Mittwoch, 18. September 2024

Die Geschichte der Westalgie: Wenn alte Männer von früher träumen (1)

Das Rheinland gilt als Hochburg der Westalgie: Hier beschwören die Einheimischen einander, dem Eindruck der eigenen geschrumpften Bedeutung ja nimmer nachzugeben.

Sie sind alt, sie sind weiß, sie sind aufgewachsen in einem Land, dass es schon lange nicht mehr gibt. Traurig schauen sie zurück auf das, was sie längst verloren glauben. Sie beschwören ein romantisierendes Bild eines Früher, das es nie gegeben hat, in ihnen aber als manifeste Erinnerung weiterlebt: Eine feste Volksgemeinschaft aus gleich erzogenen, gleich fühlenden und gleich gesinnten Menschen steht dabei im Mittelpunkt der Erzählung, die die untergegangene Bonner Republik der Jahre 1949 bis 1989 als Nonplusultra der Zivilisationsgeschichte rühmt. 

Die Menschen waren alle gleich geboren. Es gab keine Unfreien, keine Verbogenen, keine im falschen Glauben erzogenen. Keine widerborstige Ostdeutschen. Keine Zuwanderer aus Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg. Keine Pegida-Marschierer. Keine AfD-Wähler*innen. Unter Demokraten war man einig über das Wesen der Demokratie. Man las dieselben Zeitungen. Man schaute dieselben "Tatorte". Man bereiste dieselben Länder und kaufte im gleichen "Edeka" oder "Aldi". Keine Fremden waren zu sehen, Exoten, die eine andere Geschichte erlebt hatten, während sie erwachsen wurden. Die Lehrpläne der Schulen unterschieden sich, aber nicht grundsätzlich. Die Einfamilienhäuser am Stadtrand und die Mietswohnungen waren ähnlich. Die Autos, die Vater stolz vom Händler nach Hause, hatten verschiedene Marken. Aber sie waren  doch immer gleich. 

Das Gefühl der Westalgie

So war die Welt, so hatte der Gott des westdeutschen Wirtschaftswunders sie gewollt. Nicht alle waren immer glücklich, aber die Bedingungen, es zu sein, waren ungleich besser als heute. Bis die Zeit brach. Neue Menschen hinzukamen, erst begeistert begrüßt, dann skeptisch beäugt. Misstrauen machte sich breit, weil mancher nun anders fühlte, anders auf die Zeit schaute, Dinger völlig unterschiedlich bewertet. Wo ist die gute alte Zeit hin, fragten sich viele? Warum verstehen wir einander nicht mehr wie früher? Aus welchem Grund musste Bonn seinen Hauptstadtstaus verlieren? Was außer Ärger und Zwist hat eigentlich gebracht, dass mit dem neuen Machtzentrum Berlin das gesamte Land nach Osten gerutscht zu sein scheint?

Das Gefühl der Westalgie, mit dem Wissenschaftler die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik bezeichnen, ist relativ neu. In den ersten dreieinhalb Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung gelang es vor allem Ostdeutschen, sich in den Medien Platz für ihre Verlustgefühle zu verschaffen. Ihre Geschichten davon, dass nicht alles schlecht war, die Bildung in der DDR sogar besser und das Gemeinschaftsgefühl der Untertanen unter der Herrschaft der Einheitspartei geradezu unvergleichlich, etablierten sich als fester Bestandteil deutscher Folklore. 

Wie ein Geburtsmakel

"Wessis" schauten auf "Ossis" wie auf fremde Sterne. Ossis schauten zurück und sahen kein Spiegel-, sondern ein Zerrbild. Hatten sie wirklich immer so werden wollen? Und warum? Mancher verlor sich in der Vergangenheit. Die "Ostalgie" griff nach den Herzen und sie erzeugte Gefühle, die die meisten früheren DDR-Bürger niemals gefühlt hatten, als das Land noch existierte, das ihnen für immer anhängen sollte wie ein Geburtsmakel.

Die Westalgie entspricht dieser irrationalen Emotion spiegelverkehrt: Sie ist das Verlustgefühl älterer weißer Männer, die sich in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend zurücksehnen, als die viel kleinere Bundesrepublik noch lupenrein westdeutsch war und von westdeutschen Männern regiert wurde, ohne dass es beständig Widerspruch von quengelnden und quertreibenden Neubürgern aus Sachsen, Mecklenburg, Thüringen und Anhalt gab.

Demokratie mit der Muttermilch


Echte Westalgiker haben die Demokratie mit der Muttermilch eingesogen und die Westbindung steckt tief in ihrer DNA. Seit sie damals zu Hunderttausenden gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Präsenz amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden auf die Straße gingen, haben sie sich besonnen. Was den Ostdeutschen schon früher an Identifikation mit ihrem Staat fehlte, ungeachtet der fortlaufenden Versuche, sie mit Parteiabzeichen und FDJ-Hemden in demonstrative Werbeträger des "besseren Deutschland" zu verwandeln, hatten die aus dem Westen neu in die gemeinsame Heimat gekommenen Westdeutschen im Übermaß.

Sie sind Beamte, Behördenmitarbeiter oder Bundeskanzler geworden und sie haben begriffen, dass die Welt hinter der Elbe wohl nie demokratisierbar sein wird. Emotional erlaubt ihnen das, sich innerlich abzuwenden und sich zurückzuziehen in die eigenen Kreise: Ein Kanzler, der die Sprache des Beamtentums und der Bürgerinnen und Bürger in den Bionadevierteln der westdeutschen Wohlstandsinseln akzentfrei spricht. Parteien, deren Führungskader dieselben Karrierestationen im Ausland absolviert haben und eines Tages auch einen Kurztrip in die Gegend von Bautzen oder Gera wagen werden. Dazu die Anspruchshaltung, dass die Minderheit sich integrieren müsse. Unzweifelhaft eine Bringepflicht, die voller Dankbarkeit zu erfüllen war. Wer hatte denn um die Gnade gebeten, mitmachen zu dürfen beim westdeutschen Erfolgsmodell?

Land vor unserer Zeit

Westalgie sehnt sich bis heute nach einer Zeit und einem Land, in dem aus dem Osten nicht pausenlos Meckern, Jammern und Protestgeschrei erklingt. Westalgiker träumen von einer Transformation der ostdeutschen Armenviertel in moderne Fachkräftereservoirs für gigantische Subventionsfabriken und eine immer vielfältiger werdende Behördenlandschaft. 

Für Westalgiker liegt die heile Welt am Rhein und ihr Verhängnis hat mit der Wiedervereinigung angefangen. Für sie haben nicht Gerhard Schröder und Joschka Fischer die ersten Gasverträge mit Russland unterschrieben, sondern Angela Merkel. Für sie ist Robert Habeck auch deshalb eine Ikone, weil er nicht ablässt vom Versuch, Ostdeutsche mit strenger Hand auf den richtigen Weg zu bringen. Wenn sie nicht hören wollen, dann sollen sie fühlen.

Religiöse Mission

Bei dieser fast schon religiösen Verehrung von westdeutsch gelesenen Politikern handelt sich um ein Phänomen, das erst nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder entstand, durch die sich die festgefügte westdeutsche Republik in ihrer rheinischen Gemütlichkeit gestört sah. Die retrospektive Loyalität von Millionen Westalgikern ist seitdem geprägt von Erfahrungen und Werten aus BRD-Zeiten, die oft erst deutlich später so positiv wahrgenommen wurden wie sie vorher nie empfunden worden war. Da es keine eindeutige Definition für den Begriff gibt, gilt dieser als sehr dehnbar und kann eine generelle Westidentität, eine westdeutsche Mentalität oder auch ein neues westdeutsches Selbstbewusstsein umfassen, das Osteinflüsse als rückständig und schädlich ablehnt.

Der Westalgiker möchte, dass alle um ihn herum genauso auf die Welt schaut wie er, seine Werte für unveräußerlich halten, aber auch einverstanden sind, wenn er sie ihnen zeitweise wegnimmt. Wirtschaft, Alltag, politische Entscheidungen, alles hat sich der wachsenden Gruppe der Westalgiker zufolge so auszurichten, wie sie es aus ihrer alten, so schwer vermissten Bonner Republik kennen. Für ihre mitgebrachten Gaben verlangen sie nichts als Dankbarkeit und ein wenig Unterwerfung, allerdings nicht, weil ihnen etwas an Anbetung liegt. Sondern weil sie wissen, dass es für alle besser ist, wenn die entscheiden, die etwas davon verstehen. Und alle anderen gehorchen.

Ungeliebte Vokabel

Erstmals öffentlich vorgestellt wurde der Begriff bereits im Jahr 1994 vom im westdeutschen Essen praktizierenden Medienforscher Jürgen Törber. Allerdings setzte er sich weder in der Fachwelt noch in der öffentlichen Debatte durch. Während die "Ostalgie" als abkanzelnde Bezichtigung ewiggestriger Ostdeutscher zu einer standardmäßigen Beschreibung der Ursachen von Links- und Rechtsrutsch, Kinderarmut, Kriegsangst und Alkoholmissbrauch wurde, blieb die Vokabel zur Einordnung der alten Männer im Westen, die vom Früher träumen, ein nur selten und zumeist ironisch gebrauchtes Kuriosum.

Die Definitionsmacht liegt im Westen. Dort aber gibt es wenig Interesse, die eigene Vorliebe für die Welt, wie sie früher war, von außen pathologisieren zu lassen. So sicher Ostdeutsche bis heute betreut, umsorgt und bevormundet werden müssen, weil sie nachweislich nicht anders integrierbar sind, so fest steht, dass ein radikales Umdenken beim Umgang mit der vor allem im Westen weitverbreiteten  Westalgie sich verbietet. 

Verweigerte Verähnlichung 

Diese Emotion, die romantische Sehnsucht nach Wickühler Pils, Horst Schimanskis halb verrottetem Duisburg, nach hasserfüllten Franz-Joseph Strauß-Reden und bunten, vielfältigen Protesten gegen Amerika, sie ist konstituierend für das neue Deutschland, das Ost-West-Unterschiede nur auf eine Art definiert: Es gibt das normal auf der einen Seite. Normale Menschen, normale Verhältnisse, normale Einstellungen und normale Wahlergebnisse. Und hinter einer Phantomgrenze, gezogen von den Alliierten vor neun Jahrzehnten, das Abweichende, Unnormale, Verkrüppelte, das sich standhaft weigert, seine Verähnlichung zum westdeutschen Standardmaß fleißig und bemüht fortzusetzen.

Der Medienforscher und Teilungshistoriker Hans Achtelbuscher hat den Alltag in den nach dem Anschluss der DDR verbliebenen Gebieten der sogenannten "alten Republik" über viele Jahre beobachtet, erforscht und analysiert. Heute sagt der Gründungsdekan des An-Institutes für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung "solche Westerfahrungen wird man nicht los wie einen rheinischen Dialekt". Westalgie ist etwas Bleibendes, für immer. Verschwiegen, aber stark.

Die Deutschen im Westen seien von Grund auf verschieden, allein schon ihr aus dem Kalten Krieg abgeleiteter Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen und ihre Gäste erkläre, welches gewaltiges Selbstbewusstsein sie zu tragen hätten. "Nur, wenn wir endlich akzeptierten, dass diese Menschen nicht anders können, weil ihre kulturelle und emotionale Prägung ihnen das Gefühl mitgibt, sie wüssten und könnten alles und alles auch noch besser als alle anderen, könnten wir beginnen, mit ihnen zu arbeiten."

Lesen Sie morgen: Bedrohung durch die Westalgie: Wohin treibt sie die Welt (2)

6 Kommentare:

  1. >>> davon, dass nicht alles schlecht war <<<
    Klaus Rainer Röhl selig: Nie ist nur ALLES schlecht.

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  2. Verstehe ich ja irgendwie. Früher durften Wessis Türkenwitze machen (Fips Asmussen et al.), heute dürfen sie/wir nichtmal Messerstecher kritisieren.

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  3. Im Grunde - aber ich selbst bin gar nicht so unterwegs - müssten uns eher die Westgoten aus Dankbarkeit den Po küssen: Die Zanke mit Väterchen Stalin war echt*, also entriet man des Morgenthau- und des Kaufman-Planes, und baute die Bä-Ärr-Dee als Schaufenster des Westens auf. Im Gegenzug war es innerhalb des Ostblockes in der Tätärä noch am erträglichsten. (Fleiß und Effizienz des gewöhnlichen Teutschen auf beiden Seiten wird hierbei nicht geleugnet - äh, bestritten.)
    *Wohingegen es mit Putin undurchsichtig ist, obwohl er - nackt und blank und nur in DIESER Angelegenheit natürlich im Recht ist ...

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  4. Kalkofe(?) Zu Fips Asmussen: Der Zoten-Zombie mit Witzen aus der Kreidezeit ...

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  5. Früher war nicht nur mehr Lametta, sondern auch mehr Kommentare ...

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  6. Schlimm sind diese echt engagierten kölnsprechgesangskünstler .gucken betroffen in die wdr Kamera. Sitzen in Talkshows.mit Jeans. Sagen Sachen wie zwilgeselllschafftliches Engagement.sind fol engagiert.

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