Donnerstag, 31. Oktober 2024

Das Abfallduell: Chloé suit oder Müllmannweste

Donald Trump missbraucht das unappetitliche Müllthema, mit dem Joe Biden versucht hatte, dem lauen und laschen Wahlkampf seiner Erbin Leben einzuhauchen.

Gezielte Desinformation wird genutzt, um unsere Gesellschaft zu spalten, Hass zu verbreiten oder Geschäfte zu betreiben. Einseitige oder falsche Informationen kreieren verzerrte Weltbilder. Unsere Faktenchecks wirken dem entgegen und decken Falschinformationen, Gerüchte und Halbwahrheiten auf.  

Die Aufregung war riesig. Hat Joe Biden "Müll" gesagt? Und wen hat er gemeint? Darf ein offenbar immer noch amtierender US-Präsident die Hälfte seiner Wähler als "Abfall" bezeichnen? Und weshalb? Hat er überhaupt? Oder behauptet Fälscher das nur? Vor allem aber war in den letzten Stunden des Wahlkampfes in den USA wichtig, was das für Biden selbsternannte Nachfolgerin Kamala Harris heißt. Wenden sich die Menschen jetzt endgültig von Biden ab? Und werden ihr die Herzen nun noch mehr zufliegen?

Aufregung um Biden

Die Aufregung um Bidens vielleicht schon letzten Wahlkampfeinsatz war groß. "Der einzige Müll, den ich schwimmen sehe, sind Trumps Unterstützer", hatte Biden seinem Gegenüber in einem aufgezeichneten Videogespräch anvertraut. Selbst die mit viel Liebe angefertigte Übersetzung "der einzige Müll ist Trumps Unterstützung" (n-tv) macht es kaum besser.  Es klingt immer noch, als würde Joe Biden Trump-Wähler als "Müll" bezeichnen, nur weil es tut.

Doch das Weiße Haus betont, es handle sich um ein Missverständnis. Harris' Unterstützer konzentrieren sich auf andere Aspekte. Müll spiele auf einmal "eine überraschend große Rolle in der Schlussphase des US-Wahlkampfs" , staunt der "Spiegel". Klar sei: "Donald Trump schlachtet das unappetitliche Thema auf seine Weise aus."

Für Deutsche keine ungewohnte Tonart. Hier hatte der damalige SPD-Parteivorsitzende Wähler als "Pack" bezeichnet, der immer noch amtierende Bundespräsident legte die Nähe bestimmter Wählergruppen zu "Ratten" nahe und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehören Tiervergleiche zum Alltagsgeschäft.

Warum auch nicht. Was Joe Bidens von Kritikern in Deutschland als sein "jüngster Fehltritt" angekreidet wird, der die Demokratische Partei in Panik versetze, ist ein ganz gewöhnlicher Fall von Klartext: Transparent wie man ihn kennt macht Joe Biden wie ehemals Sigmar Gabriel keinen Hehl daraus, was er von Leuten hält, die anders glauben, anders reden, anders schreiben und anders wählen als er selbst.

Klassische Wählerbeschimpfung

Das Topos der Wählerbeschimpfung ist ein klassisches, bewährt und viel bemüht, um den Feind zu markieren und die eigenen Reihen zu schließen. Auch Biden, der den laschen, lauen Wahlkampf seiner mit aller nur denkbaren Unterstützung von Milliardären, Prominenten, Medien und Parteiestablishment gestarteten Erbin mit Sorge verfolgt hat, griff auf den letzten Metern zum letzten Mittel: Zuspitzung und Spaltung, sei für uns oder du bis gegen uns.

Wer einen letzten Beweis brauchte, dass die Methode immer noch funktioniert, bekam sie vom US-Präsidenten geliefert. Während die eigene Partei versuchte, Biden klare Aussage ein weiteres Mal auf Demenz zurückzuführen, sie zu einem harmlosen Versprecher zu erklären und zu versichern, der Präsident habe etwas anderes gemeint, griff Harris' Gegner Donald Trump das Angebot sofort auf. "Aus Müllwagen heraus" griff der Ex-Präsident Harris und Biden in einer "seltsamen Aktion" (Merkur) an. Damit versuche Trump, "die Thematik wieder zu seinen Gunsten zu drehen".

Trump auf verlorenem Posten

Bitter nötig hat der 78-Jährige das, sehen deutsche Medien seine Chancen auf das Weiße Haus doch immer weiter schwinden. Biden ruft Harris' Wähler im traditionellen Aufzug der Funktionselite ins Gefecht - schwarzer Anzug, weißes Hemd. Trump sammelt seinen Anhang im Zeichen der Müllmannweste: Der "Immobilien-Mogul mit der gestörten Impulskontrolle, ein Rassist und Sexist" (SZ) macht damit kein Hehl mehr daraus, dass es ihm egal ist, wie es aussieht, wie es auf Unbeteiligte wirkt und sogar, das nur dümmere, ungebildetere, ärmere Menschen vom Land ihn wählen. 

Der Kandidat der Republikaner ist "zu dumm zum Lügen" (Spiegel). Aber er kennt keine Scham, von der Zerstörung der gemeinsamen Wertebasis zu profitieren. Falsch ist also, dass Joe Biden einen Fehler gemacht hat, als er Trumps Wähler als "Müll" bezeichnete. Der mit allen politischen Wassern gewaschene Demokrat, seit zwei Wochen stolzer Träger der Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, hat mit klarer Kante vielmehr für klare Fronten gesorgt. 

Chloé suit oder Müllmannanzug

Jeder Amerikaner, jede Amerikanerin hat jetzt Zeit bis zum Dienstag, für sich selbst zu entscheiden, auf welcher Seite er stehen will. Dort, wo die Zukunft mit den sympathischen Zügen von Kamala Harris lächelt, zivilisiert und in stilsicher Chloé suit and einer Bluse von Anadolu? Oder dort, wo ein alter Mann im Kostüm eines Mitarbeiters der Müllabfuhr versucht, ungebildete, weiße und vom Land stammende Menschen als Wähler zu missbrauchen.

Staatskahn auf Kollissionskurs: Im Wendekreis des Wahnsinns

Nach Dutzenden von EU-Einigungen seit 2015 begegnet die Gemeinschaft dem anhaltenden Zustrom mit dem gleichen Rechtsbesteck wie es seinerzeit schon galt.

Schneller "aus dem Land bringen" (Tagesschau), Kontrolle, Ordnung, Konsequenz. Wer in einem anderen Staat der EU zuerst einreist, wer kriminell wird. Wer überhaupt. Schärfere Regeln. Härtere Maßnahmen. Ausweisungen. Abweisungen. Zurückweisungen.  

Als hätte die AfD nicht mehr nur ein Drittel der Sitze in einigen Landesparlamenten, sondern die Mehrheit in den staatstragenden Parteien übernommen, wetteifern Regierung und Opposition seit einigen Wochen um die schärfsten Verschärfungen und europarechtswidrigsten Lösungen für das, was vor einem knappen Jahrzehnt als "Zustrom" begann. Und seitdem nie mehr aufgehört hat.

Eine andere Welt schien möglich

Als vor wenigen Wochen Migration das große Thema war, vorübergehend und ohne Konsequenzen natürlich, konnte es das ungeübte Auge tatsächlich für einige Augenblicke den Eindruck bekommen, dass es etwas in Bewegung gekommen sei. Jeder Spitzenpolitiker, der vor eine Kamera trat, wollte nichts lieber tun als abschieben, rausdrängen, verschärfen und seinen Wählern härtere Regeln mit strengeren Gesetzen zu Füßen legen. 

Als Friedensangebot für ein "und dann wählt ihr mich doch wieder". Eine andere Welt schien möglich, für einen Moment lag eine Rückkehr in Zeiten in der Luft, in der Gesetze in ihrem ursprünglichen Sinn angewendet und nicht im Nachhinein entstellend neu interpretiert wurden.

"Wir schaffen das"

Zum "Wir schaffen das" der damaligen Kanzlerin gehörte ursprünglich der Plan, dass nach Krieg und Krisen überall alle wieder nach Hause gehen. Doch weder Kriege noch Krisen endeten, oder zumindest wurde in Deutschland wenig darüber bekannt. Der Syrienkrieg, er mag vorbei sein, oder nicht, wer weiß das schon und vor allem: Wer will es wissen?  Und wäre etwas zu Ende, wäre es auch gemein, jemanden nach Hause zu schicken. Nun sind sie halt da!

Neue Konflikte kamen dazu, Kriege offenbar in der Türkei, im Iran und in Somalia. Flüchtende brauchten auch gar keinen konkreten, persönlichen Grund mehr, sich nach Deutschland aufzumachen, wo offene Arme auf alle warteten. Wer kam, blieb, selbst die, deren Asylantrag abgelehnt wurde, waren dann meist schon so lange da, dass es grausam gewesen wäre, sie zurückzuschicken.

Alle wollten abschieben

Umso härter der Schock nach den Landtagswahlen in Osten, als alles anders klang. Nach neun Jahren Achselzucken bemühte sich die Bundesregierung, zumindest den Eindruck zu vermitteln, sie habe die Botschaft verstanden, die ihr Wählerinnen und Wähler seit Jahren immer verzweifelter zuzustellen versucht hatten. 

Der Kanzler wollte abschieben. Die Bundesinnenministerin war ein eingeschworener Fan von Grenzkontrollen, schon immer. Die Brüsseler Überregierung eilte nach, so schnell sie langsam konnte. Irgendwie Außenlager vielleicht, und ganz schnell, hieß es. Die Grünen, die Brandmauer zwischen Barbarei und gerechter Gesellschaft, in der jeder in dem Land lebt, das er gut findet, standen einer Lösung der Migrationskrise nicht mehr prinzipiell im Wege. 

Fünf verrückte Minuten

Aus historischer Perspektive wird es später aussehen wie fünf verrückte Minuten. Aus dem großen Wendemanöver, das die Kapitäne ankündigten, wurde ein "Sicherheitspäckchen", das private Taschenmesser verbot und bei der Gelegenheit gleich mehr staatliche Überwachung erlaubte.

Der Schutz von Bahnhöfen und Marktplätzen war weiterhin mehr gesetzgeberischer Mühe wert als der der Grenzen. Doch immerhin: Hält das Tempo an, mit dem die Führungsspitzen der demokratischen Parteien ihre Grundpositionen gewechselt zu haben vorgeben, werden sie die Rechts- und Linkspopulisten bis zum Herbst 2025 verbal überholt haben. An der Urne allerdings werden dann wohl die undemokratischen Konkurrenten vorn liegen.

Wendekreis des Wahnsinns

Der Wendekreis des Wahnsinns, in dem der Staatskahn versucht, den Wind wieder von hinten zu bekommen, er ist so groß wie ein Jahrzehnt lang. 2015 eröffnete Angela Merkel die Festspiele der offenen Arme, 2025 wird alles weiterhin so sein wie damals - abgesehen davon, dass die EU seitdem ein Dutzend grundsätzlicher Einigungen verkündet hat, die alles so beließen, wie es immer war. Stoisch kündigte die EU-Kommission gerade den nächsten neuen Gesetzentwurf zur Rückführung unrechtmäßig eingereister Migranten an. Diesmal werde man "den Rückführungsprozess wirksam straffen" und "unsere Handlungsfähigkeit verbessern". 

Aber wirklich! Nach einem Jahrzehnt mehren sich die Zeichen, dass es eines Tages zur Rückkehr zum Versprechen kommt, dass "politisch Verfolgte Asylrecht" genießen, wie es in Art 16a GG heißt. Selbst der gute Europäer Donald Tusk, der Polen von den Rechten zurückerobert hat, glaubt schon öffentlich, dass "der Staat wieder zu hundert Prozent die Kontrolle darüber zurückgewinnen muss, wer einreist".

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Schmeichelnde Schlagzeilen: Merz vor der Macht

Lars Klingbeil durfte sich seinerzeit des Applauses von allen Seiten gewiss sein.


Natürlich hassen sie ihn immer noch. Friedrich Merz, nach allem, was man heute wissen kann kommender Kanzlerkandidat der Union und wohl auch der in einem Jahr amtierende Regierungschef, ist wieder links noch richtig Mitte, er ist nicht Merkel und schon gar nicht Grün, und als wären das nicht genug Gründe, ihn rundheraus abzulehnen, hat der Mann tatsächlich schon einmal sein eigenes Geld verdient. 

Wenn es das demokratische Geschäft noch erlauben würde, wäre der Münsterländer schon als  deutsche Trump zum Richtblock geführt worden. Allein verbietet sich solche Verrohung angesichts all der Klagen über Verrohung, mit denen das politische Vakuum seit Monaten gefüllt wird.

Die Federn fliegen anders

Und wenn der Wind sich dreht, muss auch die Feder anders fliegen. So kommt den Merz, ohne selbst etwas zu tun, immer besser weg bei seinen Richtern. Der "Deutschlandtag" der Jungen Union war der vorläufige Triumph des so lange verhöhnten und verpönte Merkel-Rivalen: Merz sprach Klartext zur Rente, er ließ dabei keinen Zweifel daran, dass allein wahltaktische Gründe ihn bewegen, derzeit noch gegen eine Erhöhung des Rentenalters für alle zu plädieren.

Denn damit "nehmen wir den Sozialdemokraten jedes Potenzial gegen uns, eine infame Kampagne zu führen, die da lautet, mit der CDU und mit Merz wird es in Deutschland Rentenkürzungen geben". 

Und dann machte er allen, die jetzt noch hoffen, vom SPD-Geschenk der Rente mit 63 profitieren zu können, eine klare Ansage: Wer früher gehe, müsse akzeptieren, dass es größere Abschläge gebe. Eine Rentenkürzung für alle, die nach 45, 47 oder vielleicht sogar 50 Jahren Arbeit meinen, ein paar Jahre mehr Ruhestand seien die 14 Prozent Abschlag auf die gesetzliche Rente wert, die Vater Staat derzeit für die frühere Freiheit in Rechnung stellt.

Wunder der Verwandlung

Das Wunder der Verwandlung dieser auf offener Bühne angekündigten Rentenkürzung für Hunderttausende fand im Nachgang statt. Merz hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Bürgerinnen und Bürgern an Portemonnaie gehen wird. Wer früher geht, soll noch mehr dafür zahlen, im Gegenzug sollen die, die ohnehin länger arbeiten wollen, noch mehr dafür bekommen. 

Doch es war nicht die Abschaffung der Rente mit 63, die CDU und CSU unter Angela Merkel gemeinsam mit der SPD beschlossen hatten und die inzwischen nur noch bekommen kann, wer mindestens 65 ist. Sondern der taktische Teil der Rede, dass eine Ankündigung eines höheren Rentenalters vom einstigen und wahrscheinlich auch künftigen Koalitionspartner für eine "infame Kampagne" missbraucht werden könnte, der die Schlagzeilen bestimmte.

Sogar die SPD-Presse klatscht

"Merz gegen höheres Renteneintrittsalter" durfte der CDU-Chef sogar bei der SPD lesen, bei der "Tagesschau" ohnehin, auch die Taz feierte seinen Sieg über die Begehrlichkeiten der reiferen Jugend, und die "Morgenpost" bejubelte ein Basta Schröderschen Formats: "Merz erteilt JU Absage: Rente mit 67 bleibt – keine Kürzungen".

Ein Verlauf, der deutlich zeigt: Friedrich Merz hat die Medienmeute jetzt schon fest im Griff.  Die angekündigten Maßnahmen Kürzung der Rentenzahlung an Menschen, die vom 16. oder 18. Lebensjahr an immer gearbeitet haben, labelt der Deutschlandfunk als Schritte, "einen frühen Rentenbeginn weniger erschwinglich zu machen". Die FAZ lässt den künftigen Kanzler sagen "Wir heben das Renteneintrittsalter nicht an". Das "Handelsblatt" stellt das Vorhaben als "Rentenzusage" dar.

Schmeichelnde Schlagzeilen

Mehr Liebe zu einem, der noch nichts ist, geht kaum. Wie sonst eigentlich nur bei Politikern, die in Regierungsfunktionen amtieren, sind alle eifrig bemüht, die angekündigte Abschaffung der Rente mit 63 kleinzuschreiben. Und die Absage an das Projekt Rentenalterserhöhung, das abgesehen von der Jungen Union nur in der Zwergenpartei FDP eine Mehrheit hätte, als mutige Tat eines neuen Volksverstehers. Merz schafft damit, was Merkel stets gelang: Die Schlagzeilen schmeicheln ihm. Und der wird später immer sagen könnten, dass er doch recht früh gesagt habe.

Das Wasserstoff-Märchen: Nie war es so teuer wie morgen

Viel muss weg, damit es teurer werden kann.


Der Abriss gehörte zum großen Plan des Visionärs. Patrick Graichen, der die Strategie zum Umbau Deutschland zu einer nachhaltig abgasfeien Wirtschaft ausgetüftelt hatte, ließ sich auch von Krieg und Krisen nicht beirren. Was im Frieden gut gewesen war, würde im Krieg nur umso besser werden. Im Mai 2022, Putin marschierte beinahe noch auf Kiew, stellte der Staatssekretär im Berliner Bundesklimawirtschaftsministerium das womöglich kühnste Vorhaben der Fortschrittskoalition vor.

Das deutsche Erdgasnetz, als Verteilungsinfrastruktur mitverantwortlich für Deutschlands desaströse CO2-Bilanz, werde innerhalb der nächsten paar Jahre abgerissen, um die weitere Verwendung nachhaltig zu verhindern. Nur einige wenige Stränge könnten verbleiben, um künftig umweltfreundlichen grünen Wasserstoff zu transportieren.

Hunderttausende Kilometer Leitung

511.000 Kilometer Leitungen, davon 380.000 größeren Umfangs, stehen seitdem auf der Streichliste. Das Ganze muss raus dem Boden, weg unter den Straßen, aus den Häusern und Wohnungen, um Deutschland freizumachen. Graichen, studierter Politikwissenschaftler und ausgewiesener Visionär, wies jede Idee zurück, die Rohre doch zu belassen und das Land eines Tages mit klimaneutralem Wasserstoff zu beheizen. 

Pure Träumereien. Das Bundesklimawirtschaftsministerium habe nach dem Ende der Kernenergienutzung und dem Ausstieg aus der Kohleverstromung bereits eine Weichenstellung auf einen Verzicht auf gasförmige Energieträger vorgenommen. Ausschließlich Strom und Fernwärme würden Deutschland noch durch die Winter bringen. Die Hälfte der deutschen Haushalte sei damit aufgerufen und verpflichtet, sich neu zu orientieren. 

Handlungsweisende Strategie

Graichen musste dann zwar gehen, Verbleib bis heute ungewiss. Doch seine Strategie blieb handlungsweisend. Eine leichte zeitliche Streckung, ein klein wenig zerknirschte Reue. Und nun steigen  die Netzentgelte für alle Medienmitarbeiter überraschend stark, wo doch gerade noch deren Sinken verkündet worden war. Nur weil die Bundesnetzagentur (BNetzA) mit Rücksicht auf die letzten Gaskunden, die am Ende der anstehenden Abrissjahre noch unbelehrbar mit Erdgas heizen werden, bestimmt hatte, dass die Gasnetzbetreiber heute schon Rücklagen bilden müssen, damit es am Ende nicht so teuer wird. Jedenfalls nicht für so wenige.

Lieber sollen jetzt alle zahlen, einerseits, um ihre Erdgasheizungen durch sogenannte "klimafreundliche Varianten" zu ersetzen. Andererseits aber auch durch eine Solidaritätsabgabe für den Fall des privaten Gasausstieges, damit die verbleibenden Unbelehrbaren die dicke Rechnung für das heute noch auf einen Wert von 270 Milliarden Euro taxierte Netz nicht ganz allein tragen müssen.

Ein teurer Spaß

Denn billig wird auch dieser Rückbau nicht. Derzeit kostet die Erdverlegung eines 100 Meter langen Gasrohres in ein Haus zwischen 1.000 und 2.000 Euro, sehr viel billiger wird auch das Herausnehmen nicht, schon gar nicht in zwei, drei oder sieben Jahren. Zwischen sechs und zehn Milliarden Euro wird der Abriss der langen Strecken kosten, nicht eingerechnet sind Aufwendungen für die Errichtung des parallel dazu geplanten "Wasserstoffkernnetzes", das energieintensive Unternehmen eines Tages mit viermal teurerem grünen Wasserstoff aus erneuerbarem Strom und Afrika versorgen soll. 

Wenn sich denn herausstellt, dass grüner Strom, der heute erst etwa zehn Prozent des Energiebedarfes deckt, übrig bleibt. Und sich nach der Absage mehrere skandinavischer Partner im Süden wirklich Staaten finden, die bereit und in der Lage sind, eine Infrastruktur mit Wind- und Solarkraftwerken aufzubauen, die schneller noch größer wird als die deutsche. Und damit die notwendigen Überkapazitäten schafft, die der vom Wirkungsgrad her unterhalb eines gewöhnlichen Verbrenners angesiedelte grüne Wasserstoff braucht, um die derzeit pro Jahr importierten 1.500 Terrawattstunden Erdgas zu ersetzen.

Expedition ins Neuland

Ob das klappt, ist ungewiss. Deutschland betritt mit seinem Rückbau-Plan Neuland: Kein anderer Staat weltweit arbeitet an einer ähnlichen Strategie, selbst große Teile seiner kritischen Infrastruktur abzureißen und als Ersatz auf etwas zu setzen, was weder erprobt ist noch in ausreichender Menge verfügbar, sicher aber deutlich teurer und schon allein aufgrund der notwendigen Investitionen in neue Leitungen und Anlagen weitaus klimaschädlicher als alles, was derzeit betrieben wird.   

Fakt ist, dass alle mehr zahlen müssen, entweder viel mehr oder sehr viel mehr. Je weniger Kunden es gibt, die Gas abnehmen, desto höhere Entgelte werden fällig. Beim Wasserstoff wird es ähnlich sein: So lange die grüne Alternative rar und gefragt ist, werden die Preise nicht sinken, und je mehr Firmen gezwungen sind, umzusteigen, umso rarer und gefragter wird der hochexplosive Zauberstoff werden. 

Dazu kommen Bau- und Rückbaukosten, die zusammen eine perfekte Falle ergeben: Wer mit Gas heizt, muss zahlen. Wer auf Wärmepumpe umsteigt, zahlt genau so viel, weil der hohe Preis eines Energieträgers stets maßgeblich für den Preis der anderen ist. Wer auf Wasserstoff vertraut, legt noch etwas drauf. Und wer zurückgeht zu Kamin und Ofen, dem wird auch noch das Handwerk gelegt.

Dienstag, 29. Oktober 2024

600-Milliarden-Plan: Wie die SPD Deutschland kaputtsparen will

Der junge Maler Kümram hat der AfD-Wahlkampflokomotive Saskia Esken ein Aquarell gewidmet.
Das Gesicht des neuen Aufschwungs: Der junge Maler Kümram hat der AfD-Wahlkampflokomotive Saskia Esken ein Aquarell gewidmet.

Knauserig, geizig, mit zugeknöpften Taschen und heruntergelassener Hose, so steht sie da, die Chefin der SPD - und das in einem Moment, in dem Saskia Esken angesichts der desaströsen Umfragewerte ihrer Partei zu einem großen Befreiungsschlag hatte ausholen wollen. Die Melodie war die bekannte, weg mit der Schuldenbremse, her mit neuen Verbindlichkeiten, bis die Enkel nur noch für die Zinsen schuften.  

PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl legt den Finger in die Wunde des allzu bescheiden ausfallenden Wirtschaftsrettungsplanes der SPD-Vorsitzenden.

Zweite Geige in der Arbeiterpartei

Doch Esken, die nach dem Abgang ihres Ziehvaters Kevin Kühnert nur noch die zweite Geige in der Chefetage der Sozialdemokraten spielen darf, hatte den Text geändert. Statt einfach nur mehr Schulden zu fordern, gern als "Sondervermögen" nachhaltig lackiert, nannte sie erstmals eine Zahl: 600 Milliarden solle der sogenannte Staat an der vom Grundgesetz geforderten Schuldenbremse vorbei an neuen Krediten aufnehmen - eine Summe, für die der Steuerzahler nach den derzeitigen Zinssätzen von Bundesanleihen bis zum Jahr 2045 etwa 950 Milliarden Euro an Zinsen zahlen würde. 

Das wären Jahr für Jahr etwa 50 Milliarden zusätzlich zu den Zinsausgaben des Bundes, die sich derzeit auf eine Summe von rund 37,6 Milliarden im Jahr belaufen. Zinszahlungen machen damit derzeit etwa zehn Prozent aller Staatsausgaben aus. Eskens Vorschlag verspricht, diesen Anteil auf mehr als 20 Prozent zu verdoppeln.

Von den rekordhohen Steuereinnahmen - derzeit etwa 356,0 Milliarden Euro im Jahr - blieben dem Bund dann nachn Abzug der Zinszahlungen für laufende Ausgaben und Investitionen noch knapp 270 Milliarden. Bis Ende September 2024 hatten die Ausgaben des Bundes allerdings bereits bei 333 Milliarden gelegen. Die Finanzierungslücke von mehr als 60 Milliarden müsste mit neuen Krediten überbrückt werden, mit derselben Folge. Dadurch würden die Zinsausgaben sich noch einmal verdoppeln und auf etwa 150 bis 170 Milliarden Euro im Jahr steigen - eine untragbare Last.

Warum nur kleckern

Umso unverständlicher wirkt Saskia Eskens Forderung, jetzt "nicht zu sparen, jetzt muss investiert werden, damit wir auch in Zukunft stolz auf ‚Made in Germany‘ sein können" - und dann nicht zu klotzen, sondern wieder nur zu kleckern? 

Abgesehen von den nationalistischen Untertönen zeigt die einfache Überschlagsrechnung, dass 600 Milliarden viel zu klein gedacht sind für Eskens Forderung nach "massiven Investitionen". Sicher, vor einigen Jahren, als in Rettungspakete in der Regel noch Millionensummen gepackt wurden, wären 600 Milliarden ein nahezu unvorstellbar hoher Betrag gewesen. Gerhard Schröder rettete Firmen mit Kleckerbeträgen von manchmal nur 100 Millionen. Seine Nachfolgerin zog ganz Europa mit nur elf Milliarden Euro von der Kante zum Untergang zurück.

Milliarden statt Millionen

Doch die Zeiten haben sich geändert, aus der Million wurde die Milliarde. Angela Merkel war die erste Kanzlerin, die dauerhaft auf neun Nullen hinter der Rettungszahl setzte. Ihr Nachfolger Olaf Scholz etablierte schließlich mit dem "Sondervermögen" für die Bundeswehr die elfte Null als neuen Goldstandard für die Rettung von Sicherheit, Klima und Zukunft

Das allerdings war im Jahr 2022 - schon rein rechnerisch sind 100 Milliarden von damals durch die Inflation auf eine Kaufkraft von nur noch 60 Milliarden zusammengeschrumpft. Geld, das inzwischen kaum ausreicht, der Bundeswehr neue Stiefel, Gewehre und Kantinen zu finanzieren.

Kleingeld klein gedacht

Und nun kommt Saskia Esken mit bescheidenen 600 Milliarden für alles: Arbeitsplätze soll das Geld sichern, Firmen wettbewerbsfähig machen, Brücken sanieren, Straßen auf Vordermann bringen, die Bahn modern machen, ganze Branchen retten und den "Weg ebnen für private Investitionen, um unsere Wirtschaft zukunftssicher zu machen". Dabei werden hundert Milliarden allein für die Heizungswende gebraucht, hundert weitere für die Förderung der fossilen Dinosaurier, noch einmal hundert für die Integration. Plus hundert für Krankenhäuser, 190 für die Transformation ohne Nebenkosten und 900 für anstehende Schäden durch die Klimakatastrophe. Schon ist die Esken.-Kasse mehr als leer.

Was Deutschland braucht, ist ein großer Wurf, ein Befreiungsschlag, der nicht nur von zwölf bis Mittag wirkt. Statt der fünf Milliarden, die die Bundesregierung für ihr "Wachstumspaket" zusammengeklaubt hat, und statt der bescheidenen 600 Milliarden, die Saskia Esken gern auf die derzeitigen Staatsschulden von knapp 2.500 Milliarden Euro draufsatteln möchte, bietet die verfahrene finanzielle Situation die einzigartige Chance, richtig auszuholen und zukunftsorientiert zu denken. 

Doch lieber gleich 2.000 Milliarden

Die Löcher im Bundeshaushalt sind derzeit noch klein, verhindern aber bisher wirksam, dass eine Einigung zustande kommt. Nicht anders sähe es aus, würde sich die Ampel zu einer großen Lösung durchringen und statt Habecks 100 Milliarden oder Eskens 600 Milliarden gleich 1.000 oder besser noch 2.000 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Deutschlands Staatsverschuldung steht derzeit bei bescheidenen 62,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts, knapp über Maastricht, aber weit unter Frankreichs 97,5 Prozent oder Italien 132 Prozent. Ein kräftiger Schluck aus der Pulle würde alle Probleme lösen. Nicht nur für die Umsetzung aller Rettungs-, Transformations- und Klimapläne, sondern auch für die dann fälligen Zinszahlungen wäre genug Geld da.

Volkswagen: Spielball durchgedrehter Milliardäre

Warum baut VW nicht wieder einfache, klare Fahrzeuge wie dieses? Nur eben elektrisch? Gern auch ohne Gewinne, denn die fließen doch nur den Aktionären zu.

Wenn er etwas sagt, dann zittern die Märkte. Wenn er ein Signal gibt, dann folgen die größten Konzerne. Marcel Fratzscher, einziger deutscher Ökonom mit eigenem Verb, hatte kaum Aufsehen erregt mit seiner neuesten Analyse, dass es im Land doch letztlich sehr gut stehe, dass nur dieses elende Jammern und Klagen der Konzerne der dringend nötigen allerbesten Stimmung den Garaus mache. Da verkündete Volkswagen, der größte der ehemals weltgrößten deutschen Autokonzerne, die Schließung von drei Werken und die Entlassung zehntausender Mitarbeiter. Degrowth und Postwachstum auf dem Weg zu den Pariser Klimazielen.

Der Kanzler war sofort da

Der Kanzler war schneller zur Stelle, jemals zuvor. Er erwäge ein Entlassungsverbot, das müsse aber noch mit der EU nach abgestimmt werden. Christian Lindner ließ es im Vorfeld seines privaten Industriegipfels erkennen, dass er es ja schon lange gesagt habe. Robert Habeck, als Wirtschaftsminister nur mittelbar betroffen, war in Indien, um dringend benötigten Wasserstoff für die Zeit nach 2030 zu beschaffen.

An seiner Stelle meldete sich der neue Chef der Grünen Jugend, ein Jakob Basel, 24 und noch dabei, sich einen Namen zu machen. Der Student aus Kiel steuerte sofort den entscheidenden Punkt an: Der Fehler des einst als Produktionsstätte des "KdF-Kraftwagens"  gegründeten Unternehmens sei der viel zu späte Umstieg auf E-Autos gewesen, die nun niemand will, weil sie im Gegensatz zu Hitlers Ur-KdF-Mobil, das für volksnahe 990 Reichsmark angeboten worden war, viel zu teuer seien.

Durchgedrehte Milliardäre

Dazu komme die Ausschüttung einer Dividende an die Aktionäre und jetzt auch noch die Streichung von 10.000 Stellen. Die Ursache liege auf der Hand: "Warum sind Autofabriken eigentlich alle in der Hand von durchgedrehten Milliardären?" 

 Meinungsstark, aber am Rand des Zulässigen: Ein Fünftel der Stimmrechte liegen beim Bundesland Niedersachsen, das sich die Bezeichnung als "durchgedrehter Milliardär" keinesfalls gefallen lassen muss. Mehrere Trusted Flagger meldeten die staatsfeindliche Verleumdung des von SPD und Grünen demokratisch regierten Landes umgehend bei der zertifizierten Meldestelle "Respect!". Eine Entscheidung dort steht allerdings noch aus.

Wie aber weiter, jetzt, wo der von Marcel Fratzscher beklagte Jammer selbst das politische Berlin zu erreichen droht? Deutschlands größtes Problem, nach Ansicht des Präsidenten des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW in Berlin "seine Depression", droht zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Eben noch war "die Stimmung deutlich schlechter als die Lage" (Fratzscher) und nur unkender, nölender Pessimismus drohte "Politik und Wirtschaft zu lähmen und die Krise herbeizuführen, die man verhindern will". Mehr Positivismus. Mehr gute Laune. Mehr Vertrauen in die Regierung!

Zu erfolgreich: Das Ende des Bulli

Kaum war das raus, humpelt auf einmal Volkswagen herein, gramgebeugt und wettbewerbsuntauglich. Und droht, nach der bereits erfolgreich eingestellten Produktion des beliebten "Bulli" T6, den tausende  willige Käufer zuletzt nicht mehr bestellen konnten, gleich die ganze Produktion in drei Werken einzustellen. 

Der "Hochlauf" der elektrischen Alternative ID Buzz stockte allerdings, weil die Bundesregierung sich weigerte, einen Teil des Kaufpreises zu übernehmen. Auch das E-Umbauset für einen T6-Elektro immerhin 136 Kilometern Reichweite überzeugte nur wenige Bulli-Fans. VW hielt am Ausstiegsbeschluss fest. Bulli-Fahrer und Handwerker wechselten notgedrungen zu anderen Herstellern.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Volkswagen in den drei zur Schließung vorgesehenen Standorten keine Autos mehr herstellt. Nach den Regeln des Habeckismus können Unternehmen aufhören durchaus "erstmal aufhören zu produzieren", vor allem die, "Läden, die darauf angewiesen sind, dass die Menschen Geld ausgeben" (Habeck). Insolvenz müssen sie jedoch nicht anmelden, denn das ist erst nötig, wenn sie "mit der Arbeit ein immer größeres Minus" machen.

Tritt auf die Kostenbremse

Die Gefahr besteht bei VW aktuell nicht mehr, denn der Tritt auf die Kostenbremse wird die Absatzprobleme schnell ausgleichen: Es werden ja nicht nur die Gehälter und Löhne von 10.000 VW-Mitarbeitern gespart, sondern auch die Ausgaben für mehrere zehntausende Arbeiter und Angestellte bei Dutzenden Zulieferern hinfällig. Gute Nachrichten nicht nur für das Weltklima, sondern auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland, der sich anschickt, sich gesundzuhungern, um wieder fit für den globalen Wettbewerb zu werden.

Der Ampel sei Dank. Durch ihre konsequente Strategie, Kosten, Steuern, Abgaben und Bürokratie beständig zu steigern, haben Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner die bleierne Zeit der Merkel-Jahre, als VW zu einem Monster auf Midazolam geworden war, erfolgreich beendet. 

Endlich Fortschritt

Gerade mal drei Jahre haben die drei Fortschrittsparteien gebraucht, um Wolfburg Dampf zu machen, und das, ohne irgendetwas zu tun: Die Produktion eines Autos in Deutschland ist heute teurer als anderswo, die eine einzige Neuansiedlung - Tesla in Brandenburg - sieht sich einer von Teilen der Regierung unterstützten und befeuerten Welle von Protesten, Angriffen und Verleumdungen ausgesetzt. 

Die von einer SPD-Politikerin geführte IG Metall forderte zuletzt sieben Prozent mehr Lohn für die rund 120.000 Beschäftigten in den - damals noch - sechs großen westdeutschen Werken. Christiane Benner ist die erste Soziologin an der Spitze einer deutschen Industriegewerkschaft und sie hat die Forderung nun ergänzt - Deutschland brauc he, um die Krise abzuwenden, neue Kaufanreize für E-Autos und höhere Löhne. Als nächstes kommt nun ein "heißer Winter"

Montag, 28. Oktober 2024

Methode Trump: Georgiens gestohlene Wahl

Demonstrativ vor einer EU-Fahne: Wie US-Präsident Donald Trump 2020 will Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili die gestohlene Wahl nicht anerkennen.

Es ist die Wiederauflage der "Big Lie", deutsch "Große Lüge", jener Verschwörungserzählung des damals noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump, dem viele weitere Republikaner bis heute beistehen bei seiner Behauptung von der angeblich gestohlenen Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2020. Diesmal ist es die georgische Präsidentin Salome Surabischwili, die das von der Wahlkommission des Landes verkündete Ergebnis nicht anerkennen will.  

Die "gestohlene Wahl"

Aus dem Amt heraus hat die in Paris geborene Tochter einer nach der Februarrevolution 1917 vor der sowjetrussischen Roten Armee nach Frankreich geflohenen georgischen Adelsfamilie zu Protesten gegen das amtliche Wahlergebnis aufgerufen. 

Demonstrativ vor einer EU-Fahne stehend, sprach Surabischwili davon, dass die Demokraten in Georgien "Zeugen und Opfer einer russischen Spezialoperation" geworden seien. Der Oppositionspolitiker Nika Gwaramia zitierte Trump wörtlich, indem er von einer "gestohlenen Wahl" sprach. Die Abstimmung sei, auch diese Argumentation ist aus den USA bekannt, "nach einem komplizierten technologischen Schema gefälscht worden". Details nannte er nicht.

Hilfe kommt aus Brüssel und Straßburg: Auch die Wahlbeobachter von OSZE und EU, die die Stimmabgabe in der früheren Sowjetrepublik beaufsichtigt hatten, zweifeln die offiziell gezählten 54,8 Prozent der Wählerstimmen für die Regierungspartei Georgischen Traum an. Zögern allerdings noch damit, dem proeuropäischen Oppositionsbündnis, das offiziell auf 37,58 Prozent kam, den Wahlsieg direkt zuzusprechen. Stattdessen werden Zweifel geschürt, um der bisherigen Regierungspartei ihre komfortable Mehrheit abzusprechen.

Die Methode Trump

Die Methode Trump, bekannt aus den Monaten nach der US-Wahl 2020, sie wird in Tiflis angewendet, um das zwischen Russland und der EU  hin- und hergerissene Land nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Mit Schlagzeilen über ein "Ergebnis voller Zweifel" und Zitaten von Surabischwili, die von einer "totalen Fälschung" spricht, ohne Belege vorzulegen, besorgen selbst öffentlich-rechtliche Sender das Geschäft des Kreml. Dessen Macht wird als nahezu grenzenlos beschrieben. Putin habe den gesamten Wahltag bei EU-Aufnahmekandidaten "durchorchestriert". Das ZDF berichtet offenbar vom Hörensagen über Videos, die "zeigen, wie Wähler mehrere Zettel in die jüngst für diese Wahl eingeführten Wahlcomputer legen".

Auf gleiche Weise hatte Donald Trump vor vier Jahren versucht, Zweifel am Wahlsieg seines Gegenkandidaten Joe Biden zu wecken. Wie Surabaschwili schürte Trump ohne Belege zu liefern Spekulationen über angeblichen Wahlbetrug, die erst durch einen Faktencheck des auf Online-Lügen spezialisierten Portals Correctiv widerlegt werden konnten. Den abgewählten Präsidenten vermochte das nicht zu stoppen. 

Gefüttert mit Parolen

Über Monate fütterte er seinen Anhang daraufhin mit Parolen über die "gestohlene Wahl" und die große Lüge. Im Januar 2021 führte die Scharfmacherei schließlich zum Sturm auf das Capitol. Ein versuchter Staatsstreich Trumps, mit dem die Angreifer des Wahlverlierers den Senat und das Repräsentantenhaus an der förmlichen Bestätigung des Sieges von Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl 2020 zu hindern versuchten, um Trump verfassungswidrig zur Fortsetzung seiner vielkritisierten Präsidentschaft zu verhelfen.

Der Kapitolsturm hatte sein Vorbild in Deutschland, wo Impfgegner, Schwurbler und Quer-Anhänger im Sommer 2020 unter Führung einer Heilpraktikerin aus der Eifel versucht hatten, den Reichstag zu stürmen. Die demokratischen Kräfte aber setzten sich durch, der Staatsstreich misslang. Doch was blieb, waren Zweifel am demokratischen Verfahren: Trump hatte sich in der Wahlnacht als erster zum Wahlsieger erklärt, erst später drehten Briefwahlstimmen das Ergebnis, so dass bei den Trump-Wählern der Eindruck entstand, ihnen sei etwas weggenommen worden, was ihnen schon längst gehörte.

Früh verkündeter Sieg

Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili nutzt denselben Trick. Schon zehn Minuten nach Schließung der Wahllokale verkündete sie auf X, dass das "europäische Georgien trotz Wahlfälschungsversuchen und ohne Stimmen aus der Diaspora mit 52 Prozent der Stimmen" gewonnen habe. Nach den offiziell verkündeten Ergebnissen der staatlichen Wahlkommission waren es dann nur schmale 37 Prozent, obwohl es gleich vier Oppositionsbündnisse namens "Koalition für Wandel", "Einheit – Nationalbewegung", "Starkes Georgien" und "Für Georgien" gegeben hatte.

Wie wahrscheinlich es, dass dennoch eine von einem "Dollarmilliardär", der in "Moskau reich geworden ist" geführte Partei siegt? Zum zweiten Mal sogar schon? Surabischwili, eine Schülerin des großen Weltstrategen Zbigniew Brzeziński ("Die einzige Weltmacht") nennt großangelegte Fälschungen als Grund und ruft nun zu Protesten auf.  "Ich erkenne diese Wahl nicht an", sagte die 2018  mit der Unterstützung der Milliardärspartei Georgischer Traum ins Amt gewählte 72-Jährige. Täte sie es, sei das gleichbedeutend damit, "die russische Übernahme Georgiens anzuerkennen".

Rette uns, Erlöserin: Auf zum letzten Gefecht

Eine Woche vor der Wahl tritt Kamala Harris noch einmal als Hoffnung der Welt vor das Abonnentenvolk.

Da steht sie wieder, nach langer Einsatzpause im deutschen Medienapparat. Kamala Harris, in einem kurzen Sommer der Euphorie zur Taylor Swift der Weltpolitik ernannt. Aber dann bei einem einzigen Hit hängengeblieben: Sie ist nicht der andere Kandidat, sondern unsere Kandidatin. Deutschland steht auf die Frau mit den Wurzeln überall, nicht auf den mit der Familiengeschichte im deutschen Westen.  

Deutschland würde sie wählen

Deutschland würde sie wählen, mit großer Mehrheit und ganz egal in welches Amt. Die Amerikaner sind da zögerlicher, immer noch. Unbeeindruckt wie Thüringer von Höckes Hetze scheinen sie entschlossen, die Strafverfahren, die endlose Kette von Skandalen, die sexuellen Übergriffe von 1991 und sogar mutmaßliche Gespräche mit dem Kreml zu ignorieren. Und - zumindest zur Hälfte - dem Teufel selbst ihre Stimme zu geben.

Es gibt nicht viele Dinge auf der Welt, die die großen Meinungsmagazine in Hamburg, München und Berlin mehr zur Verzweiflung bringen. Im achten Jahr erklären sie dem Publikum nun schon, dass das Ende der Welt zweifellos kommen wird, sollte Trump noch einen einzigen Tag "an dem er Diktator werden will" (Der Spiegel) im Weißen Haus verbringt. Und je lauter das Zetern wird, desto weniger Publikum erreicht es. So wenig inzwischen sogar, dass der "Spiegel" auf die warnenden Titelbilder verzichtet, die bei früheren wichtigsten Schicksalswahlen aller Zeiten so häufig genutzt wurden wie der "Spiegel"-Schriftzug.

Noch ist nichts verloren

Verloren aber gibt niemand nichts in den Großredaktionen. So lange noch eine winzige Chance besteht, dass einer in der geschrumpften Schar der Abonnenten und Wähler der sein könnte, dessen Stimme jenseits des Atlantik den Ausschlag gibt, so lange bleibt der Überzeugungsfunk auf Sendung. Der Kampf gegen Trump wird inzwischen mit Titelbildern und Enthüllungsstorys über die Verfehlungen und bösen Pläne seines Hintermannes geführt, die wie von Zauberhand gemalt alle auf einen Schlag erscheinen. 

Den Wahlkampf aber in seiner letzten Phase bestreiten alle mit einer zweiten Welle der Kamalaphorie: Harris, seit einigen Wochen kaum mehr mit Lobeshymnen bedacht, ist wieder da. Aus der enttäuschenden Vize-Präsidentin, von der sich allenfalls "Verlieren lernen" lassen konnte (Spiegel), ist nicht mehr nur "Die Überlegene" (Spiegel) geworden. Sondern die "Erlöserin", die uns "erlösen" soll, und die "Madam President", die Amerika retten muss. 

Fragwürdige Fragezeichen

Die Fragezeichen, die hier und da verstreut werden, sehen aus wie die gekreuzten Finger hinterm Rücken, wenn die andere Hand schwört. Niemand will sich wieder so blamieren wie damals, als Trump Hillary Clinton schlug, obwohl sie eine Frau ist und alle Schlagzeilen in Deutschland dagegen sprachen.  Die "Menschen von Deutschland" hatten damals noch in letzter Sekunde mit Zeitungsanzeigen an ihre amerikanischen Freunde appelliert, den Schreihals bloß nicht zu wählen. Der "Spiegel" brachte es auf den Punkt: Trump  sei ein Totalausfall als Fortschrittsringer, ein "Louis XIV. auf einem Acid-Trip" der womöglich sogar "Deutschland zur Aufrüstung zwingen könnte" (Spiegel).

Manches ist heute anders, anderes gleich. Und die Verzweiflung, die sich in den ersten Tagen nach der Wahl 2016 in Häme, Hohn und Herrenwitzen, aber auch in blanker Wut Bahn brach, sie zeigt sich eben jetzt vorab in den Zweifeln, ob es gelingen wird, die "schrecklich mächtige Familie" aus dem Weißen Haus herauszuhalten. Zwar ist auch Harris nur "Klimaretterin a.D.", aber nur aus "wahltaktischen Gründen". Ihr "Drill, Baby, drill" ist damit deutlich umweltfreundlicher und klimaschonender als das des ehemaligen Präsidenten. 

Obamahafte Überhöhung

Dass der Deutschland zur "Aufrüstung zwingen könnte", wird nun nicht mehr befürchtet. Vielmehr befürworten alle, dass Kamala Harris es tun wird. Statt, wie die als Titelbild von der "Süddeutschen Zeitung" verwendete Kinderzeichnung und die vom "Stern" genutzte Freiheitsstatuin fürchten lassen, Klage gegen deutsche Medien einzureichen, deren obamahafte Überhöhung der armen Ersatzkandidatin so sehr karikierend auf willige deutsche Wählende der Demokratin gewirkt haben könnten, dass die dann nicht oder gar das Falsche, also den Falschen wählten.

Sonntag, 27. Oktober 2024

Isar Jesus: Der Großmeister des Hohns

Sein Humor ist auf den ersten Blick kaum erkennbar, doch für die Fans des Isar Jesus macht kein anderer bessere Witze auf Kosten der Grünen.

Er nennt sich Isar Jesus, verbreitet bierernste Robert-Habeck-Propaganda und sticht mit seinem untrüglichen Gespür für Ironie selbst unter all den zahlreichen Satireaccounts hervor, die das Portal X (ehemals Twitter) zu einer Inspiration für jeden machen, der vom staatlichen Fernsehkabarett enttäuscht ist. Dort wird mehr und mehr nach unten getreten, statt nach oben zu sticheln. 

Mit glühendem Herzen

So verhöhnt der Isar Jesus Robert Habeck.
Die Herzen vieler Akteure glühen für Regierungspolitiker, man ist hingerissen in den Redaktionen, man kann nicht anders als das eigene Talent als Spaßmacher in den Dienst der guten Sache zu stellen. Erstmals in 75 Jahren bundesdeutscher Lachgeschichte ist es die Opposition, die Hauptzielscheibe von flachen Witzen wird. Die Zuschauerzahlen schwinden zwar. Doch das Beispiel des vielfach ausgezeichneten Bundessatirikers Jan Böhmermann zeigt, dass selbst eine Vorliebe für kindliche Gossensprache und Klosprüche einen Grenzgänger des Sagbaren nicht aufhalten können, wenn er sein Visier richtig ausgerichtet hat.

Peter Colymore ist anders. Seine Art Humor kommt nicht gossig oder schenkelklatschend daher. Sie ist still, für den Uneingeweihten beinahe nicht zu erkennen. Colymore - zu Deutsch so viel wie "mehr erfahren" - ist ein Gesamtkunstwerk, das seine Wirkung aus einer Kombination von bizarren Übertreibungen zieht, die nach drei Jahren Ampelkoalition eben nicht übertrieben scheinen, sondern in einer strukturell kleinen, aber dafür festen Blase aus ideologischen Überzeugungstätern tatsächlich Glaubensinhalt sind. 

Übertreibung als Methode

"In Zeiten von Klimakrise und Ukraine-Krieg gibt es eine sehr gute Antwort für Deutschland und Europa" schreibt Colymore als sein Motto über den mit Ukrainefahne, Deutschlandflagge, Weltkugel und EU-Sternen verzierten X-Account. Natürlich: Die Antwort auf die Frage, die Satz nicht stellt, lautet #Habeck4Kanzler, ein Hinweis, den Peter Colymore in nahezu allen seinen Posts unterbringt, weil er weiß, dass ihm die Lacher damit sicher sind.

Im Stundenrhythmus geht das so. Mehr als 45.000 Posts hat Colymore seinem Helden Robert Habeck  bereits verehrt, kaum einer davon ist auf den ersten Blick strafbar oder auch nur als Hohn zu erkennen. Es ist die hohe Kunst des Satirikers, dass erst im Gesamtzusammenhang deutlich wird, wie geschickt das Mittel der satirischen Überhöhung bis ins Absurde hier verwendet wird, um den Firnis vom Heiligenstatus des Vizekanzlers zu schaben. 

Aufsicht wie in China

Colymore applaudiert Habecks Forderung, soziale Netzwerke in Deutschland zumindest ebenso hart wie in China zu beaufsichtigen. Er lobt Habecks feines Lächeln, obwohl er auf einem Werbefoto für die Ampel neben Verkehrsminister Volker Wissing stehen müsse. Er unterstützt die von den Wählern zuletzt so heftig abgestraften Grünen, indem er ihren Hinweis verbreitet, dass es dermaßen teuer werde, Deutschland wieder auf Vordermann zu bringen, dass niemand all "die Milliarden, die es dafür braucht", einsparen könne. Immer dauert es einen Moment, bis der Leser spürt, wo der humoristische Haken ist.

Der Humor von Colymore ist trockener als ein Martini-Glas im Küchenschrank. Was aber treibt den Virtuosen des leisen Witzes? Ist Peter Colymore, der "Isar Jesus", ein bezahlter Troll des grünenfeindlichen Flügels der Union? Ein russischer Einflussagent? Oder ein privater Spaßvogel, der den in der Bevölkerung derzeit so weit verbreiteten Hass auf die Grünen auf seine eigene schräge Weise auslebt? Habeck als potenziellen Kanzlerkandidaten zu feiern, während die stolze grüne Partei in mehreren Bundesländern um ihre Parlamentspräsenz zittert, ist als Methode der Verleumdung deutlich zielführender als die Behauptung, der ehemals so beliebte Politiker aus Schleswig-Holstein habe doch keine Chance.

Umgehung der neuen Hassregln

Habecks Anspruch auf die Kanzlerkandidatur wird so lächerlich gemacht, ohne dass der Verleumder fürchten muss, nach den neuen Hassregeln als staatsfeindlicher Delegitimierer verfolgt, erwischt und abgestraft zu werden. Die tiefe Bewunderung, die der Isar Jesus für Robert Habecks sogenannte  politische Visionen und seine herausragenden Leistungen als Wirtschaftsminister äußert, sie ist eine Tarnung für den Versuch, die Energiewende zu kritisieren und die von oben geplante und angeleitete große Transformation der gesamten Gesellschaft als Elitenprojekt einiger weniger Funktionäre darzustellen.

Dazu nutzt Peter Colymore alle Mittel. Er liebt nicht nur den Hashtag #habeck4kanzler, sondern auch den #SoederRücktritt und stellt damit die aktuellen Umfragewerte der CSU in Zweifel. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hingegen wird positiv hervorgehoben, unabhängig davon was sie tut und was erreicht hat. Der Stil, in dem Colymore seine Späße verbreitet, ist übertrieben emotional und appellativ: Die Posts sind vordergründig emotional aufgeladen, als würde der Autor davon ausgehen, dass Leidenschaft selbst die Realität besiegen kann. 

Kindliche Emoticons

Kindliche Emoticons tun ein übriges, das Engagement für eine bessere Zukunft zu verhohnepiepeln: Der Satiriker stellt sich als glaubensstarker, engagierter Akteur dar, der Habeck und seine Grünen für die Hoffnungsträger aller Mühsamen und Beladenen hält und mit Kritik an Populisten nicht hinter dem Berg: Immer wieder gelingt ihm das Kunststück, davor zu warnen, dass man das Land und die Zukunft nicht den Populisten überlassen dürfe, sondern Entscheidungen allein aufgrund einer tiefen Verehrung für Robert Habeck zu treffen habe. 

Die politische Agenda des Peter Colymore wird in solchen Momenten deutlich sichtbar hinter den blickdichten Schichten aus Ironie, Zynismus und Satire. Diese Verehrung, dieser blinde Glaube, der bis ins Absurde überdreht daherkommt, sie sind das ganze Gegenteil dessen als was sie zu erscheinen versuchen. Die vermeintliche Liebe, das Vergöttern vor allem der Heiligenfigur des Robert Habeck, sie speisen sich in Wirklichkeit aus einer klaren Ablehnung grüner, zukunftszugewandter Politik. 

Tarnung als Gegner der CSU

Peter Colymore, der bei X inzwischen als einer der erfolgreichsten Propagandisten gilt, die aus dem Umfeld der Grünen bezahlt werden, ist unter der Tarnung als Gegner der CSU und eingeschworener Feind vor allem von Markus Söder ein Gegner jeder grünen, sozialen und umweltbewussten Politik, die doch Deutschland so bitter braucht. Auch wenn es nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, und womöglich gerade deshalb, erscheint das besonders perfide. 

Colymore betreibt die Anbetung des mächtigsten Grünen-Politikers einer Messe, die rund um die Uhr läuft. Ein  Umstand, der jeden verständigen Beobachter an Sektenrituale erinnern wird. Und genau darauf spekuliert der Betreiber: Der Account benutzt typisch rechtsextreme Strategien, um politische Standpunkte verächtlich zu machen. Er übertreibt und überhöht, er emotionalisiert und suggeriert nach außen eine engagierte politische Beteiligung, die jeden Normalbürger nur abschrecken kann.



Uhren ohne Zeiger: Der vergebliche Kampf der EU gegen die Zeit

Seit sechs Jahren steht die Abschaffung der Zeit in der EU aus, weil sich die Mitgliedsstaaten nicht einigen können. Nun gießen Parlamentarier Öl ins Feuer der Uneinigkeit.

Sie soll weg und ist doch immer noch da. Mit nie erlahmender Energie kämpft die Gemeinschaft der 27 EU-Staaten seit nunmehr sechs Jahren mit aller Kraft gegen die alljährliche Zeitumstellung, am 19. Januar 2001 irrtümlich festgelegt in Artikel 4 der Richtlinie 2000/84/EG von Europäischem Parlaments und EU-Rates, die eine "Regelung der Sommerzeit" mit Gesetzeskraft beschlossen. Ohne die später populär werdenden gesundheitlichen Folgen der seit 1906, 1940 und dann wieder seit 1980 gebräuchlichen Umstellung der Uhren zu bedenken.

Sein letztes Geschenk

Jean-Claude Juncker, der tapsig und unglücklich agierende Vorgänger der heutigen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, hatte den 440 Millionen Europäern auf den letzten Metern seiner von Hader, Streit und zunehmendem Desinteresse an der EWU geprägten Amtszeit ein großes Geschenk machen wollen. 

Im Sommer 2018 ließ er eine Umfrage herbeizaubern, die die Sehnsucht der Europäer widerspiegelte, die Uhrenumstellung endlich zu beenden. Vor allem Deutsche beteiligten sich, trotzdem aber nahm Juncker die Abstimmung als Arbeitsauftrag. „Die Menschen wollen das, wir machen das“, sagte der greise Luxemburger, der die Bürgerinnen und Bürger eigentlich mit Hilfe einer neugegründeten EU-Armee hatte für Europa begeistern wollen. Damit aber nicht durchkam. 

Wenigstens die Zeitumstellung

Nun also wenigstens die Zeitumstellung. Hoffnungsfroh applaudierten die Gazetten. Niemand meldete Widerspruch an. Es würde schnell gehen, wenigstens diesmal, das war siecher. Doch das Warten zog sich dann doch wieder. Die Portugiesen klagten, ohne Zeitumstellung werde es bei ihnen manchmal nicht dunkel. Die Finnen schimpften, dass es bei ihnen ohne Winterzeit gar nicht mehr hell werden werde. 

Wie bei der gemeinsamen Flüchtlingslösung, der Anerkennung des venezolanischen Gegenpräsidenten, den Autozöllen und die Entwaldungsrichtlinie kam es nach Monaten nicht zu einer Einigung. Und nach Jahren immer noch nicht. Der Vorteil der EU aber zeigte sich: Es gelang den Mitgliedsstaaten, die Frage der Zeitabschaffung elegant auf die lange Bank zu schieben. Niemand marschierte in Nachbarstaaten ein. Niemand es hörte auf die Einflüsterungen derjenigen, die provokante Alleingänge forderten. Gäbe es heute schon den Konsens, dass eine Mehrheit der Staaten für alle verbindlich entscheidet und nationale Gegenstimmen nicht zählen, könnte eine Regelung morgen schon durchgreifen. Allein. Viele Staaten stellen sich dem entgegen.

Gnädiges Schweigen

Statt darüber zu klagen oder es einfach beim Schweigen über den vergeblichen Versuch einer Reform über alle Zeitzonen hinweg zu belassen, um die verkarstete, verknöcherte Struktur der EU nicht ein weiteres Mal vor aller Augen bloßzustellen, gibt es aber immer noch Interessengruppen, die es genau darauf anlegen. 

So haben nun sechs Jahre nach Junckers verpufften Abschaffungsplänen Abgeordnete des Europäischen Parlaments in einem "Brandbrief" (RND) von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gefordert, dass sie den Kampf gegen die Zeit wieder aufnehmen soll. Angeblich sei das derzeitige System veraltet, und die Abschaffung der Zeitumstellung stehe auch im Einklang mit der Verpflichtung der EU zur Vereinfachung, Verringerung unnötiger Belastungen für die Bürger und Erleichterung des täglichen Lebens in der gesamten Union.

Wer steckt dahitler?

Es fanden sich offenbar zwar nur 60 Abgeordnete aus verschiedenen Ländern und Fraktionen bereit, das Pamphlet zu unterschreiben. Doch auch diese Zahl - nicht einmal neun Prozent der insgesamt 705 Parlamentarier -  muss beunruhigen. In wessen Auftrag handeln sie? Wer steckt dahitler? Wer hat sie angestiftet? Womöglich bezahlt? Längst ist doch klar, dass sich die Mitgliedsstaaten nicht darauf einigen können, ob künftig dauerhaft Sommer- oder Winterzeit herrschen soll. Für die einen ist das eine untragbar, für die anderen das andere.

Sich in dieser Situation auf Jean-Claude Junckers Versprechen zu verweisen, dass die Zeitumstellung bereits 2019 wegfallen werde, legt die Axt an die Wurzeln des gemeinsamen Europas. Der einzige, der sich darüber die Hände reibt, sitzt zweifellos im Kreml, der die Zeitumstellung vor fünf Jahren abgeschafft hatte.

Samstag, 26. Oktober 2024

Zitate zur Zeit: Wenn Königreiche fallen

 

October and the trees are stripped bare

Of all they wear. 

What do I care? 

October and kingdoms rise

And kingdoms fall

But you go on

And on.

 

U2, October, 1981

Unregulierte Demokratie: Gefahr für die Freiheit

So sympathisch. Ein Traumschwiegersohn. Diese Empfindsamkeit, dieses tiefe Durchdringen noch der komplexesten Zusammenhänge. Seit Robert Habeck die politische Bühne betreten hat, himmeln ihn Millionen an. Kein anderer kann Unerklärliches so logisch einordnen. Niemand sonst wüsste zu begründen, warum bei allem, was eine Bundesregierung will, immer das Gegenteil herauskommt. Und bei allem, was sie zu vermeiden sucht, ganz logisch nie etwas klappen kann.  

Keiner sonst wie er

Habeck hat ganz allein, so sagen seine härtesten Anhänger, Gasspeicher gefüllt, die Erneuerbaren um plus neun raufgefördert, 20 Prozent mehr Strom aus Wind organisiert und sogar zwölf Prozent mehr aus Wasserkraft. Ein besonderes Wunder, weil er dazu nicht einmal eine einzige zusätzliche Anlage bauen musste. Keiner ist wie er, ein Kanzler, den sich jeder Mensch nur wünschen kann. 

Selten nur hat Robert Habeck bisher zu erkennen gegeben, wie die Machtmaschine unter der leutseligen Oberfläche des Bundesverständnisministers funktioniert, was ihn insgeheim antreibt und mit aller Kraft zwingt, selbst Warnsignale wie eine unübersehbar beschleunigte Alterung zu ignorieren, um sich den Traum von einer Welt nach eigenen Wünschen zu erfüllen. 

In der Rolle des Philosophen

Habeck tritt in der Rolle des Philosophen auf, zuweilen auch in der des Mutigen, der traurige Wahrheiten offen ausspricht, weil er alle abholen und mitnehmen will. Habeck würde es nie so direkt sagen, dafür ist er zu sehr Schriftsteller und Umschreiber, aber der Mann, der sich jetzt als großer Transformator sieht, hat jetzt zum ersten Mal einen Einblick in sein Inneres gegeben. 

Bei einem Auftritt beim German Council on Foreign Relations (DGAP) machte er seinem Ärger über den steifen Gegenwind Luft, der ihm und seiner Partei in den sozialen Netzwerken ins Gesicht bläst. "Politische Polemik ist demokratiegefährdend", sagte er, und dass eine "unregulierte Form von X nicht mehr akzeptabel" sei. Der Weg zu einer sauberen Online-Welt führe nur über eine "harte Auslegung des Digital Service Act", dem EU-Gesetz, dessen Umsetzung in Deutschland zuletzt den neuen Berufsstand der "vertrauenswürdigen  Hinweisgeber" (IM) hervorbrachte. China, so begründete Habeck, reguliere Online-Äußerungen seiner Bürger schließlich auch.

Vorbild China

Er verwies damit auf das Vorbild eines kommunistischen Landes, das seit einem Jahrhundert diktatorisch geführt wird. Er sagt nicht, die USA tut das nicht, der große Bruder, der die Demokratie nach Deutschland brachte. Er sagt auch nicht, Norwegen tut das nicht, das im globalen Freiheitsindex auf Platz 1 steht. Er sagt auch nicht, die Niederlande oder die Schweiz tun das nicht, die in dieser Liste vor Deutschland liegen.

Nein, China soll es sein. Für Robert Habeck ist die größte Diktatur der Welt die Blaupause, nach der er Meinungsvielfalt beschneiden und das demokratische Gespräch nach seiner Façon frisieren will.  Frankreich ist schon einen Schritt weiter. Eben konnte die Republik die ersten Verhaftungen von "Hasspostern" (Heise) durchführen. Die sieben Verhaftungen sollen nur der Auftakt zu einer längeren Welle sein. Die mutmaßlichen Meinungstäter sind 22 bis 79 Jahre alt, eine Frau ist 57.

Er kann es kaum abwarten

Wann wird es hierzulande so weit sein? Geht es nach Robert Habeck, der als Wirtschafts- und Klimaminister auch Chef der Bundesnetzagentur ist, die wiederum die Oberaufsicht über die Zulassung von sogenannten Trusted-Flaggern als privatwirtschaftlich organisierte Meldebehörden und der dazugehörigen "zertifizierten Streitbeilegungsstellen" führt, lieber heute als morgen. Der Digital Service Act, der ursprünglich dazu gedacht war, Bürger vor der Übergriffigkeit ausländischer Internet-Multis zu schützen, zwingt diese nun dazu, nicht strafbare Äußerungen im Internet zu löschen, wenn nicht alles dagegen spricht.

Um den einzelnen Post oder Kommentar geht es nicht. Das eigentliche Werkzeug, die eigentliche Waffe, ist die Rechtsunsicherheit, die dadurch geschaffen und geschürt wird, wenn Hass und Zweifel nicht definiert sind. Weiß niemand mehr, was erlaubt ist und was vielleicht schon verboten ist oder vielleicht aber morgen wird. 

Fundamentale Einschränkung

Genau hier liegt, nach dem Bundesverfassungsgericht, eine fundamentale Einschränkung dessen, was als Grundrecht konstitutiv für die Demokratie ist. Wenn Menschen gezwungen sind, darüber nachzudenken, was sie noch sagen dürfen, ohne selbst Schaden zu nehmen, ist die Meinungsfreiheit eben nicht mehr gegeben. Wer erst glaubt, er müsse vorsichtig sein bei dem , was er sagt, der ist eben nicht ein bisschen weniger, sondern gar nicht mehr frei.

Offenes Gespräch wird ersetzt durch Andeutungen, durch Codes und Feigenblätter. Die Meinungsfreiheit, sie stirbt nicht, aber sie zieht sich zurück in die kleinen Kreise, in denen auch in Diktaturen alles gesagt wird, weil man sich sicher fühlt. "Gerade, klare Menschen sind ein schönes Ziel", sang die DDR-Liedermacherin Bettina Wegner mit Blick auf autokratisch herrschende Genossen, "Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel". Genau die aber sprießen heute aus dem Boden von Habecks Meinungsschutzregeln. Verkrümmte Untertanen, die sich rückversichern müssen, was noch erlaubt ist.

Eine neue Überwachungsindustrie

Niemand weiß, wer die EU, die Bundesregierung, Parteien oder den Gesetzgeber ermächtigt hat, sich die Kontrolle über Denken und Glauben der Bürgerinnen und Bürger anzumaßen. Fakt ist;: Sie haben eine Behörde, die ansonsten die Fairness aus den Strom-, Gas- und Telekommunikationsmärkten überwacht, beauftragt, anonym agierende private Organisationen zu ermächtigen, auch von Art 5 Grundgesetz geschützte Meinungen als Verdachtsfälle für Meinungsverstöße an die Plattform-Betreiber melden. Nach einer nur Politkern schlüssig erscheinenden Logik: Werden sie nur dort gemeldet, dann sind sie wohl zweifelsfrei auch nach der Prüfung der privaten Meinungswächter nicht strafbar, denn wären sie es, müssten sie bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werden.

Gemeldet wird also, was nicht strafbar ist und also zulässig. Mit Absicht. Es geht um die Verengung der Räume und die Verbreitung von Angst und Unsicherheit, mithin um eine zielgerichtete Zersetzung der in Sonntagsreden viel gepriesenen offenen Gesellschaft von oben. 

Wenigstens Kommunikation ohne Widerspruch

Wenn schon die eigene Politik nicht widerspruchsfrei sein kann, sondern aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung nur das ganze Gegenteil, soll wenigstens die Kommunikation ohne Widerspruch bleiben. Es ist der große, totalitäre Traum von der "Hygiene im Äther", wie sie Karl-Eduard von Schnitzler nannte. 

Ziel ist eine Gesellschaft, in der Anhänger eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten, von einer Partei mit 33 Millionen Mitgliedern ins Rennen geschickt, ihren Favoriten nu noch heimlich loben können sollen dürfen. Wo Teilnehmer an Veranstaltungen oder Demonstrationen von womöglich bald verfassungsfeindlichen Parteien fürchten müssen, fotografiert, erfasst und mit beruflichen Konsequenzen konfrontiert zu werden.

Totalitarismus im Plauderton

Das sind die Absichten, die Robert Habeck im Plauderton verkündet, weil er weiß, dass seine Kabinettskollegen das ebenso sehen. Dass nur noch eine kleine Minderheit den Regierungsparteien dorthin folgen will, wo sie die Gesellschaft hinschieben wollen, führen Habeck, Faeser, Lauterbach und die anderen Propagandisten der Meinungskontrolle nicht auf eigene Fehler und eine von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten Politik zurück. Sondern auf den Gegenwind zurück, der ihn von Populisten, Rechtsextremisten und Putin-Trollen entgegenweht. 

Eine Reaktion sind Habecks Angriffen auf die Meinungsfreiheit. Die autoritäre Sehnsucht nach einem Durchregieren wie in China zeigt den Mann, der in der Öffentlichkeit am liebsten als verständnisvoller und treusorgender Vater des ganzen Volkes auftritt, als autoritären Geist, der bereit wäre, die Meinungsfreiheit für den Sieg über seine Kritiker und für den eigenen Machterhalt zu opfern.