Freitag, 22. November 2024

Reserveheld Pistorius: Nachruf an der Wiege

Ein sichtlich erleichterter Boris Pistorius offenbarte seiner Partei und dem Volk, dass er als Retter der deutschen Sozialdemokratie nicht zur Verfügung steht.

Handfester Hoffnungsträger, Tatmann ohne Zauder-Gen, ein kerniger Sozialdemokrat, der von ganz unten kam und sich noch genau erinnert, wie das Leben außerhalb der zwei, drei Wohnquartiere des politischen Berlin umfasst. 

Boris Pistorius hatte sich aus dem Rathaus von Osnabrück hinübergearbeitet in die Weltpolitik. Jedermann sah ihn als einen, der noch unvollendet ist. Niemand geht diesen Weg von der sozialdemokratischen Pike bis zum Kärrneramt eines Ministers ohne Geld, Soldaten, Raketen und sonstige Waffen, wenn er nicht noch mehr vorhat.

Karrierestart von der Hardthöhe

Helmut Schmidt wurde Kanzler. Ursula von der Leyen EU-Präsidentin. Der Weg lag frei vor Boris Pistorius, seine Partei zerfleischte sich geradezu über der Frage, ob er nur Ja sagen müsse oder der amtierende Kanzler Nein und wer dann mehr beschädigt sei und welche Plakate man drucken müsse, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Der Kanzlerkandidat der Herzen schwieg und er schien die neue Aufmerksamkeit zu genießen, die ihm galt, weil das Restpersonal, über das die deutsche Sozialdemokratie noch verfügt, kaum mehr kanzlertaugliche Figuren aufzuweisen hat als ein Altenheim in Vorpommern oder ein Kindergarten im Rheinland. 

Ja, die Zeiten, als sich in SPD Männer wie Kurt Schumacher, Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt bekämpften und belauerten, sind vorüber. Auch die späteren Jahre mit Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder sind vergangen. Über den glücklosen Peer Steinbrück und den als Fliegengewichtler im Schwergewicht angetretenen Martin Schulz führten die neuen Anbau- und Aufzuchtbedingungen in der ältesten deutschen Partei direkt zu einem alternativlosen Olaf Scholz. 

Ein reuiger Sozialist

Der 66-Jährige trat als Jugendlicher in die Partei ein, war glühender Sozialist und begeisterter DDR-Besucher, er pflegte Kontakte zum Einheitsjugendverband der SED, trat auf einer FDJ-Veranstaltung auf, wetterte gegen den militärisch-industriellen Komplex und glaubte fest, dass die deutsche Teilung eine angemessene Strafe für die Ostdeutschen sei, mit der sie für den Zweiten Weltkrieg büßen müssten. 

Scholz ist damit, verglichen mit allem, was heute in der SPD-Führung sitzt, ein weltläufiger Mann, der nicht nur schon einige Jahre gearbeitet hat, sondern auch weiß, dass innere Überzeugungen nicht vor Irrtümern schützen. Scholz ist heute, durch eigene Stellungswechsel, aber auch durch den Linksruck in der SPD, ein Vertreter des rechten Flügels seiner Partei.

Hinter und neben ihm aber agiert eine stramm linke Parteiführung, die aus sorgsam und unter Luftabschluss im sozialistischen Gewächshaus gezüchteten Kadern besteht. Kaum jemand hier hat jemals in einem bürgerlichen Beruf gearbeitet. Kaum jemand ist in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt mit dem Leben außerhalb der Parteiblase in Kontakt geraten. 

Was dem DFB seine Internate, in denen sensible Könner für einen Funktionärsfußball nach Lehrbuch gezüchtet werden, ist der SPD ihr Vorfeld aus Abgeordneten, Stiftungen und gesellschaftlichen Organisationen. Hier entsteht ein Nachwuchs, der felsenfeste Überzeugungen hat, nutzbare rhetorisches Werkzeuge und die Weltfremdheit einer Priesterkaste.

Mangelerscheinungen in der SPD

Dramatischer noch als bei jeder anderen der großen Parteien zeigt sich in der SPD ein Mangel an praktischer Bildung, Lebenserfahrung, Weltläufigkeit und Charisma. Wo ehemals Männer agierten, und Frauen auch, die ein Leben gezeichnet und geprägt hatte, sitzen heute Funktionäre, denen niemand einen Gebrauchtwagen abkaufen würde. 

Auch Scholz ist nur ein Schatten des letzten Helden, den die SPD hatte, ehe sie zur Kaderpartei für einen von oben gemachten neuen Weg zum Sozialismus Weg wurde. Scholz aber hält die Erinnerung wach an eine Politikergeneration, die sich nicht als "Elite" und eigene "politische Klasse" begriff, nicht Bevormundung, Betreuung und Bestrafung auf der Fahne trug und nicht nach Macht um der Macht willen strebte.

Vor diesem Hintergrund konkurrierten der im Rentenalter befindliche Scholz und der kaum jüngere Boris Pistorius um den Ruf ins Kandidatenamt. Erst nach einer Genussphase, die zwei Wochen lang währte, trat Boris Pistorius schließlich vor die Kamera und erlöste seinen Kanzler, seine Parteiführung, die wankende, schwankende Basis der Partei und die gesamte Republik. Nein, er werde nicht als Kanzlerkandidat antreten. Nein, er trete von diesem informellen Amt auch nicht zurück, denn er habe es nie angestrebt und nie innegehabt. 

Er schreckt zurück

Man kann ihm das nicht glauben, aber es könnte richtig sein. Zwar wirkt Pistorius durch seine Wortkargheit, sein altertümlich wirkendes männliches Auftreten und die Konsequenz, mit der er seine politische Weltsicht verbirgt, wie ein Kerl von altem Schrot und Korn, wie ihn das Land sich nach den Jahren der Kühnerts, Baerbocks, Neubauers und Festers herbeisehnt. Innerlich aber könnte der 64-Jährige sich aber auch gegen das Wagnis einer  Kandidatur entschieden haben, weil immer noch nicht ganz ausgeschlossen ist, dass der SPD-Kandidat am Ende Kanzler wird.

Ein Posten, den selbst ein Berufspolitiker in diesen Tagen nicht anstreben muss. Als Verteidigungsminister kommt Boris Pistorius sehr gut klar, denn alles, was klappt, schreibt er sich gut. Für den Rest macht er das fehlende Geld verantwortlich. Als Kanzler aber müsste er das fehlende Geld besorgen, möglichst ohne es anderen wegzunehmen. 

Eine ehrliche Haut

Er müsste eine Position zur höheren Schuldenbelastung künftiger Generationen finden, eine eigene Temperatur zum Baden mit Donald Trump, er müsste mit Putin telefonieren und mit einem Schlag eine Meinung zu Netanjahu haben, eine zur Frage des Grenzstreits im Chinesen Meer, eine zum Fracking vor den deutschen Küsten und eine zur Koalitionsfrage in Sachsen. 

Das ist zu viel für einen, dem es an Ehrgeiz wie an Machtwillen fehlt. Boris Pistorius ist im Herzen ein Landespolitiker, dem anzusehen ist, wie unwohl er sich auf der Bundesbühne fühlt. All die Eigenschaften hat er gar nicht, die ihm von seinen Genossen angedichtet wurden und die Medien begeistert herausposaunten, die auf der Suche nach einer Alternative zu Scholz nur eben auf ihn allein gestoßen waren. 

Ob es so war, zeigt das kommende Jahr: Wenn Pistorius nach der Wahlklatsche im Februar aufsteigt, ein Reserveheld, der auf der Bühne erscheint, um alles zum Guten zu wenden, dann hat er taktiert. Wenn nicht, ist er einfach eine ehrliche Haut, die ihre Grenzen kennt.

6 Kommentare:

  1. Kann nur bedeuten, dass die Kräfte der Finsternis den Genossen April-April zum Kanzelbunzler begehren. Aber Scherz beiseite, das entscheidet eh der Große Sanhedrin.

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  2. Da kann er noch was lernen von der Staatsmännin Baerbock, die 'traut es sich zu' und schwafelt dann auch zu allem was zusammen.

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  3. Apopo Sanhedrin. Tief, sehr tief, ist Klonovsky in meiner Wertschätzung gesunken. "Verschwörungstheoretiker" - Es leugnet, äh, bestreitet ja niemand, dass es entsprechend Bekloppte gibt,
    bis hin zu Hohl- bzw. Scheibenerdlern. Aber, listige Absprachen der Hochmögenden, deren Inhalte nicht für das gemeyne Volck bestimmt sind, in Abrede zu stellen, dazu gehört schon ein sonderbarer Geisteszustand.

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  4. Etwas Wahres ist ja dran: Dieses und jenes wird ja frech und offen verkündet. Siehe Max Frisch: Die beste Tarnung ist die blanke Wahrheit. Die glaubt keiner.

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  5. "...pflegte Kontakte zum Einheitsjugendverband der SED, trat auf einer FDJ-Veranstaltung auf, wetterte gegen den militärisch-industriellen Komplex..."

    Eine derartige Fachkraft verheizt man nicht im Nonsense-Wahlkampf einer 15%-Partei. Sie muss zu Steinmeiers Nachfolger aufgebaut werden. Nach dem salbungsvollen Redner ein echter Anpacker. Aus gleichem Stall.

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  6. Zu Anonym 1: Im Sinne des Hypothesenminimalismus könnte aber auch sein, dass der Gute ganz einfach kalte Paddeln gekriegt hat.

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