Freitag, 22. November 2024

Reserveheld Pistorius: Nachruf an der Wiege

Ein sichtlich erleichterter Boris Pistorius offenbarte seiner Partei und dem Volk, dass er als Retter der deutschen Sozialdemokratie nicht zur Verfügung steht.

Handfester Hoffnungsträger, Tatmann ohne Zauder-Gen, ein kerniger Sozialdemokrat, der von ganz unten kam und sich noch genau erinnert, wie das Leben außerhalb der zwei, drei Wohnquartiere des politischen Berlin umfasst. 

Boris Pistorius hatte sich aus dem Rathaus von Osnabrück hinübergearbeitet in die Weltpolitik. Jedermann sah ihn als einen, der noch unvollendet ist. Niemand geht diesen Weg von der sozialdemokratischen Pike bis zum Kärrneramt eines Ministers ohne Geld, Soldaten, Raketen und sonstige Waffen, wenn er nicht noch mehr vorhat.

Karrierestart von der Hardthöhe

Helmut Schmidt wurde Kanzler. Ursula von der Leyen EU-Präsidentin. Der Weg lag frei vor Boris Pistorius, seine Partei zerfleischte sich geradezu über der Frage, ob er nur Ja sagen müsse oder der amtierende Kanzler Nein und wer dann mehr beschädigt sei und welche Plakate man drucken müsse, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Der Kanzlerkandidat der Herzen schwieg und er schien die neue Aufmerksamkeit zu genießen, die ihm galt, weil das Restpersonal, über das die deutsche Sozialdemokratie noch verfügt, kaum mehr kanzlertaugliche Figuren aufzuweisen hat als ein Altenheim in Vorpommern oder ein Kindergarten im Rheinland. 

Ja, die Zeiten, als sich in SPD Männer wie Kurt Schumacher, Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt bekämpften und belauerten, sind vorüber. Auch die späteren Jahre mit Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder sind vergangen. Über den glücklosen Peer Steinbrück und den als Fliegengewichtler im Schwergewicht angetretenen Martin Schulz führten die neuen Anbau- und Aufzuchtbedingungen in der ältesten deutschen Partei direkt zu einem alternativlosen Olaf Scholz. 

Ein reuiger Sozialist

Der 66-Jährige trat als Jugendlicher in die Partei ein, war glühender Sozialist und begeisterter DDR-Besucher, er pflegte Kontakte zum Einheitsjugendverband der SED, trat auf einer FDJ-Veranstaltung auf, wetterte gegen den militärisch-industriellen Komplex und glaubte fest, dass die deutsche Teilung eine angemessene Strafe für die Ostdeutschen sei, mit der sie für den Zweiten Weltkrieg büßen müssten. 

Scholz ist damit, verglichen mit allem, was heute in der SPD-Führung sitzt, ein weltläufiger Mann, der nicht nur schon einige Jahre gearbeitet hat, sondern auch weiß, dass innere Überzeugungen nicht vor Irrtümern schützen. Scholz ist heute, durch eigene Stellungswechsel, aber auch durch den Linksruck in der SPD, ein Vertreter des rechten Flügels seiner Partei.

Hinter und neben ihm aber agiert eine stramm linke Parteiführung, die aus sorgsam und unter Luftabschluss im sozialistischen Gewächshaus gezüchteten Kadern besteht. Kaum jemand hier hat jemals in einem bürgerlichen Beruf gearbeitet. Kaum jemand ist in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt mit dem Leben außerhalb der Parteiblase in Kontakt geraten. 

Was dem DFB seine Internate, in denen sensible Könner für einen Funktionärsfußball nach Lehrbuch gezüchtet werden, ist der SPD ihr Vorfeld aus Abgeordneten, Stiftungen und gesellschaftlichen Organisationen. Hier entsteht ein Nachwuchs, der felsenfeste Überzeugungen hat, nutzbare rhetorisches Werkzeuge und die Weltfremdheit einer Priesterkaste.

Mangelerscheinungen in der SPD

Dramatischer noch als bei jeder anderen der großen Parteien zeigt sich in der SPD ein Mangel an praktischer Bildung, Lebenserfahrung, Weltläufigkeit und Charisma. Wo ehemals Männer agierten, und Frauen auch, die ein Leben gezeichnet und geprägt hatte, sitzen heute Funktionäre, denen niemand einen Gebrauchtwagen abkaufen würde. 

Auch Scholz ist nur ein Schatten des letzten Helden, den die SPD hatte, ehe sie zur Kaderpartei für einen von oben gemachten neuen Weg zum Sozialismus Weg wurde. Scholz aber hält die Erinnerung wach an eine Politikergeneration, die sich nicht als "Elite" und eigene "politische Klasse" begriff, nicht Bevormundung, Betreuung und Bestrafung auf der Fahne trug und nicht nach Macht um der Macht willen strebte.

Vor diesem Hintergrund konkurrierten der im Rentenalter befindliche Scholz und der kaum jüngere Boris Pistorius um den Ruf ins Kandidatenamt. Erst nach einer Genussphase, die zwei Wochen lang währte, trat Boris Pistorius schließlich vor die Kamera und erlöste seinen Kanzler, seine Parteiführung, die wankende, schwankende Basis der Partei und die gesamte Republik. Nein, er werde nicht als Kanzlerkandidat antreten. Nein, er trete von diesem informellen Amt auch nicht zurück, denn er habe es nie angestrebt und nie innegehabt. 

Er schreckt zurück

Man kann ihm das nicht glauben, aber es könnte richtig sein. Zwar wirkt Pistorius durch seine Wortkargheit, sein altertümlich wirkendes männliches Auftreten und die Konsequenz, mit der er seine politische Weltsicht verbirgt, wie ein Kerl von altem Schrot und Korn, wie ihn das Land sich nach den Jahren der Kühnerts, Baerbocks, Neubauers und Festers herbeisehnt. Innerlich aber könnte der 64-Jährige sich aber auch gegen das Wagnis einer  Kandidatur entschieden haben, weil immer noch nicht ganz ausgeschlossen ist, dass der SPD-Kandidat am Ende Kanzler wird.

Ein Posten, den selbst ein Berufspolitiker in diesen Tagen nicht anstreben muss. Als Verteidigungsminister kommt Boris Pistorius sehr gut klar, denn alles, was klappt, schreibt er sich gut. Für den Rest macht er das fehlende Geld verantwortlich. Als Kanzler aber müsste er das fehlende Geld besorgen, möglichst ohne es anderen wegzunehmen. 

Eine ehrliche Haut

Er müsste eine Position zur höheren Schuldenbelastung künftiger Generationen finden, eine eigene Temperatur zum Baden mit Donald Trump, er müsste mit Putin telefonieren und mit einem Schlag eine Meinung zu Netanjahu haben, eine zur Frage des Grenzstreits im Chinesen Meer, eine zum Fracking vor den deutschen Küsten und eine zur Koalitionsfrage in Sachsen. 

Das ist zu viel für einen, dem es an Ehrgeiz wie an Machtwillen fehlt. Boris Pistorius ist im Herzen ein Landespolitiker, dem anzusehen ist, wie unwohl er sich auf der Bundesbühne fühlt. All die Eigenschaften hat er gar nicht, die ihm von seinen Genossen angedichtet wurden und die Medien begeistert herausposaunten, die auf der Suche nach einer Alternative zu Scholz nur eben auf ihn allein gestoßen waren. 

Ob es so war, zeigt das kommende Jahr: Wenn Pistorius nach der Wahlklatsche im Februar aufsteigt, ein Reserveheld, der auf der Bühne erscheint, um alles zum Guten zu wenden, dann hat er taktiert. Wenn nicht, ist er einfach eine ehrliche Haut, die ihre Grenzen kennt.

Staatsparodie: Im Sorgen-Theater

Olaf Scholz ist Regisseur und Hauptdarsteller in der Tragödie, die das Staatstheater spielt. Er plant schon Teil zwei seiner Aufführung.

Kaum war die FDP endlich aus der Regierung verschwunden, verwandelte sich die bis dahin so streitsüchtige Ampel in eine wie geschmiert laufende Machtmaschine. Die Grünen versammelten sich hinter Annalena Baerbock, die hinter, vor und neben dem neuen Kanzlerkandidaten Robert Habeck steht, der mit einem SED-esken Wahlergebnis von nahezu 120 Prozent gewählt wurde. In der SPD sagte Saskia Esken alles, was zum eigenen Spitzenkandidaten zu sagen war. "Wir gehen mit Olaf Scholz in die Bundestagswahl."

Fest im Sattel

Die Regierung, schwach an Zahl der Minister und um ein Drittel der bis dahin beteiligten Parteien leichter, hatte sich endlich freigeschwommen. Was für ein einmaliger Akt an Bürokratieabbau! Nach drei Jahren gelang es nun, Gesetze gemeinsam mit der demokratischen Opposition zu beschließen, zugleich aber hässliche Zufallsmehrheiten zu vermeiden. 

Der Kanzler nutzte seine neue Position und den Umstand, dass er nun endlich fester im Sattel saß als zuvor (Elmar Theveßen), um in Russland für klare Verhältnisse zu sorgen. Putin müsse an den Verhandlungstisch, ließ er den Kreml wissen. Am besten gleich, denn im Bundestagswahlkampf würde das der lange putinfreundlichen SPD eher helfen als ein in Washington erzwungener Friedensschluss.

Ein kurzes Zwischenhoch

Das kurze Zwischenhoch aber, als Deutschland glauben zu hoffen begann, dass das Land auch einfach so weitermachen könnte, so lange die Tagesordnung des Bundestages unter strenger Kontrolle der Demokraten bleibt, es verging wie im Tiefflug. Noch war nicht ganz geklärt, ob FDP-Chef Christian Lindner das Ampel-Aus geplant oder Olaf Scholz langfristig darauf hingearbeitet hatte oder umgekehrt, da ging die deutsche Sozialdemokratie schon zu internen Glaubenskämpfen über. 

Die Basis der Partei, seit Jahren mucksmäuschenstill, grummelte erst, dann begehrte sie auf.  Bei den Grünen meldeten sich interne Kritiker der neuen, machtbewussten Parteilinie, so dass Ex-Parteichefin Claudia Roth mit dratsischen und beleidigenden Gesten reagieren musste - Meldungen sind erfolgt, rechtliche Konsequenzen stehen noch aus. In der CDU hackten Fans des Deutschland-Tickets auf dessen Gegner ein. Un dkaum einigten sich beide im Sinne der Bürger und auf deren Kosten, scherte das erste Bundesland schonaus der gemeinsamen Lösung aus. 

Zurück im Normalmodus

Das politischen Berlin ist zweifelsfrei zurück im Normalmodus. Allerdings bekämpfen sich nun nicht mehr Ampel-Partei und Ampelpartei, Regierungsfraktionen und Opposition oder künftige Koalitionäre. Sondern Laienspieler aus der gleichen Truppe untereinander. Die Staatsparodie hat die Bühne gewechselt. 

Das Sorgen-Theater an der Spree sendet auch mal aus Gotha und Brasilien. Die Botschaft aber läuft über alle Sender: So schlecht kann es dort unten nicht stehen, dass wir hier oben nicht Zeit haben, dem zahlenden Publikum ein Schauspiel zu bieten, "eigentlich nur als Parodie zu verstehen" (Dominik Pietzcker)  werden kann.

Die Wirtschaftskrise, die Rezession, die drohenden Massenentlassungen, das klaffende Haushaltsloch, der Krieg und das Klima, sie sind alle noch da. Das Ensemble aber, das vor drei Jahren antrat, von Deutschland aus die ganze Welt zu ändern, um sie zu retten, ist vor all seinen  Aufgaben abgetaucht. Bundeshaushalt? Gibt es nicht. Industriestrompreis?

Fehlanzeige. Die große "Wachtumsinitiative", die einem Land mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von immer noch 4,5 Milliarden Dollar durch eine gute Gabe von knapp 0,8 Prozent des BIP auf die Strümpfe helfen sollte? Auch nach neun Monaten noch ein Papiertiger, der am Ende zweifellos als Bettvorleger enden wird.

Nichts geht mehr

Gar nichts geht mehr in Berlin, nicht einmal jetzt, wo es für die handelnden Personen um nichts mehr geht. Alle Energie gilt der Versorgung der Getreuen, so lange die Abendsonne wärmt und die Musik spielt, geht der Stuhltanz weiter. Draußen mögen Mittelständler und Großindustrielle um die "schnellen Lösungen" betteln, die Olaf Scholz ziemlich genau vor einem Jahr versprochen hatte.

Drinnen spielen sie viel lieber am eigenen Gemächt. Einen "Kurs der Besonnenheit" nennt der Bundeskanzler das, was einer seiner Vorgänger mit "Politik der ruhigen Hand" umschrieben hatte.  Einfach auch mal ein, zwei oder drei Jahre nichts tun. Den Dingen ihren Lauf lassen und abwarten, ob wohl wirklich alles vor die Hunde geht. 

Olaf Scholz scheint die Nerven zu haben, den wachsenden Handlungsdruck stoisch zu ertragen. Ungerührt von aller Kritik steuert der Chef mit den meisten Chefsachen das Staatsschiff von Klippe zu Klippe, unerbittlich in seiner Gewissheit, an ihm werde es nicht scheitern. Seinen ersten Konkurrenten, den weitgehend rätselhaften Boris Pistorius, weitgehend rätselhaften Boris Pistorius, hat er mit einem Fingerschnippen aus dem Weg geräumt.

Scholz ist sicher, dass das Publikum ihn schon Ende Februar beauftragen wird, das unwürdige Spektakel fortzusetzen. 

Donnerstag, 21. November 2024

Mechanik der Manipulation: Einfach mal behaupten

Die Intransparenz der Plattform für Forscher macht es schwierig, es mit Sicherheit zu sagen. Aber die FAZ weiß es trotzdem.

Für den Volksverpetzer war es ein Fest. Kaum gab es die ersten Nachrichten über eine vermeintliche "Studie" von Forschern der Queensland University of Technology in Australien, dass Elon Musk seine Macht als Besitzer von X "womöglich auch während des US-Wahlkampfs ausgenutzt" haben könnte, um die Sichtbarkeit seiner Posts erhöhen zu lassen, kannte das Faktencheckerkollektiv kein Halten mehr. Siehste! Manipulation! Deshalb hat Kamala die Wahl verloren!  

Der gecheckte Fact


So las sich die Zusammenfassung der von Arbeit der Studienautoren Timothy Graham und Mark Andrejevic, über die "The Verge" zusammenfassend unter dem Titel "’X's algorithm now loves two things: Republicans and Elon Musk" berichtet hatte. Als gecheckter Fakt fiel das "möglicherweise" weg. Musk war endlich ertappt worden. In Australien war endlich gelungen, was bisher nirgendwo geschafft worden war: Im offengelegten Quellcode von X die "smoking gun" zu finden, mit der Musk die Meinungsfreiheit ermorden will. 

Eine fantastische Nachricht für alle, die bisher gezwungen waren, düster grummelnd auf Manipulationen im Algorhitmus hinzuweisen und wie Bundesklimawirtschaftsminister Robert Habeck ultimativ zu fordern, dass der bei GitHub jederzeit herunterladbare Quellcode nun aber offengelegt werden müsse. 

Dort, wo die Verschwörungstheorie gepflegt wird, dass Menschen nicht mündig sind, sondern günstigstenfalls wählen, was Taylor Swift ihnen sagt, oder schlimmstenfalls, was Musk empfiehlt, erschien die Entdeckung des "Algorithmus-Boost für Musk und andere Unterstützer der US-Republikaner" (t3n) wie ein Geschenk des Himmels. Nicht mehr die Kandidatin oder ihr fadenscheinig dünnes Politikangebot, sondern ein böser Milliardär mit seinen miesen Tricks hätte Trumps Sie dann zu verantworten.

Ein wunderschöner Tag


Ein Tag, so wunderschön, dass der Volksverpetzer schon kurze Zeit später ein komplette Kehrtwendung hinlegte. "Wir haben unseres Tweet gelöscht", hieß es, "denn wir haben die Studie vorher nicht genau gelesen." Jeder falle mal auf Fake News herein, gerade wenn sie die eigene Meinung bestätigen.

Weshalb also nicht auch wir, sagten sie sich daraufhin bei der FAZ. Lange schon schaut man auf Frankfurt neidisch nach Mainz, wo die Meisterwerkstatt für Mediale Manipulation (MMM) so Großartiges für die Demokratieerziehung des einfachen Volkes leistet. Aus nichts etwas machen und zu echten Knallern nichts, das gelingt den privaten Medienheuschrecken (ARD-Framing-Manual) tendenziell immer noch nicht so gut wie den Gemeinsinnsendern.

Lauter als die anderen


Und wenn schon zu spät zur Party, dann aber lauter als alle anderen, die unbelegte Behauptungen immerhin noch mit Fragezeichen garnieren. Aus der australischen "Studie", die tatsächlich "herausgefunden" hatte, dass Musks Engagement-Raten von vor seiner offiziellen Unterstützungserklärung von Donald Trump geringer waren als die danach, machte die FAZ "Wie Musk manipuliert".

Dabei weiß niemand, ob überhaupt. Auch die beiden australischen Forscher, hier Kronzeugen des Betruges, hatten wörtlich nur den "Verdacht" (Graham/Andrejevic) formuliert, "dass Musk den Algorithmus der Plattform optimiert hat, um die Reichweite seiner Posts im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen zu erhöhen". Einen Beweis dafür fanden sie erklärtermaßen nicht, denn "die zunehmende Intransparenz der Plattform für Forscher macht es jedoch schwierig, dies mit Sicherheit zu sagen". "Wie" Musk es gemacht haben könnte, haben sie nicht einmal herausfinden wollen.

Aber behaupten lässt es sich allemal, vor allem in der Überschrift, die bei der FAZ "Wie Musk manipuliert: Das tödliche Gift der Plattform X" lautet. Nun könnte die gesteigerte Aufmerksamkeit für Musks Posts durchaus auch dadurch begründet sein, dass er Trump offensiv unterstützt hat. Immerhin hat der nächste Präsident selbst bei X inzwischen mehr Follower als Taylor Swift.  Doch ins Konzept passt das auch vom Bundesverband der Zeitungsverleger geraunte Gerücht, die Studie liefere "nun Hinweise, dass Musk die Algorithmen auf X gezielt zugunsten seiner eigenen politischen Interessen verändert hat"
viel besser.

Mal wieder ein Gefreiter: Der Rätselmann

Die politischen Positionen von Boris Pistorius sind weitgehend unbekannt. Das macht den Wunschkandidaten großer Teile der SPD zum Menschenmagneten. Abb: Kümram, Kreide auf Acryl

Auf einmal war er da. Boris der zweite, diesmal kein Grüner, sondern einer von der SPD. Wiedereinmal die letzte Patrone, diesmal aber scharf geladen. Ein Charismat mit der Ausstrahlung eines großen Laschet. Ein Verteidigungsminister, der das wurde, weil es nach den Stöckelschuhversuchen wiedermal ein Mann machen sollte. Aufgerückt aus der Provinz, machte Boris Pistorius von Anfang an nicht viel Aufhebens um sich. Aber eine gute Figur.  

Retter und Richter 

Er soll es nun retten und richten. Während Donald Trump in den USA scharfen deutschen Widerspruch erntet für seine Entscheidung, einen Hauptmann zum Befehlshaber der Streitkräfte machen zu wollen, der gerade mal 20 Jahre im Truppendienst absolviert hat, favorisieren Teile der SPD einen Oberbefehlshaber für die deutschen Truppen, der im Gegensatz zum derzeitigen seinen Grundwehrdienst abgeleistet hat. Im politischen Berlin tönt der Ruf nach einem Gefreiten, diesmal soll es sogar ein Obergefreiter sein.

Viel mehr ist nicht bekannt über den Rätselmann aus Osnabrück, der seine Überzeugungen, Ansichten und Absichten noch besser verbirgt als die demokratische Kandidatin bei den US-Präsidentschaftswahlen. Kamala Harris startete als Wundertüte und landete als Unsichtbare. Zwischendrin hatte sie aber immerhin erkennen lassen, dass sie für ein liberales Abtreibungsrecht, niedrige Inflation, eine starke Wirtschaft und eine "strenge Migrationspolitik" (Tagesschau) hätte einstehen wollen. 

Weder tabuisieren noch dramatisieren

Von Pistorius hingegen sind smarte Sätze überliefert wie: "Wir dürfen das Thema Kriminalität von Flüchtlingen weder tabuisieren noch dramatisieren", dass er „aufgrund der Sicherheitserfordernisse ein dringendes Bedürfnis" verspüre, "auch auf Telekommunikationsdaten zuzugreifen", und Pistorius eine Identifizierungspflicht bei sozialen Medien, bestehend aus Klarnamen, Adresse und Geburtstag" begrüßen würde. Früher war der Niedersachse russlandfreundlich unterwegs, die Abschaffung von Sanktionen sollte Wladimir Putin freundlich stimmen. Nach der Annexion der Krim aber revidierte Pistorius seinen Kurs. Und ging "innerlich auf Distanz".

Aber wohin? Ist Boris Pistorius für Bürgergeld? Für mehr oder weniger? Würde er den Industriestrompreis einführen? Scholzens Wummspolitik fortführen? Die Grenzen schließen oder wieder öffnen? Ist er ein rechter Sozialdemokrat? Oder ein linker Konservativer? Ein wirtschaftsfreundlicher Politiker oder ein Sozialromantiker? Der Rätselmann, dem die ganze Liebe mindestens der halben deutschen Sozialdemokratie nachfliegt, schweigt nicht nur zur Frage, ob er denn Kanzler wollen werden würde, wenn Scholz ihn werden wollen ließe. Er ist bislang auch stumm in allen Fachfragen.

Kommunikativ wie die Sphinx

Ein Rätselmann, kommunikativ wie die Sphinx. Wird der Niedersachse, der in Habitus und Auftreten tatsächlich dem etwas kleiner gewachsenen letzten CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet ähnelt, den Sozialstaat schleifen oder ausbauen? Die Taurus liefern oder mit Putin verhandeln? Energie noch teurer machen, um das Klima weiter zu retten? Oder billiger, um die Industrie vor dem Untergang zu bewahren? Ist er bereit, die Schuldenbremse zu bremsen? Wird er die deutschen Milliardäre kräftig zu Kasse bitten? Und das 58-Euro-Ticket endlich auf eine feste Rechtsgrundlage für die kommenden Jahrzehnte stellen?

Pistorius, der vor seinem Amt als Verteidigungsminister Erfahrungen als Oberbürgermeister und Landesminister gesammelt hatte, hat dazu bisher keine Auskunft gegeben, freilich auch weil ihn niemand fragt. Doch der gelernte Jurist weiß, dass in Zeiten, in denen die Gewissheiten schwinden, die Nachfrage nach dem Ungewissen zunimmt: Nur wer niemandes Erwartungen absagt, kann für alle Hoffnung sein. 

Ein Kenner des Geschäfts

Womöglich war es kein großer Plan, doch schon seit der Mann aus Osnabrück von seinem glücklosen Bundeskanzler nach Berlin gerufen wurde, um die nach einer Serie von Pleiten und Pannen abgetretene Christine Lambrecht zu ersetzen, hat er sich zurückgehalten. 

Pistorius kennt das Geschäft: Der Sohn einer SPD-Landtagsabgeordneten hat den zweiten Bildungsweg zum Spitzenpolitiker abgeschlossen. Wie üblich mit 16 in die Partei, Jurastudium, dann persönlicher Referent eines des sozialdemokratischen Innenministers, schließlich stellvertretender Leiter des Ministerbüros, ein wenig Verwaltung, ein leitender Posten, dann Oberbürgermeister, Nachfolger des Landesministers, Bundesminister.  

Ein Kriegstüchtiger

Der 64-Jährige, jünger als der Amtsinhaber, aber noch jünger als dessen härtester Konkurrent, gilt als kompetent, weil ihm noch nie etwas danebengegangen ist. Mag sein, dass die Bundeswehr auch in seinem dritten Jahr an der Spitze - in ein paar Wochen bricht es an - nicht viel "kriegstüchtiger" (Pistorius) ist als vorher. 

Mag sein, dass eine Zeitenwende, die nach einem Jahr ein großes Fest zur Geburt des ersten neuen Hubschraubers feiert, die restliche Flotte von 61 aber erst in vier Jahren hervorgebracht haben wird, ein wenig nach Deutschlandtempo riecht. Mag sein, dass einer, 64 oder 640 gar keinen Unterschiedeiner, 64 oder 640 gar keinen Unterschied machen.

Dafür aber gilt Pistorius als unverbraucht, als Mann mit fester Hand und weichem Herzen, der deutlich mehr Geld als alle seine Vorgänger in deutlich kürzerer Zeit ausgeben kann, ohne am Schrumpfen und Altern irgendetwas ändern zu können. Kann so einer Kanzler? Warum denn aber nicht?  Die Bundeswehr ist heute doppelt so teuer wie vor 30 Jahren. Dafür aber auch nur noch halb so groß

Mittwoch, 20. November 2024

Nachsicht mit Nazis: Wie deutsche Medien vor Trump kuschen

Zwei Wochen nach seiner Wahl zum nächsten US-Präsidenten wird das Bild von Donald Trump in den deutschen Medien neu gemalt. Nur noch Meter sind es bis zum Heiligenschein.

Kein Blatt Papier passte zwischen die deutschen Medien und die demokratische Präsidentschaftskandidatin in den USA. Kamala Harris war die Hoffnung der Herzen in allen Elfenbeintürmen, je enger die Umfragen für sie wurden, umso emsiger schossen sich die Schreibmaschinengewehrstellungen auf ihren Konkurrenten ein.

Trump war nicht mehr nur "Hassprediger", "Irrer" und "Putin-Freund"; natürlich "umstritten", ein "Milliardär", "Frauenfeind", "verurteilter Straftäter" und "Rassist". Sondern auf den allerletzten Metern des Wahlkampfes avancierte er zum reinen Bösen. Hitler kam ins Spiel, Kamala Harris selbst nannte ihren Gegenkandidaten einen "Faschisten".

Die kommende Frau

Was genau die kommende Frau in den USA und für die Welt plante, blieb bis zuletzt geheimnisumwittert. Doch ihr Hinweis darauf, was Trump vorhaben würde, fiel in Deutschland auf fruchtbaren Boden. Kurz vor dem Wahltag rollte eine himmelhohe Welle an Trump-Warnungen durch das Land, von den einfallsreichen oder den angeschlossenen Abspielanstalten fantasiereich nachgewürzt als Verschwörungstheorien.

In denen agierte der düstere Elon Musk als geheimer Hintermann des nunmehr "mit absoluter Gewissheit" (Stern) dementen Trump die Strippen zog und der deutsche Milliardär Peter Thiel mit dem Hillbilly-Hinterwälder J.D.Vance schon den wahren Präsidenten installierte, der den Westen endgültig vernichten werde.

Mutige Schlagzeilen

Es waren mutige Schlagzeilen, tapfere Titelbilder, große, farbenfrohe Reportagen, die an die besten Tage von Modellbahnkeller und dem quer durch die Vereinigten Staaten seiner Vorstellungskraft reisenden Claas Relotius erinnerten. Jedoch bewirkten sie nichts.

Durch Fake News auf X, Trumps fortgesetzter Leugnung, dass seine Wahlkampfveranstaltungen kaum jemand besuchte, und die vielen Milliarden, die seine Unterstützer weniger ausgaben als die der deutschen Kandidatin, verlor Kamala Harris die Wahlen. Einmal noch tauchte die 59-Jährige anschließend auf. In einer engagierten Dankesrede machte sie klar, was Amerika und der Welt verlorengehen wird. Seitdem ist dröhnende Stille.

Kaum mehr Enthüllungen

Auch an der vordersten Front des Kampfes gegen den neuen, alten Mann im Weißen Haus. Wie katatonisch wurde dessen Triump als letzter Schritt in den Abgrund kommentiert. Danach folgte nur noch eine aufrüttelnde Enthüllung über den mutmaßlichen "Schattenpräsidenten" (Spiegel) Elon Musk und die Riege von "Verschwörungstheoretikerin, Fernsehmoderatoren und Impfgegnern", mit denen Trump sein Kabinett besetzte. 

Doch die Wortwahl verriet schon, wie mutlos die Nachhutgefechte geführt werden: Musk war vier Wochen zuvor noch als "Staatsfeind" bezeichnet worden, Robert F. Kennedy musste sich für seine Nähe zu den Grünen verantworten  und Trump selbst war ein "Faschist" (Spiegel), dem man als anständiger Mensch nicht einmal zu gratulieren hatte, wie Margarete Stokowski im ersten Schockmoment nach dem Aufwachen in einer erneut anderen Welt im Chor mit der "Frankfurter Rundschau" dekreditierte.

Der letzte "Faschist"

Es war das letzte Mal, dass der nächste US-Präsident im ehemaligen Nachrichtenmagazin mit dem Begriff bezeichnet wurde. Vier Wochen später erscheint derselbe Mann plötzlich als Hauptfigur in menschelnden Promi-Geschichten: Er isst Burger und besuchte Sportwettkämpfe. Er werde "die Raumfahrt verändern". Und aus dem Alptraum seiner zweiten Amtszeit wurde der "Tagtraum einer dritten". 

Nicht alles, was Trump anfasst, ist richtig gut. Sein Vorhaben, einen Hauptmann mit 20 Jahren Felddiensterfahrung zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu machen, lehnen deutsche Leitmedien nach wie vor ebenso vehement ablehnen, wie sie den Plan begrüßen, in Deutschland einen gelernten Obergefreiten zum obersten Kriegsherren zu machen. 

Nun nur noch ein "Clown"

Was fehlt, sind die starken Worte, die Verbalinjurien, Hitlervergleiche und "Parallelen zu Höcke" (FR). Der "Spiegel" wagt sich mit einem schüchternen "Clown" als Synonym für Trump nur noch so weit vor wie im Frühjahr, als alles noch hätte gut ausgehen können. Die vom Verfassungsschutz überwachte kommunistische "Junge Welt" reanimiert zaghaft den 2016 vom Kölner Boulevardblatt "Express" erfundenen "Horrorclown". Die wirklich schweren Geschütze Nazi, Hitler, Faschist, Rassist und Menschenfeind aber bleiben inzwischen im Depot.

Als müssten sie Strafverfahren und Hausdurchsuchungen befürchten, kuschen deutsche Medien kollektiv vor dem Mann, der noch nicht einmal im Amt ist. Und sie sind nicht allein. Walter Steinmeier, der Trump einst den Titel "Hassprediger" verliehen hatte, gratulierte artig. Auch der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz ignorierte Stokowskis Mahnung und verzichtet bei d´seinen Glückwünschen sogar auf Merkels Mahnung, Deutschland werde nur weiter mit den USA zusammenarbeiten, wenn Trump einwillige, "gemeinsame Werte wie Demokratie, Freiheit, den Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen" zu respektieren.

Vernichtungswille null

Statistisch ist die große Kehrtwende mittlerweile nachvollziehbar. Zwei Wochen nach seiner Wahl ist Trump kein "Nazi" und kein "Faschist" mehr, er ist auch nicht mehr umstritten. Selbst der Trend bei der Verwendung des Wortes "vernichten", das lange genutzt wurde, um seine Absichten zur Zerstörung der westlichen Wertegemeinschaft, des internationalen Handels und der deutsch-amerikanischen Freundschaft zu beschreiben, oszilliert auf der Nulllinie. 

Weniger Meter sind es noch bis zur Verleihung des Heiligenscheins, so scheint es, der "sehr gefährliche" (n-tv) 78-Jährige, den noch im Oktober sein hohes Alter einzuholen drohte,  noch im Oktober sein hohes Alter einzuholen drohte, war seit seiner Wahl nur noch ein einziges Mal "verurteilter Straftäter", "Frauenhasser" finden sich nun nur noch in seinem Umfeld und einzig der NDR wagte es noch, ihn ungeachtet seiner Beliebtheit bei Schwarzen und Latinos einen "Rassisten" zu nennen.

Wahlkampfstart bei der SPD: Putsch in der Schlangengrube

Die SPD-Zentrale in Berlin gilt als politische Schlangengrube. So berichtete der frühere Vorsitzende Kurt Beck glaubhaft von einer Verschwörung hinter seinem Rücken.

Die Straße rufe nach dem Mann, der fast so beliebt ist wie Robert Habeck und beinahe so unbekannt wie Kamala Harris. Die Menschen wollten nicht den, den die Parteiführung will. Sondern den anderen, diesen kernigen Kerl, der nie lange redet, aber auch nie viel sagt. Knut Kreuch, als Oberbürgermeister im thüringischen Gotha, einer Stadt, in der die deutsche Sozialdemokratie noch genau 7.468 treue Anhänger hat, ist keine mächtige Stimme in der SPD. Aber eine, die überall zu hören ist, weil der ostdeutsche Provinzpolitiker es als Erster wagte, die Axt an die Einigkeit der Partei zu legen.  

Die Wiese brennt lichterloh

Noch steht der Baum, aber die Wiese rundherum, sie brennt lichterloh. Kaum hatte Olaf Scholz Deutschland verlassen, um mit den Großkopferten der G20 in Brasilien neue, prächtige Abschlusserklärungen zu erarbeiten, trat der D-Day-Plan der FDP mit Phase zwei in Kraft: Wie es die Liberalen eigentlich für den Tag beabsichtigt gehabt haben sollen, an dem Scholz beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Budapest arglos Deutschlands freundliches Gesicht hätte zeigen sollen, machten sich nun die Parteifeinde des Kanzlers daran, den Regierungschef "aus der Ferne zu demontieren" (Spiegel). 

Alles erinnert an Lummerland, wenn die Lok "Emma" tutet. Im Willy-Brandt-Haus, einer bekannten Schlangengrube, über die der frühere Parteivorsitzende Kurt Beck Erschütterndes zu berichten hatte,  über die der frühere Parteivorsitzende Kurt Beck Erschütterndes zu berichten hatte, springen sie alle aus der Kiste.

Vor der "Wahlsieg"-Konferenz

Juso-Chef Phillip Türmer drängt SPD-Spitze noch vor der geplanten "Wahlsieg-Konferenz" (SPD) Ende des Monats zu einer Entscheidung über die Kanzlerkandidatur, die nach Angaben von Saskia Esken längst gefallen ist. Gerhard Schröder, erst neulich wieder in Gnaden aufgenommen in die deutsche Sozialdemokratie, warnt vor Demontage. Sigmar Gabriel, der Scholz nie verziehen hat, dass der seine politische Karriere nach einem Zwiegespräch mit der damals noch mächtigen Andrea Nahles kurzerhand beendete, rächt sich nach sechs Jahren, indem er Scholz den "Weiter-so"-Kanzler nennt und der aktuellen SPD-Führung vorwirft, ihr fielen nur "Beschwichtigungen und Ergebenheitsadressen" ein.     

Olaf Scholz ist verbraucht, er hat das Vertrauen verloren, er wird die SPD in eine katastrophale Niederlage führen, warnte Kreuch, den niemand in den Plan der Führung eingeweiht hatte, die FDP für das Ampel-Aus verantwortlich zu machen und Olaf Scholz  als Opfer einer Dolchstoßlegende in den Wahlkampf zu schicken.

Für und gegen alles

Dort würde der zur Zeit so angeschlagen wirkende Kanzler als SPD-Spitzenkandidat für eine moderate Sowohl-als-auch-Politik eintreten: Frieden in der Ukraine ja, aber ohne weitreichende Waffen aus Deutschland und je nach Entscheidung des künftigen US-Präsidenten mit mehr oder weniger Gebietsabtretungen. Dazu eine solide Wirtschaftspolitik, die weder den neoliberalen Ideen von Friedrich Merz noch den sozialistischen Vorstellungen von Robert Habeck folgt. Keine Anzeigen gegen mutmaßliche Beleidiger. Sichere Renten. Et cetera pp., mit Klima, Heizung, Gerechtigkeit und allem. 

Es hätte was werden können, denn so gut sind die Angebote der Konkurrenten beileibe nicht. Merz will den Boomern an die Frührente und Millionen das Bürgergeld wegnehmen. Habeck wiederum droht mit Zuversicht und engem Gürte, ein "Angebot, das den Mut hat, die Herausforderungen für unser Land ehrlich zu benennen und die richtigen Antworten darauf zu entwickeln". Aber auch nicht prinzipiell von Hausbesuchen absieht. 

Keine schlechten Chancen

Scholzens Chancen standen so schlecht nicht. Warum also lieber mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten antreten? Weshalb ohne Not den beliebtesten Politiker der Republik verschleißen? Einen Verteidigungsminister, dem die Menschen zumindest Umfragen zufolge als einem der wenigen Akteure auf der Berliner Bühne noch vertrauen? Weil er seinen Job so gut macht, dass die Bundeswehr im zweiten Jahr nach seiner Amtsübernahme "trotz 100 Milliarden Sondervermögen und der Zeitenwende des Kanzlers weiterhin Personal-, Material- und Finanzprobleme" (Tagesschau) hat?

Rational ist das nicht, doch die SPD war nie eine rationale Partei, sondern eine ihrer Funktionäre. Für die geht es bei der Frage, ob die stolze frühere Arbeiterpartei mit 13, 15 oder 18 Prozent durchs Wahlziel geht, ums blanke Überleben. 13 Prozent reichen absehbar nur noch für etwa 90 Abgeordnete, 15 retten immerhin 120 Sitze und 18 sichern immerhin mehr als 150 von derzeit mehr als 200 SPD-Parlamentarier Auskommen und Mitwirkungsmöglichkeit.

In neuer Rolle

Olaf Scholz'* Strategie, es darauf ankommen zu lassen, ob die Leute ihm seine neue Rolle des Friedensengels abnehmen, erscheint der Funktionärsbasis offenbar als zu riskant. Jetzt schon sind die Möglichkeiten der Partei, verdiente Genossen anderswo unterzubringen. 

Die süßen Kirschen sind gegessen, die schönsten Stellen vergeben. Zuletzt musste ein früherer Außenminister sich mit einem Lobbyposten in heimischen Stahlindustrie abfinden lassen - ein Ort, wo es stinkt und kracht. Ein Ort also, an dem ein moderner, welterfahrener und klimabewusster Sozialdemokrat eigentlich nicht mehr auftauchen müssen sollte.

Selbst der Nächste

Die Enttäuschung darüber, dass der Plan der Parteiführung nur noch darauf zielt, ein paar wenige funktionable Reste der Partei in die nächste kleine GroKo zu retten, sie hat existenzielle Gründe. Jeder in der SPD ist sich mit Blick auf die so oder so drohende Wahlniederlage selbst der Nächste. Und jeder entwickelt Hoffnungen, wie sie in solchen verzweifelten Situationen, abgeschirmt  von der Welt und gefangen in der eigenen Blase, unumgänglich sind. 

Den einen ist Scholz der Fels, auf dem sie auch ihre nächste Kirche bauen wollen. Den anderen erscheint Pistorius als Walther Wenck, der heranstürmen wird und das unausweichlich scheinende Schicksal im letzten Augenblick wendet.

Allen zusammen wird die Enttäuschung nicht erspart bleiben. Denn dass dieser Start in den Bundestagswahlkampf geeignet ist, die maladen Umfragezahlen hochzutreiben, dürften weder die Scholz-Fans noch die Anhänger des Boris Pistorius glauben.



Dienstag, 19. November 2024

Saskia Esken: Erlöserin im Wartestand

Saskia Esken steht für eine Sozialdemokratie, die blitzsaubere Meinungskorridore über die Schuldenbremse stellt. Den Krieg mit Russland würde die Schwäbin beenden.

Das Volk reagiert ablehnend, die eigene Partei zweifelt. Ein "Grummeln" hat der Chef der Russland-Fraktion in der SPD in der deutschen Sozialdemokratie ausgemacht, in der viele Genossen ihren Glauben an ein Wundercomeback des ungeliebten Bundeskanzlers Olaf Scholz verloren haben. "Mächtige Abgeordnete", reportiert der "Spiegel", gingen schon auf "Distanz zu Scholz".

Wie damals, als sie dem Niedersachsen bei der Wahl zum Parteivorstand die Rote Karte gezeigt hatten, tendieren auch jetzt wieder zahllose SPD-Mitglieder zur amerikanischen Lösung: Ein Kandidatenwechsel kurz vor knapp, weg mit dem Mann, der seinem Ruf als "Scholzomat" in diesen Tag wieder alle Ehre macht. Scholz wirkt kraftlos, aber arrogant. Er behauptet, alles im Griff zu haben. Jeder kann jedoch sehen, wie ihm das Haus unterm Hintern auseinanderfällt.  

Der bedauerte Tropf

Scholz wird kaum mehr gehasst oder verabscheut. Er wird bedauert und beschmunzelt wie jeder, der mit großem Aplomb startet und später vor aller Augen scheitert. "Olaf the Eagle" nennen sie ihn im politischen Berlin, garstig orientiert am berühmten Skispringer "Eddie the Eagle", einem Briten, der nie vom Schanzentisch wegkam.  Kann die SPD, älteste deutsche Partei und aus eigener Sicht bedeutsamste Kraft im Kampf gegen, mit so einem Mann als Angebot in die Bundestagswahl ziehen?

Selbst Scholz' Selbstbeschreibung als "intersektionaler Feminist" und die Solidarität, die ihm von Menschen entgegenschlägt, deren Küchen so klein sind, dass eine Einladung an Robert Habeck und sein Gefolge nicht infragekommt, machen kaum Hoffnung. Selbst die scholztreuen Medien zeigen eine nervöse Wechselsehnsucht: Scholz sei "der falsche Kandidat" und stützt damit die Einschätzung der "Süddeutschen Zeitung", die den 66-Jährigen für seine überragende "Dialektik" (SZ) lobt - im politischen Geschäft ein Todesurteil.

Mützenichs Anti-Scholz-Kampagne

Das ist dieses "Grummeln", von dem Rolf Mützenich im Rahmen seiner Anti-Scholz-Kampagne spricht. Es gleicht nicht dem kurz vor dem fliegenden Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris in den USA. Es ist viel, viel lauter. Die deutsche Sozialdemokratie steht unmittelbar vor einem Königssturz, die ersten mutigen Stimmen aus den Provinzen und wackere Widerständler von der Basis reden schon Klartext: Scholz müsse den Weg frei machen für einen anderen Kandidaten, ein letzter, ehrenvoller Dienst an der Partei, der dem von vielen favorisierten Boris Pistorius noch vor Weihnachten aufs Schild heben würde.

Die Parteiorgane lieben den Mann, der es vom Obergefreiten bis an die Spitze der Bundeswehr geschafft hat. Die Basis verehrt ihn, weil er das Müssen und Sollen, mit dem im politischen Geschäft gehandelt wird, erdiger und kerniger rüberbringt als der amtierende Kanzler. Doch Pistorius selbst mag nicht in ein weiteres Amt scheitern, in dem das Ausmaß an Problemen sich im Rahmen der vorgegebenen Regeln so gut lösen lassen wird wie ein Gordischer Knoten ohne Schwert. Der Niedersachse, mit 64 ohnehin kurz vor dem Ruhestand, hat allen Begehrlichkeiten abgesagt.

Endlich eine Frau

Viele sind enttäuscht, andere aber sehen eine Chance. Endlich könnte auch die SPD mit einer Kandidatin ins Rennen gehen - gerade den progressiven Teil in der Partei wurmt es bis heute, dass es bisher nur die CDU geschafft hat, eine Frau ins Kanzleramt zu bringen.  Infrage kommt dabei nur eine: Während Scholz sich als "Belastung für die Partei" herausgestellt hat und Pistorius seine SPD in der Stunde der größten Not im Regen stehen lässt, wäre Saskia Esken sofort bereit, die Aufgabe zu übernehmen.

In  Zeiten, in denen "Personen Parteien ziehen", wie der Landesvorsitzende der SPD in Thüringen, Andreas Bausewein, gesagt hat, spricht alles für Esken, die als kompletter Gegenentwurf zum Kurzzeitkanzler gilt. Esken, die Scholz bei der Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden wie aus dem Nichts kommend überholt hatte, ist eine Politikerin klarer Worte. 

Im allerbesten Alter

Mit 63 im besten Alter für eine volle Legislaturperiode, gibt es bei der gebürtigen Schwäbin kein Eiapopeia. Esken ist glasklar für saubere blitzsaubere Meinungskorridore, mit ihr würde über sozialdemokratische Herzensprojekte wie die Schuldenbremse keine fünf Minuten diskutiert. Ohne die SPD wäre sie nie eingeführt worden, also kann die SPD sie auch abschaffen.

Saskia Esken hat klare Vorstellungen, wie Deutschland in 50, 100 und 200 Jahren aussehen soll. Legendär ihre Beschreibung, warum das so lange von so vielen so beneidete Land im Herzen Europas heute bedauert und bemitleidet wird: Es sei schwer, offene Stellen zu besetzen, weil "wir immer weniger Menschen in Deutschland werden", sagte sie, als statt 81,7 Millionen nur noch knapp über 84 Millionen im Land lebten. 

Das soll sich ändern. Saskia Esken würde Schluss machen mit "überzogenen Maßnahmen zur Migrationsbegrenzung, mit ihr wäre Deutschlands freundliches Gesicht wieder zu sehen und der Magnetismus des Sozialsystems, immer  noch eines der besten der Welt!, würde Menschen trotz seines üblen Rufs als "Wachstumsbremse" (BR) und "kranker Mann Europas" (n-tv) anziehen. 

Verfechterin erfolgreicher Politik

Für Saskia Esken ist der "erste Migrationspakt keineswegs gescheitert, sondern erfolgreich durchgeführt worden", auch die "Regierung war sehr erfolgreich", sagt sie und setzt den Unkenrufen von Opposition und verunsicherten Leitmedien eine andere Erzählung entgegen.

Deutschland kann was! Und Deutschland kann sich was leisten! Wie die Bundesregierung die Messerterrorhysterie im Sommer mit einem neuen Verbotsgesetz beinahe rückstandslos entsorgt hat, nicht in Monaten oder Jahren, sondern binnen Tagen!, zeigt die überragende  Übersicht der SPD-Parteichefin Saskia Esken. 

Sie war die Erste, die auf dem Höhepunkt der Aufregung um vermeintliche Messeropfer erklärte, aus dem Blutbad könne man eigentlich nichts lernen, weil das Leben nun mal so sei. Sie war es auch, die die führende Rolle der verbalen Gewalt bei den Angriffen auf staatliche Verantwortungs- und Würdenträger  betonte und sich deshalb von der Hetzplattform X abmeldete.

Zurück im Reich der Hetzer

Jetzt ist ihre Partei dorthin zurückgekehrt, weil "herausfordernde Zeiten besonnene Antworten" benötigten und sich die SPD am besten dort Gehör verschaffen könne, wo "Clickbait-getriebener Empörung, misogyner Hass und Fake News" (Saskia Esken) jede Vernunft übertönen. Als Parteivorsitzende hat sie traditionell das erste Zugriffsrecht auf den Kandidatenposten. Offen ist nur, ob sie nach Gesprächen mit Familie und engsten Freunden zum Schluss kommt, dass sie Deutschland so am besten helfen könnte.

Ja, Esken ist bereit, über ihren Schatten zu springen, sie hat die Biegsamkeit, die viele deutsche Medienschaffende an Kamala Harris so schätzten und sie könnte für die SPD das werden, was die sympathische Demokratin in den USA für ihre Partei war: Hoffnungsträgerin und von innen hell leuchtende Fackel im Sturm unsicherer Zeiten. Ein Versprechen auf bessere Zeiten. Der personifizierte Aufbruch. Ein Symbol dafür, was Deutschland kann. Die Erlöserin, auf die Millionen warten.

Ein bisschen Frieden: Scholz' letzte Karte

Viel wird die SPD an ihren Plakaten von 2021 nicht verändern müssen.

Der erste Versuch, vorzufühlen, ging noch schief. Als Olaf Scholz dem Kreml kurz nach den für seine Partei verheerenden Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen öffentlich ein Gesprächsangebot machte, blitzte der Bundeskanzler bei Wladimir Putin ab. Die Berliner Bitte um einen Telefontermin lehnte Wladimir Putin eiskalt ab. Es gebe "keine gemeinsamen Themen", über die es sich zu sprechen lohne, bestellte ein Kreml-Sprecher. Scholz stand düpiert da, aber beim Moskau-Flügel der SPD hatte er Punkte gemacht.  

Vorsorge in Berlin

Und vorgesorgt: Später würde er immer sagen können, dass er es an Anstrengungen nicht habe fehlen lassen, um nach der bisher ausgebliebenen baldigen Staatspleite Russlands  Brücken zum Despoten zu bauen. Würde sich den Wind drehen, etwa nach einem Wahlsieg Donald Trumps in den USA, wäre der deutsche Kanzler nicht nur beim Liefern von Waffen an die Ukraine Letzter. Sondern auch bei Friedensverhandlungen zwischen Washington und Moskau einer, der sagen kann, er habe sich immer bemüht, Brücken zu bauen.

Als es so weit war, wartete der Sozialdemokrat nicht lange, jedenfalls kaum länger als es bis zu seinem ersten Telefonat mit dem President-elect dauerte. Eine Stunde lang sprach Scholz mit Putin, ein Tabubruch, der vier Monate zuvor noch beinahe zur EU-Exkommunikation des ungarischen Präsidenten Viktor Orbán geführt hatte. Die Kritik am Alleingang des deutschen Regierungschefs auf Abruf war  pflichtschuldig, aber leise. Polen und Finnland empörten sich, der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj zeigte sich entsetzt. 

Kritik von der Hinterbank

Doch die deutschen Parteien schickten nur ein paar Hinterbänkler, um den Alleingang des Kanzlers infrage zu stellen. Zwei Monate vor Trumps Einzug in Weiße Haus will niemand mehr auf dem falschen Fuß erwischt werden. Selbst auf dem Parteitag der Grünen, die sich seit Kriegsausbruch in Konkurrenz zur FDP als härteste Militärpartei etabliert haben, musste der weithin unbekannte Bundestagsabgeordnete Robin Wagener die Rolle des Gesprächskritikers übernehmen, während Kanzlerkandidat Robert Habeck das Thema in seiner fulminanten "Jetzt nicht kneifen"-Rede genauso weiträumig umging wie die desolate Wirtschaftslage.

Alles deutet darauf hin, dass Olaf Scholz den richtigen Riecher hatte, als er nach den ersten Fake News über ein Gespräch zwischen Putin und Trump beschloss, selbst zum Hörer zu greifen. Der Kanzler, der sich zur Europawahl erfolglos mit dem Slogan "Frieden sichern - SPD wählen" plakatieren ließ, ist bei Gerhard Schröder in die Lehre gegangen, dem er Anfang der 2000er als Generalsekretär diente. Beim Wähler hatte sich der damalige Kanzler als Isolationist beliebt gemacht, als er gegen die Bitten der amerikanischen Verbündeten und die Mehrheit der EU-Partnerländer der "militärischen Option" eine Absage erteilte. 

Mit Frieden in den Wahlkampf

Die Herzen der "Nie wieder Krieg"-Begeisterten flogen dem knorrigen Niedersachsen zu. Die bis auf 24 Prozent eingebrochenen Umfragezahlen der SPD kletterten bis zur Bundestagswahl zwei Jahre später wieder auf 34 Prozent. Am Wahltag fehlten Schröder nur Millimeter zur Wiederwahl, weil seine These, es sei der Krieg, der die "die Reform- und Dialogbereitschaft in den islamischen Ländern" blockiere, in Millionen Ohren so bequem und gemütlich geklungen hatte.

Jetzt, wo Joe Biden seinen Hinterbliebenen noch ein ganz besonderes Abschiedsgeschenk auf den Tisch gelegt hat und an der Heimatfront die ersten Schanzübungen stattfinden, steht wieder die Frage, wie die Zieldaten übermittelt werden, ohne den aus den Bundeswehr-Leaks bekannten Weg zu gehen. Medial wird die Frage danach, wer die US-Raketen nach Russland steuern wird, noch peinlich vermieden. Doch wenn Scholz Glück hat, ringt sich in den nächsten 99 Tagen doch noch jemand durch. Dann darf der Kanzler wieder hoffen.

Scholz' Umfragergebnisse sind ungleich fürchterlicher als alle, die Schröder je zu verkraften hatte. Der Krieg aber ist diesmal näher, das Bedrohungsgefühl akuter und die Friedenssehnsucht vielmals größer. Zweieinhalb Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine macht sich niemand mehr Illusionen darüber, dass Russland bald Staatsbankrott anmelden wird. Noch deutlich weniger Stimmen gehen davon aus, dass die Ukraine Russland in zwei, fünf oder 15 Jahren besiegt und aus dem eigenen Land getrieben haben wird.

Nichts in der Auslage

Der Bundeskanzler handelt angesichts der Bedrängnis, in der er mitsamt seiner Partei steckt, rational. Im Wahlkampf der kommenden drei Monate wird die SPD wenig ins Schaufenster legen können. Die wundersame Wirtschaftserholung, auf die Scholz mit Blick auf den regulären Wahltag im September 2025 gehofft hatte, wird bis Februar nicht eintreten. 

Weitere soziale Wohltaten aus leeren Kassen zu verteilen, reicht die Kraft nicht mehr. Die Karte, man habe viel erreicht und ohne die an allem Bösen schuldige FDP sei noch mehr zu machen, sticht nicht. Und auch die überstürzte Rückkehr der Kanzlerpartei zum Hassportal X ändert nichts am Fakt, dass die älteste deutsche Partei mit leeren Händen in die Wahlschlacht zieht.

Hilfe kommt aus den USA, wo Joe Biden seinem Nachfolger eine Aufgabe hinterlassen und Olaf Scholz zugleich Wahlkampfhilfe gegeben hat. Die Freigabe für den Einsatz weitreichender Raketen, von US-skeptischen Medien als "Verzweiflungstat" geframt, könnte für Europa noch wichtig werden. Gelänge es, den weitgehend festgefrorenen Konflikt im Osten der Ukraine noch einmal in Bewegung zu bringen, könnte Trump mit seinem Friedensversprechen scheitern. Und der damit weiterschwelende Krieg würde Scholz helfen, sich als konsequenter Friedensbringer zu inszenieren.

Kaum Wahlkampfmunition

Als unbeliebtester unter den chancenlosen Kanzlerkandidaten, die antreten werden, ist es dem aktuell umstrittenen Kandidaten der SPD versagt, einen Wahlkampf gegen die CDU oder die Grünen zu führen, mit denen eine Koalition nach dem 23. Februar eher wahrscheinlich als ausgeschlossen ist. Nur gegen Wagenknecht und AfD anzutreten, zeitigte zuletzt aber auch wenig Erfolg. Da der SPD zudem das Personal fehlt, einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen, sind die Alternativen rar, um Wählerinnen und Wähler anzulocken.

Dann also Frieden. Den hat Donald Trump ohnehin angedroht, den kann Scholz sowieso nicht verhindern, genauso wenig, wie er selbst den Krieg beenden kann. Olaf Scholz reiht sich deshalb ein in die Front deren, die zumindest verbal vorantreiben, was sie seit 2022 kategorisch verweigert haben.

Montag, 18. November 2024

Doku Deutschland: Grüße von der Krönungsmesse

Mit einer mitreißenden Rede hat Robert Habeck beim Grünen-Parteitag alle Herzen auf seine Seite gebracht.

Er hatte viel zu sagen, doch er machte es kurz. Die Zeit drängt, das Klima verhandelt nicht mehr und der Flieger wartet beinahe schon, der Bundesklimawirtschaftsminister Robert Habeck nach Brasilien bringen sollte. Auch dort gehen es wieder um das Schicksal der Menschheit, über das letzten Endes aber in Berlin entschieden werden wird.

Schärfe und Nachdenklichkeit

In der deutschen Hauptstadt, das hat Robert Habeck bei der ihm zu Ehren durchgeführten grünen "Krönungsmesse" (Tagesspiegel) in Wiesbaden noch einmal in aller gebotenen Schärfe und Nachdenklichkeit verdeutlicht, müssen die Weichen gestellt werden. Noch mehr Rechtspopulismus? Noch mehr Klimaschäden durch Kernkraft und Co.? Oder Heizungsgesetz, Fernwärme für alle, Rückbau der Gasnetze, reformierte Schuldenbremse und eine Zukunft für Generationen, die für alle Kredite gern geradestehen wollen?

Seit dem "einfühlsamen Werbefilm", mit dem Habeck als erster deutscher Politiker überhaupt eine Kanzlerkandidatur über die Hassplattform X ankündigte, ohne zuvor von einer Partei nominiert worden zu sein, hängen Millionen an den Lippen des 55-Jährigen, der auch bei einem Scheitern seiner eigenen Kanzlerambitionen einen Sitz am nächsten Kabinettstisch haben dürfte. Was Habeck sagt, dürfte auch dann wieder Gesetz werden und zuweilen auch bleiben.

Kontrolle ist besser

Die Überzeugungen des Familienvaters aus Schleswig-Holstein sind damit Existenzgrundlage der Nation und wegweisend für den weiteren Ablauf von Energieausstieg und Wirtschaftswende, dem Umbau zur nachhaltigen Mobilität und die Transformation der unkontrolliert wuchernden Meinungsfreiheit hin zu einer gemeinnützigen Variante unter strenger staatlicher Kontrolle durch freiwillige Hassmeldestellen und Trusted Flagger.

Umso erstaunlicher, dass der Wortlaut der Bewerbungsrede um den Kanzlerposten zwar nachzuhören, aber nicht nachzulesen ist. Die großen Medien bescheiden sich mit einer Agenturzusammenfassung, die großen Wert darauf legt, Rolle und Bedeutung eines Schwimmbadbesuches und eines Satzes aus Kindermund für die Ambitionen des Chefs von #teamhabeck hinreichend zu beleuchten.

Nicht der Tollste sein

Dass Habeck ausdrücklich klargestellt hat, "nicht der Tollste sein zu wollen, sondern "die Verantwortung anzunehmen", bleibt weitgehend unerwähnt, ebenso die Mitteilung des früheren und neuen Chefs der Grünen, dass Führungsanspruch nicht aus "persönlicher Eitelkeit, sondern aus der Objektivität der Wirklichkeit" erwachse und in ihm den Wunsch geweckt habe, "mit der Leidenschaft des Anfangs und der Orientierung, die aus der Kraft der Gesellschaft kommt, die großen Zeiten, die großen Themen unserer Zeit mit Antworten zu bearbeiten, die groß genug sind wie die Verantwortung."

Worte wie ein Weckruf, eine Rede wie ein Donnerhall, die sich nicht scheut, danach zu fragen "wie ist die Wirklichkeit"? "Was ist eigentlich los?" und "was ist die Geschichte hinter allen Geschichten, die wir erleben" (Habeck) und "warum sind gerade unsere Antworten die, die zu allem passen?"

PPQ hat die Rede von Robert Habeck von einer KI* transkribieren und in aus dem Politischen in normales Kirchentagsdeutsch übersetzen lassen, wie es auch draußen bei angezeigten Beleidigern und Menschen verstanden wird, die nicht wie Habeck ihren "Norwegerpullover lässig gegen das Sakko tauschen" (Annalena Baerbock) und trotzdem weiterhin Staatsmann bleiben können. Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

heute stehen wir hier zusammen, um über das Morgen zu sprechen - über die Zukunft, die uns noch so viele Herausforderungen bietet und doch so viele Chancen verspricht. In diesen Zeiten der Unsicherheit, in denen wir uns inmitten eines Krieges in Europa befinden und zudem eine Klimakrise und einen globalen Wandel zu vollziehen haben, ist es umso wichtiger, dass wir uns daran erinnern, was uns verbindet und wie wir gemeinsam diese Herausforderungen meistern können. Der Krieg in der Ukraine hat uns allen gezeigt, wie schnell Frieden und Sicherheit zerbrechen können. Als Bundeswirtschaftsminister habe ich klargemacht, dass Deutschland keine Kriegspartei ist, sondern eine Nation, die für Frieden, Freiheit und Demokratie einsteht. Unsere Kriegsanstrengungen sind nicht militärisch, sondern humanitär und diplomatisch. Wir haben die Ukraine nicht mit Waffen, sondern mit Unterstützung, mit Sanktionen gegen die Aggressoren und mit einem klaren Bekenntnis zu internationalem Recht unterstützt. Das Land haben wir mit Friedensenergie versorgt, als das russische Gas ausblieb, mit dem uns frühere Regierungen an den Kreml zu fesseln versucht haben. Ja, wir haben in Deutschland große Anstrengungen unternommen, um uns vom russischen Gas unabhängig zu machen. Und hier komme ich zu einem wichtigen Erfolg unserer Regierung: Die Umsetzung des Heizungsgesetzes. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber wir haben es geschafft, durch innovative Lösungen wie die Nutzung von Fernwärme aus Erdgas, nicht nur unsere Energieversorgung zu sichern, sondern auch einen wichtigen Schritt in Richtung Klimaneutralität zu setzen.

Dabei ist es uns geglückt, die Angriffe, denen die neue Regelung von Populisten ausgesetzt war, zu kontern, indem wir die Zeitschiene ein wenig verlängert haben. Diese Maßnahme zeigt, dass wir auch in schwierigen Zeiten kluge, nachhaltige Entscheidungen treffen können, denn heute glauben Umfragen zufolge etwa 90 Prozent unserer Bürgerinnen und Bürger, dass das Heizungsgesetz damals an ihrem Widerstand gescheitert ist. Doch es ist kein Geheimnis: Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Dass es innerhalb unserer inzwischen gescheiterten Koalition unterschiedliche Meinungen gab, wusste jeder. Aber Streitereien sind in einer Demokratie nicht nur normal, sondern notwendig, um die besten Lösungen zu finden, wie wir sie stets vorgeschlagen haben. Doch entgegen mancher Befürchtungen haben wir in vielen entscheidenden Fragen eine feste Geschlossenheit bewiesen. Wir haben gezeigt, dass wir in der Lage sind, auch in den schwierigen Zeiten zusammenzuhalten und gemeinsam kühn voranzuschreiten in Richtung auf ein Ziel, das manch anderer noch nicht mal sieht. Diese Geschlossenheit war bei allem Streit nicht nur im Koalitionskabinett zu finden, sie ist es bis heute auch innerhalb unserer Partei, der Grünen. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir sind vereint in unserem Ziel: eine lebenswerte Zukunft für alle zu schaffen. Wir wissen, dass wir nicht nur über die nächsten vier Jahre, sondern über die nächsten Jahrzehnte hinaus denken müssen. Wenn ich sage, wir haben heute, also sechs Wochen vor dem Jahresende, noch keinen Haushaltsplan für die kommenden zwölf Monate, dann heißt das noch lange nicht, dass wir keinen Plan zum Umbau der gesamten Gesellschaft haben, der die kommenden fünf, 15 und 25 Jahre umfasst! Lasst uns also an die Kraft des Zusammenhalts glauben, an die Fähigkeit, Dinge anzupacken, auch wenn sie schwer erscheinen. Ich möchte euch heute Mut machen, keine Angst zu haben, denn Angst lähmt, sie schließt die Türen, bevor wir überhaupt hindurchschauen können. Wir dürfen nicht zulassen, dass Angst über unsere Entscheidungen herrscht, sondern sollen mit Mut und Überzeugung vorgehen. Zusammenhalt ist unser Fundament. Wir sind keine Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, sondern Teil einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, die sich immer dann am stärksten zeigt, wenn sie füreinander einsteht. Tragt diesen Gedanken hinaus, in eure Familien, Freundeskreise und Arbeitsplätze. Seid Leuchttürme der Zuversicht. Denn manchmal reicht ein kleines Licht, um einen ganzen Raum zu erhellen. Die Zukunft mag ungewiss sein, doch sie ist offen - offen für unsere Ideen, unser Engagement und unseren Glauben daran, dass das Beste erst noch kommt. Gehen wir gemeinsam diesen Weg, furchtlos, verbunden und mit offenen Herzen. Vielen Dank!

*Fachleute warnen vor der Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI), um Lügen zu identifizieren. 

Grüner Machtanspruch: Der Staat sind wir

Aus dem Angebot "Breit, wenn ihr es seid" wurde das unverhohlen auf Führung abstellende "Der Staat sind wir".

Keine andere Partei ist so für Klima, keine setzt sich dermaßen ein für Gerechtigkeit und Sicherheit, innere wie äußere. Keine andere ist zugleich so beliebt und verhasst, keine erstattet mehr Strafanzeigen und keine bekommt mehr Achtung von der Vierten Gewalt gezollt. Erstmals haben die Grünen, früher gefürchtet für ihre zum Teil anarchischen Parteitage, auf denen Richtungskämpfe um den richtigen Weg zu Sozialismus offen ausgefochten wurden, jetzt gezeigt, dass sie nicht nur erwachsen und staatstragend geworden sind, sondern den Anspruch haben, den Staat selbst zu führen.

Der Staat sind wir

"Der Staat sind wir" hatte die Parteitagsregie nicht über die Hühne geschrieben, auf der der bis dahin nur von sich selbst ernannte Kanzlerkandidat Robert Habeck schließlich ohne Nebengeräusche zum Anwärter der gesamten Partei gekürt wurde. Doch das mitnehmende "Breit wenn ihr es seid" vom letzten Mal ist weg. Die Grünen haben das "ihr", das für die Menschen draußen im Lande stand, hinter sich gelassen. Die Habeck-Führung orientiert sich ganz an Angela Merkel, deren "Wir" immer ein "ich" meinte.

In "der Start sind wir" schwingt die eigentliche Botschaft mit: Diese Partei, in den Tagen nach dem Ampelaus mit einem Ansturm neuer Mitglieder*innen konfrontiert, ist nicht mehr machtkritisch, gegen das System und bemüht, als Korrektiv zu kapitalistischer Wirtschaftsweise und bürgerlicher Demokratie aufzutreten. Sie begnügt sich auch nicht mehr damit, ein wenig mitzubestimmen. Nein, die Grünen erheben 44 Jahre nach ihrer Gründung den Anspruch auf Führung von ganz vorn. 

Ein reinweißes Elitenprojekt

Weiß und westdeutsch: Elitenprojekt Grüne.
Die Bilder aus Wiesbaden waren erschreckend und sie sprachen Bände. Die Grünen sind heute nahezu reinweiß. Sie sind westdeutsch und sie werden dominiert von den Generationen der mitteljungen und mittelalten Altstadtbewohner, die im Glauben aufgewachsen sind, dass Deutschland eine sehr reiches, sehr schuldiges und sehr zu verabscheuendes Land ist, dessen Strafe es sein muss, den Völkern der Welt durch einen schmerzhaften Opfergang zu Energieausstieg, Klimaneutralität und Wirtschaftsrückbau und Wohlstandsverzicht zu zeigen, dass eine andere, ärmere Welt möglich ist.

Die von Robert Habeck installierte neue Parteivorsitzende Franziska Brantner zeigte nach ihrer Wahl demonstrativ die Arbeiterfaust, obwohl der seit einem Vierteljahrhundert im politischen Geschäft tätigen Politikwissenschaftlerin eine Zugehörigkeit zum Realo-Flügel der Grünen nachgesagt wird. Ihr als Gegengewicht installierter linker Kollege Felix Banaszak beschwor ein allgegenwärtiges Gefühl der Angst, gegen das nur grüne Politik helfen könne. Die Partei von Heizungsgesetz, Hausdurchsuchungen und Gaskraftwerke-Neubauprogramm werde mit "Empathie und Zuhören" der "Gasrechnung am Ende des Monats" oder auch "dem nächtlichen Nachhauseweg" den Schrecken nehmen, "um weiter Zukunft zu machen". 

Kampfansage an alle


Eine Kampfansage an alle, die den Grünen nicht zugetraut hatten, nach der Serie von Wahlniederlagen und Umfrageschlappen genau so weiterzumachen wie bisher. Vor allem in Kreisen früherer Sympathisanten herrschte vielerorts noch die Überzeugung, die inzwischen zu den Altparteien zählende frühere Alternative für Deutschland werde es kaum wagen, einen weiteren Wahlkampf mit Leerformeln wie "Machen, was zählt", "Einigkeit gegen rechts und Freiheit" oder "Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland" zu bestreiten. 

Doch genau das ist der Plan, den die neue Parteivorsitzende in groben Zügen vorstellte. "Wir brauchen Investitionen, Investitionen und nochmals mehr Investitionen", kündigte sie kommenden Generationen höhere Schuldenlasten an. Den Gürtel enger zu schnallen bringe ja nichts, "wenn die Hose schon fehlt". Brandtner sagte "Deutschland kann mehr" und sie meinte damit zweifellos mehr Schulden machen - zugleich aber gelang es der Parteitagsregie, einen Beschluss der Delegierten zur Aufhebung der Schuldenbremse zu verhindern. 

Kraft der Zuversicht

Starke Grüne, "in diesen Zeiten eine Kraft der Zuversicht", werden beides haben können: Mehr Investitionen, aber weniger Schulden. Soziale Verbesserungen für Kinder, Flüchtlinge, Menschen mit geringeren Einkommen und Entlastungen für die "hart arbeitende Mitte" (Ricarda Lang). Mehr Sicherheit. Mehr Rüstung. Mehr Klimaschutz. Mehr Empathie. Mehr Freiheit. Mehr Staat. Mehr Ordnung. Mehr Überwachung und mehr Schutz der Privatsphäre. 

Robert Habeck selbst hat auf dem Parteitag die Lösung skizziert: "Milliardäre und Superreiche, deren Vermögen einfach nur in großen Prozentzahlen weiter wächst", müssten "einen gewissen Anteil ihres Vermögens zur Verfügung stellen". Die Schulenbremse müsse so reformiert werden, dass sie die Staatsausgaben nicht mehr bremse. Die Wirtschaft wird erneuert, "indem Zukunftstechnologien im Lande gehalten werden". Habeck will Europa stärken, indem er noch mehr "Souveränitätsrechte nach Brüssel übertragen" wird. Und er verspricht günstige Energie, sobald "wir sie sauber gemacht haben".

Alles wie gehabt


Alles wie immer, alles wie gehabt. Nur in einem Punkt haben die Grünen, ausweislich der vom Parteitag aus verbreiteten Bilder mehr denn je ein im Grunde rein weißes westdeutsches Elitenprojekt, ihren Kurs radikal geändert. Galt der "Kampf gegen rechts" bis zu den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Spätsommer als zentraler Kern der politischen Glaubenslehre der in ihren frühen Jahren vom Verfassungsschutz beobachteten Partei, verzichtete die neue Führung unter Habeck konsequent auf jeden Hinweis auf die wachsenden Gefahren durch Rechte, Nazis und geheime Trump-Fans. 

Obwohl es Robert Habeck selbst gewesen war, der noch bei den EU-Wahlen im Frühjahr darauf gesetzt hatte, dass ein entschiedener Fokus auf den Kampf gegen rechts seiner Partei die Sympathien von Millionen eintragen werden, steuerte das "Elitenprojekt" (Ricarda Lang) in Wiesbaden still und heimlich um. Kein Wort fiel über die Grünen als "Anti-Rechte", über "Einigkeit gegen rechts" und die Notwendigkeit, Deutschland als demnächst "ersten klimaneutralen Wirtschaftsstandort in Europa" gegen Abwicklungspläne von Konservativen und Rechtsextremen" (Lang) zu verteidigen und "Demokratiefeinde in die Schranken zu weisen".

Anflug der Plattitüdenbomber


Das geschieht nun hinter den Kulissen, etwa indem Robert Habeck und Annalena Baerbock sich Satire, Hohn und Spott nicht mehr so einfach gefallen lassen. Vor dem Vorhang übersetzt sich das in das Angebot, "die Wirtschaft anzukurbeln, mehr für den Klimaschutz zu tun, gesellschaftliche Ungleichheit abzubauen und die Demokratie zu schützen". Die bekannten Propagandaparolen, die in Kürze wieder von ganzen Luftflotten aus Plattitüdenbombern über dem Land abgeworfen werden, sie haben den "Start" (Grüne) vom "Ihr" zum "Wir" unbeschadet überstanden.