er Jahre als notwendigen Schutz vor einem Weltmachtstreben Chinas beschrieben hat. EU-Europa kann  dieses Angebot annehmen. Oder es wird auf der globalen Wippe, von der Brzezisnki sprach, Richtung Osten kippen.

PPQ: Wenn Europa nur diese Wahl hat, warum wehrt es sich dann so?

Prantl: Weil die Entscheidung den derzeitigen Akteuren wohl gegen den Strich geht. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Propaganda von der EU als moralischer Weltmacht und zugleich alles andere als Weltstrategen. Hätten zumindest einige von ihnen Brzezinskis Buch gelesen, wüssten sie, dass die Trump-Administration mit ihren Befriedungsmanövern Russland gegenüber natürlich einen Schachzug gegenüber China macht, den Brzinski schon 1999 für unausweichlich erklärt hat. Russland war für ihn schlicht der Schlüsselstaat, an dem sich entscheidet, auf welche Seite Eurasien kippt. 

PPQ: Das klingt einleuchtend, spielt aber in der öffentlichen Diskussion keinerlei Rolle. Haben wir es hier auch mit eineem Medienversagen zu tun?

Prantl: Immer. Mit funktionierenden Medien wäre die EU niemals in eine so prekäre Lage geraten, weil kein Politiker wie Angela Merkel über anderthalb Jahrzehnte mit einer Politik des absoluten Stillstands, der Vertröstung und der Konservierung durchgekommen wäre. Das muss man wohl heute einräumen.