Dienstag, 24. September 2024

Astrologie in der EU: Anerkannter Aberglaube

Im Gestus großer Ernsthaftigkeit propagieren ehemals seriöse Magazine die frei erfundenen Fake News der Hokuspokus-Fabriken. EU und Bundesregierung wagen sich aus Angst nicht an die Verantwortlichen.

Es ist ein Milliardenmarkt, der skrupellose Profiteure reich macht. In privaten Hinterzimmern und offiziell betriebenen Studios, auf den hinteren Seiten angesehener Tageszeitungen und Illustrierten, aber zuweilen auch im vorderen Teil ehemaliger Nachrichtenmagazine und kaum versteckt im Gemeinsinnfunk  tummeln sich Scharlatane und Sternengucker, Astrologen und Kaffeesatzleser*innen. Zwar übernehmen viele Krankenkassen die Kosten für die vulgärpsychologischen Beratungsleistungen bisher nicht, doch ungeachtet der Gefährlichkeit der unreguliert verbreiteten Vorhersagen haben sich bislang weder die EU noch die Bundesbehörden bemüht, das Hokuspokus-Gewerbe mit der als "Astrologie" bezeichneten Prognosekunst zu regulieren oder gar aktiv zu bekämpfen.

Anerkannter Aberglaube

Mit Folgen, die überall spürbar sind. Während die EU-Kommission auf der Vorderbühne einen großen Kampf gegen "Desinformation und Manipulation" (Josep Borrell)  führt, setzen selbsternannte Astrologen Jahr für Jahr allein in Deutschland mit Hilfe haltloser Behauptungen und erfundener Erkenntnisse rund eine Milliarde Euro um.  Mit Kristallen, Heilseminaren, Sternzeichen-Deutung und Hexenkult sind fabelhafte Geschäfte zu machen: Zugangshürden zum Gewerbe gibt es nicht, die Ware entsteht kostenlos, es gibt keine Lieferkettenprobleme und die Gläubigen sind bereit, alles als guten Rat zu nehmen, was ihnen fragwürdige Geschäftemacher verkaufen. 

Staat und Behörden aber meiden jeden Konflikt mit der Branche. Zu groß ist die Angst, sich mit einer Bevölkerungsgruppe anzulegen, die nicht an die Wissenschaft glaubt, sondern an Schicksal, Bestimmung durch Sternkonstellationen und Vorhersagen durch Knochenwurf und Vogelflug. Selbst unter Politikernden, so hat es eine Studie der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ergeben, finden sich zahlreiche Esoteriker - so viele sogar, dass bis heute genau erforscht ist, welchen Einfluss astrologische Einflüsterer auf politische Entscheidungen in der Vergangenheit hatte, nicht aber, wie viele von ihnen heute Rat und Hilfe bei der vermeintlichen Wissenschaft Astrologie suchen.

Schützende Hand aus Brüssel

Die schützende Hand aber, die von ganz oben über eine Branche gehalten wird, deren Prognosen die Treffsicherheit der Vorhersagen des Rates der Wirtschaftsweisen haben, ist unübersehbar. Geduldet, gepäppelt, von Großverlagen propagiert und vom Gemeinsinnfunk als "faszinierend" gelobt, glauben Menschen ein halbes Jahrtausend nach dem Ende des Mittelalters je mehr an die Macht der Horoskope, je jünger sie sind. Der höchste Prozentsatz an Menschen, die Astrologen zutrauen, in die Zukunft sehen zu können, findet sich heute unter 18- bis 44-Jährigen, Menschen, die moderne Schulen besucht, Bildungsangebote zivilgesellschaftlicher Organisationen genossen und über Jahrzehnte von ARD und ZDF informiert worden sind. 61 Prozent dieser Frauen und Männer sind der Meinung, dass an Horoskopen etwas "dran" ist. 

Bestätigt fühlen dürfen sie sich von ernsthaften Erwägungen der kruden Thesen der Beutelschneider*innen. Unter den offiziellen Bedrohungen, denen die Demokratien nach Angaben der Europäischen Kommission ausgesetzt ist, finden sich Irrglaube, Esoterik und Astrologie nicht erwähnt. Stattdessen versuchen politische Entscheidungsträger auffällig konsequent, jede Erwähnung dieser Front im Meinungskampf in ihrer Kommunikation über Ziele und Werte einer demokratischen Grundwertekultur zu vermeiden.

Angst vor dem Rationalen

Es herrscht Angst vor Rationalität, Angst vor einer Bevölkerung, die Ermahnungen zu Abkehr vom Aberglauben übelnehmen könnte. Statt sich der unübersehbaren Bedrohung durch selbsternannte Sternendeuter, Hexen und Kartenleger zu stellen, um deren seit Jahrhunderten betriebene Desinformationskampagne zu beenden, fokussiert sich die Politik auf die dunkle und weitgehend unsichtbare Bedrohung durch finstere Mächte, die "uns sie schwächen und unsere Fähigkeit, wirksam auf Krisen zu reagieren, untergraben" wollen, wie Josep Borrell gesagt hat, der als früherer Desinformationsverantwortlicher der EU mehrere große Kampagnen gegen absichtlich falsche oder irreführende Informationen geführt hat - ohne die allgegenwärtige Propaganda für den Aberglauben je auch nur zu erwähnen.

Ein dunkler Fleck, den die EU mit demonstrativ großen Anstrengungen gegen die gezielte Diskreditierung der Wissenschaft durch sogenannte "staatliche als auch nichtstaatliche ausländische Akteure" zu tarnen versucht. Die von den skrupellosen Profiteuren des Aberglaubens absichtlich verbreiteten frei erfundenen, falschen und irreführenden Informationen gelten als sakrosankt. 

Dass mittlerweile nicht mehr nur 500 wie noch vor 50 Jahren, sondern 13.000 hauptberufliche Fake-News-Produzenten die Deutschen hinter die Fichte führen, ist ein gesellschaftlicher Fakt, den alle Parteien von extrem rechts bis zur radikalen Linken akzeptieren. Dass aus Gesamtumsätzen von 25 Millionen Euro binnen eines halben Jahrhunderts eine ganze Milliarde wurde, wird beharrlich beschwiegen.

Fake News aus dem Kosmos

Ja, zweifellos: Es herrscht Angst, mit einem Kampf gegen die angeblich vom Kosmos selbst hergestellten Falschnachrichten vor allem jüngere Wählerinnen und Wähler zu brüskieren. Statt sich der Bedrohung eines rational gelenkten und geleiteten Gemeinwesens zu stellen, akzeptieren sämtliche politischen Formationen eine Sterndeuterseuche, deren Gift die Gesellschaft schleichend verwandelt. 

Und von Brüssel ist diesmal keine Hilfe zu erwarten: Unter der Hand geben in den politischen Vierteln der belgischen Hauptstadt mit den Dingen vertraute Beobachter zu, dass die Sterne in der EU-Fahne seinerzeit nicht nur gewählt wurden, um sich ein Signet ähnlich dem der USA zuzulegen. Sondern auch, um ein Zeichen zu setzen, woran man wirklich glaubt.

1 Kommentar:

  1. Solange die Sterne nicht versuchen, den Staat zu delegitimieren oder falsche Parteien zur Wahl zu empfehlen, sehe ich da kein Problem.

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