Am Spelunkersee in Sachsen haben Unbekannte vor Wochen provokativ einen sogenannten "Grabstein" für die angeblich bedrohte Meinungsfreiheit aufgestellt. Die Ermittlungen zur Tätersuche laufen. |
Die Reaktionen auf die Versuche der Europäischen Kommission, Meinungsäußerungen unter dem Vorwand einzuschränken, es handele sich um "Hass" oder "Hetze", die in Europa keinen Platz hätten und deshalb mit Toleranz und Respekt bekämpft werden müssten, haben für viel Verständnis gesorgt. Niemand wollte Mitgefühl für das Bedürfnis zeigen, das Recht auf freie Meinungsäußerung auch für wertlose, unbegründete oder emotionale Aussagen zu missbrauchen.
Doch sollte Sympathie an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, ein Grundrecht wertzuschätzen? Sind es nicht nur Worte, die hier benutzt werden, um Aussagen zu treffen, die letztlich verletzen können, aber keine Knochen brechen, keine Schädel spalten und keine Bomben fallen lassen?
PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl denkt neu über alte Werte nach, die dringend renoviert werden müssen
Svenja Prantl findet klare Worte. |
Der Fortschritt aber marschiert, er hat die düstere Realität einer selbstverantwortlichen Gesellschaft ergänzt und erweitert zu einer, die nach oben schaut und erwartungsfroh der Entscheidung von Regierenden und Verfassungsschützenden darüber harrt, welche Bemerkung welche Gruppe, welche Religion, welche Abstammung und innere Überzeugung von biologischen Tatsachen beleidigen, verstören oder zu extremistischer Gewalt aufstacheln könnte. Meinungsfreie Äußerungen bringen Unruhe, Unruhe bringt Unsicherheit, Kontrolle entgleitet. Vertrauen schwindet.
Soldaten sind Mörder
Es mag einem widersprüchlich vorkommen, dass diese unsere Meinungsfreiheit es erlaubt, mit Pauschalurteilen wie "Soldaten sind Mörder" hausieren zu gehen oder Individualbeleidigungen wie "Spinner", "Depp" und "Leugner" konkret bezogen auf einzelne Personen verbreiten zu dürfen. Nicht Ansichten wie "der Islam gehört nicht zu Deutschland" oder "Straftäter haben häufig Wurzeln". Ursache ist aber hier eine Rechtssprechung aus den Gründerzeiten des erweiterten Meinungsfreiheitsschutzes: Das Bundesverfassungsgericht hatte 1995 geurteilt, dass eine Beleidigung strafbar sei, wenn damit eindeutig ein einzelner Mensch oder eine ausreichend konkret umrissene Gruppe herabgesetzt werde. Um beleidigend zu wirken, muss die Beleidigung nicht nur gezielt sein, sie muss ihren Adressaten auch treffen - eine Faust aus Luft, die in dieselbe schlägt, tut das nicht.
Seitdem allerdings haben alle Bundesregierungen emsig daran gearbeitet, Opfer zu entindividualisieren und Opfergruppen anzuerkennen, die sich selbst als solche sehen. Identitätsgemeinschaften, von denen die Richter vor 30 Jahren noch nichts wissen konnten, boomen heute. Beleidigungen verlagern sich damit regelmäßig vom Bereich des persönlichen Grolls in den Bereich des kollektiven Unmuts, für den der Staat sich zuständig fühlt. Beleidigung, Mobbing und Hass, die ehemals achselzuckend als unschöne Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Lebens akzeptiert worden waren, sind nun Verbrechen, um deren Bekämpfung sich Polizei, Staatsanwaltschaften, spezielle Ermittlergruppen, staatliche finanzierte Hasshüter und sogar Geheimdienste kümmern.
Gefühl für Gruppenbeleidigungen
Eine Moderne, in der mancher die freie Meinungsäußerung bedroht sieht. Wenn man nicht mehr wisse, was man noch sagen dürfe, führe das zweifellos zu einer Angst davor, auszusprechen, was man denke, wenn dann argumentiert. Die Meinungsfreiheit sei dann nicht mehr frei, sondern von Furcht begleitet, dass eine zufällige Bemerkung, ein unbedachtes Wort einen sofort zum Täters in einer Welt machen könnte, die sich dank staatlicher Stützungsmaßnahmen ein hochentwickeltes Gefühl für Gruppenbeleidigungen zugelegt hat.
Nicht alles ist freilich strafbar, noch nicht. Vieles ist auch legal, aber schädlich. Oder nicht strafbar, aber verfassungsfeindlich. Oder bewusst legitim, aber verdächtig. Nein, es fällt dem Staat nicht etwa schwer, hier feste Definitionen zu finden. Vielmehr ist es so, dass genau diese festen Festlegungen der guten Sache schaden würden: Je größer die Bandbreite an möglichen Übeln und Ungeheuerlichkeiten, desto weniger braucht es Zensur, um Disziplin einzufordern. Und desto geringer ist das Risiko, sich am Ende eines Streits um die Zulässigkeit von Zuschreibungen ein neues "Soldaten sind Mörder"-Urteil einzufangen, das viele Bemühungen um ein gepflegtes Meinungsbild zunichtemachen könnte.
Brüssel ist weit weg
Die Regulierung des Internets bleibt freilich eine der großen politischen Herausforderung. Die EU als anonyme Überbehörde hat hier Großes geleistet, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Mit ihrer Hilfe wurde reguliert, auf sie können sie Regierungen berufen, wenn sie neue Einschnitte in die althergebrachte Meinungslandschaft vornehmen. Europa, also Brüssel, ist von überallher so weit weg und alle Entscheidungsprozesse in der Union sind auf eine so raffinierte Art geschnitten, dass niemals jemand für irgendetwas einen wirklich Verantwortlichen dafür finden wird, dass letztlich alle Anstrengungen darauf zielen, die ärgerliche Anarchie im Netz zu beseitigen. Übrigbleiben soll eine saubere Meinungslandschaft, in der kein Platz ist für einen anonymen Mob, der seine Ansichten ungefiltert verbreitet, und sei es, dass er nur aus einer Person besteht.
Es führt kein Weg um straffe Zügel herum, um diejenigen, die die noch gewährleisteten Rechte bis an die Grenze des Zulässigen austesten, zur Rechenschaft zu ziehen. Je enger die Räume werden, in denen sie sich bewegen, desto größer wird der Schaden, den sie anrichten, denn auf einem gut gekämmten Kopf fällt die einzelne widerspenstige Locke mehr auf als mitten in einer wilden Mähne. Es darf deshalb kein Vertun geben, um die freie Meinungsäußerung mit immer schärferen Regeln vor ihren Feinden zu schützen: Nur wer akzeptiert, dass ein Grundrecht nicht dazu da ist, unreguliert nach Gusto gebraucht zu werden, zeigt, dass er verstanden hat, warum das alles nötig ist.
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