Mittwoch, 18. September 2024

Die Geschichte der Westalgie: Wenn alte Männer von früher träumen (1)

Das Rheinland gilt als Hochburg der Westalgie: Hier beschwören die Einheimischen einander, dem Eindruck der eigenen geschrumpften Bedeutung ja nimmer nachzugeben.

Sie sind alt, sie sind weiß, sie sind aufgewachsen in einem Land, dass es schon lange nicht mehr gibt. Traurig schauen sie zurück auf das, was sie verloren glauben. Sie beschwören ein romantisierendes Bild eines Früher, das es nie gegeben hat, in ihnen aber als manifeste Erinnerung weiterlebt: Eine feste Volksgemeinschaft aus gleich erzogenen, gleich fühlenden und gleich gesinnten Menschen steht dabei im Mittelpunkt der Erzählung, die die untergegangene Bonner Republik der Jahre 1949 bis 1989 als Nonplusultra der Zivilisationsgeschichte rühmt. Keine widerborstige Ostdeutschen. Keine Zuwanderer aus Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg. Keine Pegida-Marschierer. Keine AfD-Wähler*innen.

Das Gefühl der Westalgie

Das Gefühl der Westalgie, mit dem Wissenschaftler die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik bezeichnen, ist relativ neu. In den ersten dreieinhalb Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung gelang es vor allem Ostdeutschen, sich in den Medien Platz für ihre Verlustgefühle zu verschaffen. Ihre Geschichten davon, dass nicht alles schlecht war, die Bildung in der DDR sogar besser und das Gemeinschaftsgefühl der Untertanen unter der Herrschaft der Einheitspartei geradezu unvergleichlich, etablierten sich als fester Bestandteil deutscher Folklore. 

Die Westalgie entspricht dieser irrationalen Emotion spiegelverkehrt: Sie ist das Verlustgefühl älterer weißer Männer, die sich in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend zurücksehnen, als die viel kleinere Bundesrepublik noch lupenrein westdeutsch war und von westdeutschen Männern regiert wurde, ohne dass es beständig Widerspruch von quengelnden und quertreibenden Neubürgern aus Sachsen, Mecklenburg, Thüringen und Anhalt gab.

Demokratie mit der Muttermilch


Echte Westalgiker haben die Demokratie mit der Muttermilch eingesogen und die Westbindung steckt tief in ihrer DNA. Seit sie damals zu Hunderttausenden gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Präsenz amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden auf die Straße gingen, haben sie sich besonnen.

Sie sind Beamte, Behördenmitarbeiter oder Bundeskanzler geworden und sie haben begriffen, dass die Welt hinter der Elbe wohl nie demokratisierbar sein wird. Emotional erlaubt ihnen das, sich innerlich abzuwenden und sich zurückzuziehen in die eigenen Kreise: Ein Kanzler, der die Sprache des Beamtentums und der Bürgerinnen und Bürger in den Bionadevierteln der westdeutschen Wohlstandsinseln akzentfrei spricht. Parteien, deren Führungskader dieselben Karrierestationen im Ausland absolviert haben und eines Tages auch einen Kurztrip in die Gegend von Bautzen oder Gera wagen werden. 

Land vor unserer Zeit

Westalgie sehnt sich nach einer Zeit und einem Land, in dem aus dem Osten nicht pausenlos Meckern, Jammern und Protestgeschrei erklingt. Westalgiker träumen von einer Transformation der ostdeutschen Armenviertel in moderne Fachkräftereservoirs für gigantische Subventionsfabriken und eine immer vielfältiger werdende Behördenlandschaft. 

Für Westalgiker liegt die heile Welt am Rhein und Verhängnis hat mit der Wiedervereinigung angefangen. Für sie haben nicht Gerhard Schröder und Joschka Fischer die ersten Gasverträge mit Russland unterschrieben, sondern Angela Merkel. Für sie ist Robert Habeck auch deshalb eine Ikone, weil er nicht ablässt vom Versuch, Ostdeutsche mit strenger Hand auf den richtigen Weg zu bringen. 

Religiöse Mission

Bei dieser fast schon religiösen Verehrung von westdeutsch gelesenen Politikern handelt sich um ein Phänomen, das erst nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder entstand, durch die sich die festgefügte westdeutsche Republik in ihrer rheinischen Gemütlichkeit gestört sah. Die retrospektive Loyalität von Millionen Westalgikern ist seitdem geprägt von Erfahrungen und Werten aus BRD-Zeiten, die oft erst deutlich später so positiv wahrgenommen wurden wie sie nie gewesen s . Da es keine eindeutige Definition für den Begriff gibt, gilt dieser als sehr dehnbar und kann eine generelle Westidentität, eine westdeutsche Mentalität oder auch ein neues westdeutsches Selbstbewusstsein umfassen, das Osteinflüsse als rückständig und schädlich ablehnt.

Der Westalgiker möchte, dass alle um ihn herum genauso auf die Welt schaut wie er, seine Werte für unveräußerlich halten, aber auch einverstanden sind, wenn er sie ihnen zeitweise wegnimmt. Wirtschaft, Alltag, politische Entscheidungen, alles hat sich der wachsenden Gruppe der Westalgiker zufolge so auszurichten, wie sie es aus ihrer alten, so schwer vermissten Bonner Republik kennen. Für ihre mitgebrachten Gaben verlangen sie nichts als Dankbarkeit und ein wenig Unterwerfung, allerdings nicht, weil ihnen etwas an Anbetung liegt. Sondern weil sie wissen, dass es für alle besser ist, wenn die entscheiden, die etwas davon verstehen. Und alle anderen gehorchen.

Ungeliebte Vokabel

Erstmals öffentlich vorgestellt wurde der Begriff bereits im Jahr 1994 vom im westdeutschen Essen praktizierenden Medienforscher Jürgen Törber. Allerdings setzte er sich weder in der Fachwelt noch in der öffentlichen Debatte durch: Während die "Ostalgie" als abkanzelnde Bezichtigung ewiggestriger Ostdeutscher zu einer standardmäßigen Beschreibung der Ursachen von Links- und Rechtsrutsch, Kinderarmut, Kriegsangst und Alkoholmissbrauch wurde, blieb die Vokabel zur Einordnung der alten Männer im Westen, die vom Früher träumen, ein nur selten und zumeist ironisch gebrauchtes Kuriosum.

Die Definitionsmacht liegt im Westen, dort aber gibt es wenig Interesse, die eigene Vorliebe für die Welt, wie sie früher war, von außen pathologisieren zu lassen. So sicher Ostdeutsche bis heute betreut, umsorgt und bevormundet werden müssen, weil sie nachweislich nicht anders integrierbar sind, so fest steht, dass ein radikales Umdenken beim Umgang mit der vor allem im Westen weitverbreiteten  Westalgie sich verbietet. 

Verweigerte Verähnlichung 

Diese Emotion, die romantische Sehnsucht nach Wickühler Pils, Horst Schimanskis halb verrottetem Duisburg, nach hasserfüllten Franz-Joseph Strauß-Reden und bunten, vielfältigen Protesten gegen Amerika, sie ist konstituierend für das neue Deutschland, das Ost-West-Unterschiede nur auf eine Art definiert: Es gibt das normal auf der einen Seite, normale Menschen, normale Verhältnisse, normale Einstellungen und normale Wahlergebnisse. Und hinter einer Phantomgrenze, gezogen von den Alliierten vor neun Jahrzehnten, das Abweichende, Unnormale, Verkrüppelte, das sich standhaft weigert, seine Verähnlichung zum westdeutschen Standardmaß fleißig und bemüht fortzusetzen.

Der Medienforscher und Teilungshistoriker Hans Achtelbuscher hat den Alltag in den nach dem Anschluss der DDR verbliebenen Gebieten der sogenannten "alten Republik" über viele Jahre beobachtet, erforscht und analysiert. Heute sagt der Gründungsdekan des An-Institutes für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung "solche Westerfahrungen wird man nicht los wie einen rheinischen Dialekt". 

Die Deutschen im Westen seien von Grund auf verschieden, allein schon ihr aus dem Kalten Krieg abgeleiteter Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen und ihre Gäste erkläre, welches gewaltiges Selbstbewusstsein sie zu tragen hätten. "Nur, wenn wir endlich akzeptierten, dass diese Menschen nicht anders können, weil ihre kulturelle und emotionale Prägung ihnen das Gefühl mitgibt, sie wüssten und könnten alles und alles auch noch besser als alle anderen, könnten wir beginnen, mit ihnen zu arbeiten."

Lesen Sie morgen: Bedrohung durch die Westalgie: Wohin treibt sie die Welt (2)

Briefkastenplage: Rückbaupflicht für fossile Infrastruktur

Im vergangenen Jahr hat das Bundeswirtschaftsministerium den Fokus auf die Dekarbonisierung privater Heizsysteme gelegt, anschließend ging es daran, mit der Abschaltung der 500.000 Kilometer langen Gasnetze zu beginnen, um die Umstellung auf Wärmepumpen und Fernwärme in den nächsten zehn bis 15 Jahren unumkehrbar zu machen. Der später unter dubiosen Umständen aus dem Amt gemobbte Staatssekretär Patrick Graichen hatte dabei wertvolle Vorarbeit geleistet. Nach seinem Abschied kam zumindest kurzzeitig die Sorge auf, die geplanten Rückbaupflichten und ein Abschluss der Ausstiegsarbeiten - bei gutem Wetter - bis 2045 könnten ins Wackeln geraten.

Ausstieg aus der Post-Infrastruktur

Stattdessen rückt aber nun die nächste Infrastrukturfrage in den Vordergrund: Ein aktuelles Dokument aus dem Ministerium von Wirtschaftsminister Robert Habeck nimmt sich der nächsten offenen Baustelle an. Und rührt damit an ein Tabu: Es geht um Briefkästen, jene Postempfangsboxen, die rund 20 Millionen deutsche Privathaushalte und Millionen Firmen in dieser oder jener Form betreiben, um Briefe empfangen zu können.

 Der grüne Vordenker Herbert Haase aber, seines Zeichens Chef des in Sachsen angesiedelten Climate Watch Institutes (CWI), regte schon früh an, nicht zu lange mit dem Beginn der Planungen für einen kompletten Rückbau auch dieses Teils der fossilen Infrastruktur zu beginnen. 

"Zwei, drei Kilogramm wiegt jeder der rund 30 Millionen Briefkästen, die heute noch in deutschen Hausfluren oder an Hausfassaden hängen", beschreibt der Klimawirtschaftler in einem 23-seitigen sogenannten Grünpapier, das der Bundespolitik Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten im Bereich Rückbaupflichten und Weiterbetriebszwang bei Briefkästen aufzeigen will. Dabei handele es sich um einen Schatz von etwa 60.000 bis 100.000 Tonnen zumeist bestem Stahl, den ein rohstoffarmes Land wie Deutschland nicht ungeborgen lassen könne. 

Eine neue Transformation

"Heute steht schon fest, dass am Ende der laufenden Transformation von der traditionellen Briefzustellung hin zu Whatsapp, E-Mail und Sprachnachrichten über Messengerdienste aller Voraussicht nach in deutlich geringerem Umfang als heute Briefkästen benötigt werden". Um einen Rückbau führe kein Weg herum, sagt Haase.

Für die im CWI-Ideenpapier entwickelten Pläne sprechen Tatsachen. Wie die Bahn wird auch die Post immer schneller teurer und dazu immer langsamer, die Zahl der Briefsendungen sinkt, die Mehrzahl der Haushalte muss sich dank der Grundversorgung mit Informationen durch ARD und ZDF auch kein Zeitungsabo mehr leisten. Dass die Post immer später komme, gelte zwar derzeit noch als Fehler, merkt Herbert Haase an. 

Künftig aber könnte daraus ein besonderes Feature werden: Zuletzt beschloss die Bundesregierung bereits drastisch weniger Zustelltage. Die nach ihren drei Gründungsvätern Adrian Dalsey, Larry Hillblom und Robert Lynn letztes Jahr in "DHL" umbenannte Deutsche Post AG reagierte prompt mit einer Einstellung der Nachtflüge zur Briefzustellung. 

Fast 100 Prozent der Zeit ungenutzt

"Inzwischen ist es so, dass Briefkästen 99,87 Prozent der Zeit ungenutzt herumhängen", haben die Forscher*innen ermittelt. Das seien 3,7 Prozent mehr als Autos im Durchschnitt nicht genutzt würden und auch deutlich mehr als Badewannen in deutschen Haushalte nur anwesend seien, ohne benötigt zu werden. "Wir verstehen unser Papier als einen Impuls, der den Startschuss zum Um- und Rückbau der Postzustelllandschaft setzen will." 

Noch sei ein konkreter Gesetzentwurf nicht in Sicht. "Aber wir müssen uns heute schon fragen, wie sich der notwendige Umstieg so gestalten lässt, dass die Transformationskosten für alle Beteiligten minimiert werden."

Millionen Kästen werden abzubauen sein, zehntausende Tonnen Briefkastenschrott müssen gesammelt und klimaneutral eingeschmolzen werden. Nach der Vorstellung der CWI-Forschenden "ist der Erfolg dieses Kraftaktes in hohem Maße abhängig von einem planmäßigen Vorgehen, das auf der Basis von Abbauplänen erfolgen sollte, die die Kommunen jetzt schon erarbeiten müssen."

Rückbau ist unumgänglich

Ein Rückbau der gesamten deutschen Zustellungsinfrastruktur sei zweifellos unumgänglich, "um die Verlockung dauerhaft zu beseitigen, dass doch noch Briefe und Karten versendet werden, die auf anderem Wege viel klimasparender befördert werden können." Wie bei den Gasnetzen, die deren Besitzer gern umgewidmet hätten, um sie nicht als Totalverlust abschreiben zu müssen, sei es "Träumerei", zu glauben, dass der Brief eine Renaissance erleben werde. "Bleiben die Briefkästen hängen, wäre das nur eine Einladung, sie für ausstiegsfeindliche Zwecke zu nutzen."

Natürlich werde der "Tod des Briefes nicht an einem Tag stattfinden", sagt Herbert Haase. Doch gerade weil der Rückgang der Zahl der Sendungen nicht über Nacht geschehe, sei es wichtig, den schrittweisen Wandel mit geeigneten Regelungen zum Rückbau der Infrastruktur zu begleiten und zu unterstützen. "Nur so kann die Umstellung in den kommenden Jahren so reibungslos wie möglich verlaufen." Dazu gehöre auch, den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einzuschenken und ihnen transparent klarzumachen, wo der Weg hinführe. 

Niemand wird alleingelassen

"Niemand soll mit seinem Briefkasten alleingelassen werden, die  unumgänglichen Kosten für den Abbau, die entsorgende Nachnutzung und auch die für die häufig notwendige Sanierung der ehemaligen Hängeflächen müssen gerecht verteilt werden." Das Hauptziel ihres Papiers sei es deshalb, sowohl Hausbesitzende als auch Regierende und Mietende rechtzeitig über die Abschaltung des Postnetzes zu informieren, wie es über Jahrhunderte gern und oft genutzt wurde. 

"Klappt alles, wie wir das vorgeschlagen haben, ist eine vollständig klimaneutrale Informationsversorgung bis 2035 machbar, ohne dass wir dann noch diese kleinen Hängeschränke brauchen, die immer noch funktionieren wie im Zeitalter der Postkutsche."

Dienstag, 17. September 2024

Vollständige Vielfalt: Inklusionsinstitut will Nazis reintegrieren

Beim ersten IVI-Kongress fanden sich im abgehängten Mecklenburg mehrere Hundert Betroffene ein.

Janka Seifert ist unzufrieden gewesen. "Mir war das zu widersprüchlich", sagt sie. Auf der einen Seite gebe es gerade in den Medien ein bunt gemaltes Bild, die Bundesregierung beschäftige neben 43 anderen auch einen Queer-Beauftragten, zudem dürfe nun sogar eine nicht-binäre Person den Eurovision Song Contest gewinnen, nicht mehr nur ein als Frau verkleideter Mann.

Ausgrenzung wegen falscher Ideologie

"In Berlin demonstrierten die Antisemiten, in Hamburg die Fans des Kalifats", sagt sie mit Blick auf den Anfang des Jahres. Auf der anderen Seite aber schließe die Gesellschaft eine große Gruppe an Menschen wegen ihrer Überzeugungen aus - kaum äußere sich jemand rechts, habe man für ihn nur noch Ablehnung übrig, Verachtung und gesellschaftliche Ächtung.

Die junge Frau aus Karlsruhe wollte das nicht länger hinnehmen. Seifert verweist auf die Leipziger Autoritarismus-Studie, wonach jeder dritte Mann und jede fünfte Frau im Land ein Anti-Gender-Weltbild habe und die Jugend immer weiter nach rechts rutsche. "Wir können all diese Menschen doch nicht allein lassen", warnt sie davor, sich nur noch auf den Teil der Jugend zu konzentrieren, der selbst queer lebt, in einer Großstadt wohnt und mindestens ein Auslandsjahr an einer berühmten Universität absolviert habe. 

Im falschen Glauben

Janka Seifert kennt selbst das Gefühl, sich im falschen Glauben zu fühlen. Lange war auch sie überzeugt von der Existenz des Weihnachtsmanns, immer wieder beantworteten Vertrauenspersonen ihre Fragen danach mit beruhigenden Worten. Seifert blieb so treu im Glauben, bis sie acht Jahre alt war. Der Schock, dann in eine völlig neue Realität geworfen zu werden, sitzt bis heute tief. "Mein Urvertrauen war weg", sagt sie, "und irgendwie ist es nie zurückgekommen".

Die Familie spiele dabei eine große Rolle. "Meine Großeltern waren Ostdeutsche, wenn sie uns früher besuchen kamen, hat man ihnen das auch angesehen." Sie selbst habe Opa Klaus und Oma Anne deshalb nie verurteilt. "Aber ich hätte mir gewünscht, dass man sie besser integriert."

Eine Aufgabe, die sich die Absolventin der Europäischen Universität Malchow selbst übergeholfen hat, motiviert von keinem Geringeren als Stephan Harbarth, dem Präsidenten des  Bundesverfassungsgerichts, der sich für die Meinungsfreiheit aller ausgesprochen hatte, als er festlegte: "Rechtlich gesehen darf man in Deutschland sehr viel sagen".

Eine Aufforderung

Janka Seifert hörte eine Aufforderung. "Für mich hieß das, nicht nur jammern, sondern selbst initiativ werden." Nicht jeder Rechte sei mit seinen ideologischen Überzeugungen zufrieden oder fühle sich in seiner politischen Orientierung wohl. "Viele warten auf Hilfe von außen, aber die kommt nicht." Janka Seifert aber will sie geben: "Für mich ist der Umgang mit ideologischer und politischer Vielfalt eine große Rolle, ich genieße es, Menschen zu helfen, die die Hilfe dringend brauchen." Doch weder in der Schule noch in Unternehmen oder im politischen Raum spiele der integrative Gedanke eine Rolle. 

Seifert hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht, und für den Anfang, sagt sie, laufe es ganz gut. Seit sieben Monaten ist sie Chefin ihres selbst gegründeten Instituts für Vielfalt und Inklusion, kurz IVI, ein Projekt, das vom Europäischen Wiederaufbaufonds unterstützt wird und Förderung durch ein Exit-Gründungsstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums erhalten hat. 

Spezialisiert hat sich die studierte Sozialarbeiterin auf eine Konversionstherapie (von lateinisch conversio‚ Umwendung, Umkehr), die dort ansetzt, wo Menschen von Medien, Politikern und Gefährderansprachen nicht mehr erreicht werden. "Unsere Reparativtherapie hat das Ziel, eine Abnahme von rechten Neigungen und die Entwicklung toleranter und vielfältiger Potenziale zu ermöglichen." Das Ziel sei die vollständige Vielfalt für alle.

Reorientierung für rechte

Für Patienten mit Konflikten bezüglich ihrer Einstellung zur offenen, vielfältigen und klimaneutralen Gesellschaft sei eine solche Reorientierungstherapie ideal, fasst sie ihre bisherigen Erfahrungen zusammen. "Oft handelt es sich selbst bei verstockten Rechten nur um eine psychologische Fehlentwicklung, die geheilt werden kann." Mit dem IVI hat es sich Janka Seifert aber nicht nur zur Aufgabe gemacht, selbst Patienten aus der rechten Ecke zu holen. Sie arbeitet auch an Lehr- und Bildungsmaterialien, die es ermöglichen, das IVI-Konzept im Franchise zu übernehmen. Es sei ihr Traum, an allen Enden des Landes Fachtherapeuten für sogenannte klinische Rechtsabweichungen (Deviationes legales) greifbar zu haben. "Kein Betroffener sollte länger als zehn Minuten zu einem Reorientierungsexperten fahren müssen, möglichst mit dem ÖPNV."

 Die Jungunternehmerin ist dabei ganz entschieden, nicht tolerant. Gesellschaftlich sei es wichtig, Millionen zurückzuholen in die Mitte, eine Mammutaufgabe, für die zumindest in der Startphase vom Bund Mittel für Sachausgaben, Coaching und für die Miete eines kleinen, aber recht hübschen Schlosses im ländlichen Mecklenburg erhält, in dem auch der erste IVI-Kongress stattfand. Sehr erfolgreich, sagt Janka Seifert über die Veranstaltung mit etlichen Betroffenen, Geheilten, Fachdozenten und Interessenten an einer Übernahme ihrer Reparativtherapie. "Es zahlt sich jetzt aus, dass die Förderung es mir ermöglicht, nicht noch nebenbei arbeiten gehen zu müssen, so dass ich mich ganz auf die Firma konzentrieren kann."

Mit bildstarken Broschüren

Wichtig sei es jetzt, betriebswirtschaftlich zu denken, Marketing zu betreiben und Geschäftspartner zu gewinnen. Seifert zeigt das Pilotmaterial, das an Schulen verteilt werden soll, bunte, bildstarke Broschüren, die zeigen, dass es ein Zurück für jeden gibt, auch wenn er mal falsch gewählt oder eine verkehrte Ansicht für richtig gehalten hat. Neben der Behandlung von Menschen, die im falschen Glauben oder im Glauben an eine falsche Ideologie leben, sollen in der Praxis auch diese aufrüttelnden Bildungsmaterialien Geld in die Kasse bringen. "Dazu werden wir Schulungen und Vorträge anbieten und auch Beratungen, etwa wenn sich etwa Schulen und Unternehmen so aufstellen können, dass rechte, für Rechtspopulismus anfällige oder gar schon nach ganz rechts weggerutschte Menschen nicht aufgegeben werden."

Das "Inklusiv" im Namen ihrer Firma sei ernstgemeint, sagt Janka Seifert. "Meist meint die Verwendung dieses Adjektivs ja, dass alle, die nicht zu einer bestimmten homogenen Gruppe gehören, ausgeschlossen sind." Inklusive Schulen beispielsweise stünden nur Jüngeren offen, inklusive Begegnungsstätten seien häufig für Arme und Armutsgefährdende gedacht, nicht für die hart arbeitende Mitte. Die Realität am IVI sei nicht so: "Unser Bildungsmaterial soll für ein möglichst breites Publikum zugänglich sein und unsere Therapieangebote richten sich auch an Menschen, die auch nach vielen Jahren im braunen Sumpf keine Zweifel spüren, dass ihr Weg der richtige ist."

Zeichen des gesellschaftlichen Wandels

Im Zeichen des gesellschaftlichen Wandels ist die Reparativtherapie auch remote möglich, also als Heimanwendung buchbar. "Die Nutzung neuer Technologien gehört zu unserer DNA", sagt Janka Seifert stolz. Es sei aus ihrer Sicht unerlässlich, "die Aufklärung über Rechtsrutsch, Rechtsdrall und die rechtspopulistische Mode gerade unter Jüngeren multimedial anzugehen." 

Nur allzu häufig werde bei der Betrachtung des Problems von Politikern und Medienarbeitern ein Negativbild bezeichnet, das von rechten Tendenzen befallene Personen komplett als Menschen abwerte. "Es geht dann vor allem um Nazigewalt, Remigration und das Festhalten an traditionellen Lebensweisen mit Fleisch, Verbrenner und Alkohol." Schnelle Urteile, die kaum weiterhülfen. "Wir müssen versuchen, die ganze Vielfalt dieser uns so fremden Welt der Mitbürgerinnen und Mitbürger zu zeigen, die im falschen Glauben und im Glauben an eine falsche Ideologie leben." Diejenigen, die noch heilbar seien, zurückzuholen, könne nur so gelingen: "Unsere Reorientierungstherapien sind kein Wundermittel, sie brauchen die gesellschaftliche Akzeptanz für die Geheilten, um wirklich wirken zu können."

Schmalhans am Herd: Weniger isst mehr

Die Fettleber ist eine Zivilisationskrankheit, die durch Fasten geheilt werden kann.

Andere bekommen ihre Fettleber nicht in den Griff, sie schnaufen an jeder Treppe, jammern bei jedem Versuch, einen Kasten Bier in den zweiten Stock zu tragen. Andreas Weniger kann da nur lachen: "Ich bin schon lange auf eine Welt ohne Wachstum eingestellt", versetzt der 47-Jährige auf Fragen nach seiner Lebensführung. Nicht mehr stopfen, nicht mehr in zimmerdeckenhohen Speisebergen schwelgen. Weniger ist mehr, aber "nur mehr als eine Maus", sagt er stolz.  

Konsequentes Fasten

Seit der Sachse konsequent fastet, "Ramadan das ganze Jahr", scherzt er manchmal, wenn das Bauchgrimmen kommt. Aber was ihm der Hunger gebe, das sei es allemal wert. "Deutschland braucht ein anderes Wohlstandsdenken", sagt der ausgebildete Degrowth-Ökonom, der es vor zweieinhalb Jahren leid war, immer nur zu reden. "Ich wollte endlich einmal wirklich etwas tun", sagt er, "nicht immer nur Pläne schreiben, Vorträge halten und twittern, um für unsere Sache zu trommeln." Von einem Tag auf den anderen stellte Weniger sein ganzes Leben radikal um. Nicht von Fleisch auf Vegetarisch, nicht von laktosefrei auf vegan. "Ich bin quasi ganz ausgestiegen", beschreibt er.

Eine Rabiatdiät nach eigenem Plan, mit der Andreas Weniger die grüne Transformation "im Alltag umarmen" will. Zwar sei die deutsche Wirtschaft schon im vergangenen Jahr bereits um 0,2 Prozent  geschrumpft, das sei gar nicht so schlecht angesichts der Tatsache, dass ja immer noch mehr Menschen nach Deutschland zögen, die die Lage hier als nicht so schlecht sehen wie viele Schonlängerhierlebende. "Aber da wird das aktuelle Wohlstandsmodell ohnehin weder mit der Brechstange retten noch einfrieren können, wird das nicht reichen." Statt über diese vermeintlich schlechte Nachricht zu jammern, habe er sich entschlossen, die kommenden Einschränkungen in allgemeiner Lebensqualität mit offenen Armen anzunehmen. "Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, kann auch nicht mehr jeder mit einem immer größeren Löffel in den Topf langen."

Enger Gürtel

Für Andreas Weniger ist ein enger geschnallter Gürtel aber eben keine Schreckensvorstellung mehr. "Wenn ich die Nachrichten höre, dann klingt es immer so, als ob eine Konjunkturflaute schlimmer sei als der drohende Untergang der Zivilisation." Wenn aber die Erde als besiedelbarer Platz für kommende Generationen erhalten werden solle, sei Wachstum keine dauerhafte Option. "Wohlstand, wie wir ihn bisher kannten, gibt der Natur den letzten Rest." Statt auf andere zu zeigen, habe er beschlossen, bei sich selbst anzufangen. "Tolstoi hat ja gesagt, dass jeder von uns die Welt ändern will, aber niemand sich selbst", sagt er, "ich habe mir in den Kopf gesetzt, das Gegenteil zu beweisen."

Für den gelernten Schreiner, der nach einem Arbeitsunfall frühverrentet ist, war es keine Option, darauf zu warten, dass die Gesellschaft sich schrittweise auf eine Welt ohne Wachstum einstellt. "In der Postwachstumsökonomie, wie ich sie mir vorstelle, fängt jeder bei sich an und gibt damit allen, die noch zögern, ein Beispiel." Forderungen nach Steuersenkungen für die Wirtschaft, um sie aus der Talsohle herauszuholen, lehnt Weniger ab. "Wir müssen uns gegen die Versuchung wehren, Unternehmen weiterhin für ihre ökologischen Sünden zu belohnen." Stattdessen sollten klare Ausstiegspläne mit strengen Vorgaben geschmiedet werden, die eine Verkleinerung des Industrie-, Verkehrs- und Verbrauchsbereichs planmäßig vorschreiben. "Strafbewehrt natürlich", mahnt Andreas Weniger an.

Weniger als die Hälfte

Eine wirklich sozial-ökologische Nachhaltigkeitstransformation kann aus seiner Sicht nur gelingen, wenn die notwendigen Maßnahmen in jeder Familie mit voller Überzeugung gelebt würden. "Das fängt beim Essen an", mahnt Weniger. Dabei zeige sein eigenes Beispiel, dass jeder mit weniger als der Hälfte dessen auskommen kann, was er in den Zeiten des Überflusses und vor dem Beginn der drohenden Klimakatastrophe konsumiert habe. "Ich komme heute mit vier Scheiben Brot, zwei Äpfeln, ein paar Kartoffeln und ein paar Bohnen aus." Als geradezu pervers empfinde er es, wenn ein bedeutsamer Anteil der Bevölkerung unmäßig mehr als den normalen Bedarf esse, um dann mit exorbitant teuren Medikamenten gegen Übergewicht vorzugehen. "Da müssen wir ran, da müssen wir umsteuern."

Wie einfach und wie schnelle erfolgreich das sein könne, zeige sein eigener Lebensweg. "Ich komme von 104 Kilogramm und bringe jetzt noch 68 Kilo auf die Waage." Sein Körpergefühl sei ein ganz anderes geworden, er fühle sich fitter, habe häufig luzide Träume und spüre kaum mehr den Drang, lange Wege zu gehen oder überflüssige Bewegungen zu vollführen. 

Gradueller Rückbau

"Deshalb reicht es nicht aus, das Familienleben samt Ernährung und Mobilität einfach nur auf Erneuerbare umzustellen, es muss graduell zurückgebaut werden, um den Rest an Natur und Landschaften zu retten, der uns noch geblieben ist." Neben dem Individualverkehr, dem Güterverkehr, den häufig überheizten Häuser und der mechanisierten Landwirtschaft stehe auch die Digitalisierung im Fokus: "Wir kommen auch da nicht um einen Rückbau herum, wenn unser Lebensstil unabhängig von der Versorgung durch äußere Quellen werden soll."

Sparsames Essen ist der Schlüssel, wer weniger isst, habe auch mehr Zeit, "um sich um seine Selbstversorgung in Form von Reparatur, Instandhaltung, achtsame Verwendung und den Tausch von Dingen zur Gemeinschaftsnutzung zu kümmern." Das spart nicht nur Energie, Ressourcen und Abfall, sondern hat den indirekten Effekt, Verkehre weiter zu reduzieren.

Halbierter Verkehr

Eine Verdopplung der Nutzungsdauer halbiere den Güterverkehr, ein nur noch halb so oft genutzter Schuh, eine nur bei wenigen Gelegenheiten getragene Hose sei ein Weg dorthin. "Selbst wenn der zurückgehende Konsum gutbezahlte Jobs kostet, wird der Bedarf an Einkommen sinken, wenn weniger Waren angeboten werden." Damit muss auch weniger gearbeitet werden, es braucht keine Vollbeschäftigung mehr, neue Talente könnten sich frei und ungezwungen zeigen. "Fehlt es erst an Profis für bestimmte Tätigkeiten, schlägt die Stunde der Bastler und Hobbyspezialisten." 

Eine neue Welt ist möglich, und sie wird schön werden, davon ist Andreas Weniger überzeugt. "Die Pointe besteht darin, dass Wachstum für ein gutes Leben nicht mehr notwendig sein wird." Wo kein  gesellschaftlicher Reichtum mehr existiere, enden alle Verteilungskämpfe, es tritt Gerechtigkeit ein und Einkommensungleichheiten verschwinden. 

"Endlich können wir dann Haushalte auf Energieeinsparpotenziale durchkämmen und mit dem Postwachstumsmanagement in den Nachbarschaften beginnen können." Er denke, dass eine neue Art von Subsistenzprojekten und Ressourcenzentren als Lernorte genutzt werden könnten, um den neuen Menschen Versorgungspraktiken erproben zu lassen, "die ihm zeigen, wie er gut mit weniger von allem auskommen kann."

Montag, 16. September 2024

Glaube, Liebe, keine Hoffnung: Ein Klimapfarrer gibt auf

Hendirk Krebel-Binde (l.) als junger Mann: Damals konfrontierte der Klimapfarrer aus Altkalen die Kanzlerin und ihren Vizekanzler mutig mit seinen Klimaforderungen.

Er wollte durchhalten, beseelt von seinem tiefen Glauben und dem Wissen darum, dass es auf jeden Einzelnen ankommt, will die Menschheit ihren Kampf gegen das Klima gewinnen. Seit dem Tag, an dem er erweckt wurde, wie es Hendirk Krebel-Binde selbst nennt, hat der gelernte Grafiker, Außenwandgestalter und Aktivist sich stets mit voller Kraft für seine Sache eingesetzt. 

Wink mit dem Laternenpfahl

Krebel-Binde protestierte gegen die lauwarme Klimapolitik der damals noch allenthalben hochverehrten und zur "mächtigsten Frau der Welt" erklärten Angela Merkel. Er kette sich mit Kabelbindern an einen Laternenpfahl, um vor einem SPD-Parteitag auf die Gasabhängigkeit der deutschen Sozialdemokratie aufmerksam zu machen. Und er war mit Gleichgesinnten auch unterwegs, um bei Grünen, FDP und Linkspartei klarzustellen, dass die bisherigen Schritte zum Erreichen der Klimazeile von Paris längst nicht ausreichen.

Fast 15 Jahre Kampf. Fast 15 Jahre Einsatz, Ideen und Aufopferung. Nun aber sagt Hendirk Krebel-Binde, dass er kürzertreten wolle, ja, müsse. "Mir ist in den zurückliegenden Wochen und Monaten nur allzu schmerzlich bewusst geworden, dass ich nicht jeden bekehren kann", sagt er. Den Glauben an ein Klima, das wissenschaftlich so gründlich erforscht ist, dass sich auf dem Wissen ein Weltbild bauen lässt, mit dem alles erklär- und prognostizierbar sei, spüre er in sich immer noch glühend heiß und auch "nach außen drängend".

Die Leute machen die Ohren zu

Doch in der Gesellschaft, die der ordinierte Klimapfarrer aus dem mecklenburgischen Altkalen von Anfang an hatte missionieren wollen, sei der anfangs reservierte Widerstand zum Widerwillen gewachsen. "Die Leute machen die Ohren zu, haben sie anfangs nicht zugehört, hören sie nun nicht einmal mehr hin."

Vor diesem Hintergrund habe die Mission keinen Sinn mehr. "Anhänger von Verschwörungserzählungen treten mittlerweile ganz offen gegen die Wissenschaft auf", denkt Hendirk Krebel-Binde, "sie beziehen ihr Selbstbewusstsein aus dem Computer, aus dem Internet, von Seiten wie Wikipedia und den Community-Noten von X." 

Offen und klar dagegen zu argumentieren, werde immer mühsamer, je deutlicher ganz normale Menschen zu erkennen gäben, "dass sie natürlich für den Klimaschutz seien, dafür aber nicht zum Verzicht auf Wohlstand, gewohnte Verkehrsmittel und ihre geliebten Urlaubsreisen bereit". Er habe sich lange gegen die Erkenntnis gewehrt, dass der große Kampf womöglich verloren sei. "Aber ich will auch ehrlich zu mir selbst sein und andere warnen".

Tiefe Desillusionierung

"Das alles komme ja nicht von irgendwo her", sagt der Klimapfarrer, heute 63 Jahre alt und seit nunmehr 20 Jahren ordentlich ordiniert. Hendirk Krebel-Binde ist Mitglied bei Greenpeace, Attac, dem WWF, dem BUND, Amnesty, FFF, Opas gegen die Erwärmung, der Letzten Generation und weiteren 29 engagierten Organisationen, von denen er heute desillusioniert sagt: "Wir haben mit allen nichts erreicht." Immer wieder habe es Wellen gegeben, in dem er den Eindruck gehabt habe, dass mit Hilfe der Medien bestimmte Botschaften endlich tief eingepflanzt worden seien "Und meist war schon wenig später nicht zu übersehen, dass wir uns wieder geirrt haben". 

Oft seien es Nachbarn und Freunde gewesen, die ihm offen und ehrlich von ihren Überdrussgefühlen berichtet hätten "Sie sagten, es sein einfach zu viel für sich, sie könnten es nicht mehr ertragen, die ständigen Ermahnen, die Versuche, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden." Krebel-Binde macht sich wenig Illusionen darüber, dass es anderen anders geht. 

Zweifel an grüner Nachrichtenwelle

"Wenn ich ganz ehrlich bin, spüre ich diese Übersättigung ja auch selbst." Dass nur immer noch mehr Klimanachrichten, Nachhaltigkeitsbotschaften und eine noch höhere grüne Welle in den Medien wirksamer auf die Gelangweilten und Genervten wirken könnten, glaubt er nicht mehr. "Die, die sich nicht mehr erreichen lassen, werde auch ich nicht mehr erreichen", gesteht sich der Klimapfarrer, der schon als ganz junger Prediger Front gegen die damals noch von Angela Merkel und dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel verantwortete katastrophale deutsche Klimapolitik gemacht hatte (oben). Trotz dieser Meriten aber komme er an "diejenigen, die mir misstrauen, einfach gar nicht mehr ran".

Ihn interessieren nun nur noch diejenigen, bei denen Ansätze von Erreichbarkeit zu erkennen seien. "Sobald jemand Zweifel erkennen lässt und mich bittet, ihn mit meinen Erklärungen in Frieden zu lassen, ist er mich los." Für die anderen, die noch begierig seien, zu erfahren, was Deutschland tun muss, welche Maßnahmen alternativlos sind und wie jeder Einzelne sich einsetzen kann, habe er seine Erzählweise verändert. Krebel-Binde sieht sich auch nach seinem Entschluss, den unbedingten Klimakampf aufzugeben, weiter in der Pflicht. "Ich weiß tatsächlich nicht, ob es eine Gesellschaft langfristig aushält, wenn so viele Menschen Botschaften misstrauen, die doch einstimmig von Politik, Wissenschaft und Medien verbreitet werden."

Der Wasserstoff-Pionier: Abgasfreier und erneuerbarer Stromofen

Der Wasserstoffofen, auch kurz "Urban-Ofen" genannt: Verbrannt wird regional erzeugtes H2, und das ebenso kosten- wie vollkommen rückstandsfrei.


Erst im Winter hat die Bundesregierung den Bau von rund 30 neuartigen Fossil-Kraftwerken beschlossen, die in Strommangellagen zugeschaltet werden sollen. Später werden die H2-ready-Anlagen vielleicht mit Wasserstoff betrieben - noch vor 2040, wenn dann denn genügend Wasserstoff zur Verfügung stehen sollte. Der sächsische Tüftler Jürgen Müller wollte so lange nicht warten. Er hat  seinen alten Ölkessel mit Hilfe des bekannten Erfinders und Innovators Jens Urban jetzt schon in einen innovativen Wasserstoffofen umgebaut, der sein Haus kostenfrei mit grüner Energie versorgt.

Grüner Ofen in Kolbenburg

Es ist noch einmal ein kühler Wintermorgen im sächsischen Kolbenburg, und doch trägt der Mann, der die alte Eingangstür aus historischer Eiche öffnet, nur ein Turnhemd. Jürgen Müller schmunzelt, denn in seinem Haus herrscht auch heute eine wohlige Wärme, ohne dass der 72-jährige frühere Automobilbau-Ingenieur Angst vor explodierenden Kosten haben muss. Müller, kurzes graues Haar, kräftige Muskeln, Dreitagebart, hat vor einem Jahr eine Lebensentscheidung getroffen. "Wir haben unserem alten Ölkessel durch einen innovativen Wasserstoffofen ersetzt, der uns nun mit grüner Energie versorgt", beschreibt er. 

Müller liegt damit weit vor der Bundesregierung, die erst Anfang des Jahres Absichtserklärungen bekanntgegeben hatte, Deutschland noch vor 2040 auf eine Wasserstoffversorgung umzustellen, wenn denn dann ausreichend Wasserstoff angeboten werde. Jürgen Müller konnte und wollte so lange nicht warten. "Unsere Renten hier im Osten sind niedrig", sagt er, "im ersten Kriegsjahr hatte ich das Gefühl, die Energiekosten fressen alles auf, was wir uns in einem langen Arbeitsleben erarbeitet haben." 

Legende der Innvatorenszene

Über eine Erfinderbörse, bei der er als jahrelanger Hobbytüftler selbst Mitglied ist, lernt Müller Jens Urban kennen, eine beinahe schon legendäre Gestalt der deutschen Innovatorenszene. "Ich hatte natürlich von ihm gehört, immer wieder", sagt der Sachse, "aber ihn dann selbst treffen zu dürfen, war dann noch mal was anderes." Urban ist hat in seiner langen Erfinderlaufbahn Atommüllöfen und erneuerbare Kohle, speichernde Netze und Druckluftbatterien erfunden. "Ich habe ihn dann einfach gefragt, ob er nicht eine Idee hat, was wir hier machen können."

Jens Urban hatte. Nur 24 Stunden nach der Anfrage aus Kolbenburg "lieferte er ein spruchreifes Konzept mit Kalkulation und Bauplan", sagt Jürgen Müller bewundernd. Der neuartige Wasserstoffofen, den der in Dessau lebende und arbeitende Innovator zum Einbau empfiehlt, ist ein Prototyp. "Deshalb bot er ihn uns zu den reinen Materialkosten an." Jürgen Müller zögerte keine fünf Minuten. "Ich habe zu meiner Frau gesagt, so eine Gelegenheit bekommen wir nie wieder."

Erstellt aus Baumarktteilen

Denn das Bemerkenswerte am unter dem Namen "Urbanofen H2" patentierten H2-Brenner ist nicht nur, dass er sich aus Baumarktteilen in wenigen Stunden von jedermann aufbauen lässt, sondern auch der Umstand, dass der UOH2 sein Brennmaterial nachhaltig aus der Umgebungsluft gewinnt. Dazu verfügt der Wasserstoffofen über einen speziellen Ansaugstutzen, hinter dem ein mit Abwärme betriebener H2-Umwandler arbeitet. Ganz normale Raumluft wird mit Hilfe von elektrischem Überschussstrom und Leitungswasser aufgespalten, H2 anschließend rückstandsfrei verbrannt. 

"Ich bin absolut begeistert von der Technik und dem Konzept", sagt Müller, der sich schon lange für erneuerbare Energien interessiert hatte, wegen der hohen Kosten aber lange vor dem Kauf eines E-Autos zurückschreckte. "Ich fand schon, dass die kühlerfreien Schnauzen toll aussehen", sagt er, "aber wir konnten es uns einfach nicht leisten, dafür so viel Geld auszugeben."

Überschüssiger Wind wird genutzt

Der Wasserstoffofen, den Müller in seinem Heizungskeller installiert hat, sieht nun gar nicht spektakulär aus, eigentlich eher wie ein normaler Kaminofen, nur etwas größer und moderner. Doch er verbrennt Wasserstoff, den Müller nicht etwa aus der nahegelegenen Tankstelle bezieht, wie Skeptiker meinen. "Nein, wir nutzen wirklich überschüssigem Wind- und Solarstrom, der hier regional anfällt", bestätigt Jürgen Müller, "das ist viel umweltfreundlicher als Öl oder Gas, denn bei der Verbrennung von Wasserstoff entsteht nur Wasser". 

Jens Urban, der das revolutionäre Konzept ausgetüftelt hat, entschied sich für Wasserstoff, weil er "ein sehr effizienter Brennstoff, der viel Wärme erzeugt", wie er selbst sagt. Durch die hohe Flüchtigkeit sei er zudem gut komprimierbar und im verflüssigten Zustand lange haltbar.

Müllers Wasserstoffofen ist mit einem Wärmetauscher ausgestattet, der die Wärme an einen Pufferspeicher weiterleitet. Von dort aus wird sie über eine Fußbodenheizung im ganzen Haus verteilt. "Das ist sehr angenehm und spart uns im Grunde sämtliche Heizkosten", sagt Müller, der früher rund 1.500 Euro im Jahr für Erdgas ausgeben musste. "Das ist war zwar etwas mehr als für Öl, aber dafür ersparte es uns den eigenen Tank." Wenn auch nicht das schlechte Gewissen: Ans Klima hätten sie schon immer wieder gedacht, gerade nach Kriegsausbruch. "Aber ohne zu Heizen geht es ja auch nicht."

Bisher zumindest. Nun sind Müllers allerdings eine der ersten Familien in Deutschland, die mit einem Urban-Ofen heizen. Dessen Firma H2Home will die High-Tech-Geräte schon ab dem kommenden Jahr bundesweit vermarkten. Derzeit läuft in Zusammenarbeit mit dem Claunshofer-Institut für Flüchtige Energiesysteme (IFE) noch eine letzte Optimierungsphase. "Wir wollen zeigen, dass Wasserstoff eine sinnvolle Alternative für die Wärmeversorgung im Gebäudesektor ist", sagt Dr. Mattes Langenholz, der Leiter des Projekts. "Wasserstoff kann haushaltsnah aus erneuerbaren Quellen hergestellt werden, ist leicht zu transportieren und zu speichern und hat eine hohe Energiedichte."

Beeindruckende Energiedichte

Das Projekt wird aus verschiedenen Töpfen zu Kohleaussstieg, Green Deal, Klima- und Hochwasserschutz und EU-Resilienzprogramm gefördert und läuft noch bis Ende 2024. Bis dahin sollen rund 100 Wasserstofföfen in verschiedenen Regionen Deutschlands installiert und getestet werden. Dann beginne unmittelbar der Hochlauf der Produktion. Die Erfahrungen der Nutzer sollen in die Weiterentwicklung der Technik einfließen. "Wir wollen die Kosten und den Wartungsaufwand senken, die Leistung und die Sicherheit erhöhen und die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern", sagt Langenholz, der gelegentlich Skeptikern begegnet, die zum Beispiel Fake News streuen, nach denen der Entzug von H2 aus der Atemluft deren Qualität beeinträchtige. "Dem ist natürlich nicht so", sagt er dann entschieden.

Jürgen Müller ist jedenfalls schon überzeugt von seinem Wasserstoffofen. Er hat ihn auf eigene Faust inzwischen sogar mit einer kleinen Brennstoffzelle gekoppelt, die aus dem Wasserstoff auch Strom erzeugt. Damit kann er einen Teil seines eigenen Strombedarfs decken und sich unabhängiger vom Netz machen. Die Ersparnis werde bald für den Kauf eines E-Autos reichen, da ist er optimistisch. "Ich finde es toll, dass ich mit meinem Ofen nicht nur heizen, sondern auch Strom erzeugen kann“, sagt Müller: "Das ist für mich eindeutig die Zukunft der Energieversorgung".

Sonntag, 15. September 2024

Das Ende der Empathie: Die fatale deutsche Liebe zum Hass

Der Hang zur Hetze ist dem Deutschen eingeschrieben.

Jeder soll alles sein dürfen, alles machen und alles glauben, was er will und dafür im höchsten Maße geachtet werden. Respekt verlangt der Dealer, Respekt verlangt der Schläger, Respekt bekommt der Lügner, der Fälscher beharrt darauf und der Trickser möchte gut dafür bezahlt werden. Widerworte, Zurückweisungen, das Beharren darauf, dass man irgendetwas womöglich auch anders sehen könne, gelten in Zeiten als Kulturbruch, in denen es endlich ein richtiges Leben im falschen geben soll. Arbeit muss nur klimagerecht sein, Konsum zweckdienlich und die kulturindustrielle Betäubung der eigenen Ausbildung zu Höherem dienen, dann entfaltet das Kollektiv eine Kraft, für die das Individuum nur noch dankbar sein kann.  

Grenzenlose Empathie

Voraussetzung ist eben jene grenzenlose Empathie, die das Christentum stetes gepredigt hat, aber nie verwirklichen konnte. Die neue Religion heißt Toleranz, Toleranz bis über die Schwelle des Hinhaltens der anderen Wange hinaus. Niemand muss mehr warten, bis er geschlagen wird. Er darf und soll sich selbst ohrfeigen dafür, dass er nicht derselbe ist wie seine Nebenperson, nicht ganz gleich dem Nachbarn und nicht mit geschlossenen Augen verwechselbar mit allen anderen. Unabhängig von dem, was jeder mitbringt an Geschenken aus der Lebenslotterie soll nicht mehr nur jeder eine Chance bekommen, sondern er soll sie mit demselben Erfolg in jeder Hinsicht verwirklichen müssen wie jeder andere. 

Zugleich (sic!) sollen alle nicht nur gleich sein, sondern ganz dieselben, mit identischen Wertvorstellungen, Träumen, Wünschen und Sehnsüchten. Und alle sollen das wollen, das ist geradezu eine Selbstverständlichkeit in einer Welt, die keine Charakterzüge mehr kennt, keinen angeborenen Drang zum Heucheln, keine Gier auf Karriere und keinen nicht selbstgewählten Hang, alle Fünfe gerade sein zu lassen, wenn ringsum allen der Schweiß tropft.

Auffallende Ausnahmen

Ausnahmen aber gibt es, einige nur und wenige, aber gerade diese Ausnahmen fallen im symmetrischen Gesamtbild einer formatierten Gesellschaft ganz besonders auf. Den außerhalb der Vorstellungswelt, in der der Mensch immer gut und die Absichten immer die besten sind, liegt die Idee, dass auch Männer mit der amerikanische Demiurg Donald Trump, der deutsche Nazi Björn Höcke, die AfD-Vorsitzende Alice Weidel, Erdogan, Putin, Milei oder der Ungar Orban ebenso eine werte- und interessengeleitete Politik betreiben könnten wie die, die von sich selbst sagen, sie täten genau das. Nicht einmal im theoretischen Gedankenspiel schimmert je die Möglichkeit durch, dass es vielleicht nur vollkommen andere Werte und vollkommen andere Interessen sind, die diese als Bösewichter besetzten Männer und Frauen als handlungsleitend empfinden.

Hier, hinter einer Brandmauer aus Urteilen, die meist ohne Verfahren gefällt werden, greift das Urprinzip der Polarität allen Seins: Gibt es das Gute, zu dem man selbst sich zählt, muss das andere das Böse sein, von dem man schon als Kind so viel gehört hat. Frauen und Männer, die anders glauben, denken und handeln als man selbst es tun würde, dürfen deshalb nicht mit Respekt rechnen und auch nicht mit der friedfertigen Toleranz, die sich in 2000 Jahren blutiger abendländischer Kriegsgeschichte als Alternative zum Auskämpfen aller Zwistigkeiten entwickelt hat. 

Animalische Prinzipien

Es regiert stattdessen das animalische Prinzip der Zuschreibung: Wer nicht ist, wie man selbst (gern sein möchte), wer nicht tut, was man selbst zu tun vorgibt, der entpuppt sich damit als das abgrundtief Böse, als ein Mensch, der nur aus Charakterschwächen besteht, keine Moral besitzt, kein Gewissen, und dem an nichts anderem gelegen ist als die Menschheit in einen Abgrund zu stoßen.

Es ist die einfachste Lösung für ein recht kompliziertes Problem. Anzuerkennen, dass es Aspekte der Wirklichkeitswahrnehmung und der Verarbeitung der dabei empfangenen Signale gibt, die zu anderen Schlüssen als den eigenen führen können, bedeutet, einen Hofknicks vor dem Bösen zu machen, das Knie zu beugen vor einer Glaubenswelt, die von der eigenen so weit weg ist wie die deutschen Medien von der Möglichkeit, den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen. Undenkbar.

Die Furcht vor dem Fremden

Das Bemühen, verstehen zu wollen, was einem selbst so fremd ist, birgt die Gefahr, zu erkennen, dass auch dieses Fremde auf der Basis rationaler Glaubensgrundsätze handelt. Es begeht seine Verbrechen nicht aus Bosheit, sondern zu einem Zweck. Es führt seine Kriege nicht, weil es so gern Pulverdampf riecht und Soldatensärge dekoriert, sondern weil seine Annahmen oder seine Schlussfolgerungen aus diesen Annahmen oder beides sich aufgrund einer vollkommen anderen Gewichtung von Tatsachen, Fakten, Gefahren und Chancen grundlegend unterscheidet von dem, was von der anderen Position her gesehen als logisch, wertebasiert und naheliegend erscheint.

Gilt also im Geschäft der Ursachenforschung normalerweise das Prinzip des qui bono, weil der Nutzen stets am einfachsten zum Nutznießer führt, dann fehlt dieses Moment hier aus gutem Grund: Während das eigene Weltbild als so tragfähig einschätzt wird, dass es keiner faktischen Begründung mehr bedarf, weil auch so vor jedem jüngsten Gericht bestehen wird, muss das der Gegenpartei nicht einmal mehr angeschaut werden, weil es das einfach nicht verdient. 

Es regiert die Unterstellung

Stattdessen regiert die Unterstellung: Wie dem Teufel, dessen Motivation die christliche Lehre niemals auf den Grund zu gehen versucht hat, sind auch die modernen Bösewichte auf der Weltbühne in der Regel nicht einmal an ihrem eigenen Vorteil interessiert. Etwas Rätselhaftes, Unergründliches drängt sie dazu, die Welt in einen Abgrund aus Krieg, Krisen und Verelendung zu stürzen, Millionen verarmen und verhungern zu lassen, die Überlebenden zu spalten und nach ihrem Sieg über ein Reich aus rauchenden Trümmern zu regieren.

Es ist wie Hollywood-Kino, ein wüstes Panorama voller Palpatines, die herrschen wollen, ohne daraus einen Vorteil zu ziehen, die kein Ziel haben außer dem, ihre Charakterdefekte möglichst plakativ auszustellen, und denen an nichts mehr gelegen ist als an einem möglichst schlechten Eindruck, den sie in späteren Geschichtsbüchern zu hinterlassen trachten. Vor diesen Menschen endet die Empathie, diese Figuren dürfen auf keine Toleranz hoffen. Ihnen ist mit Ablehnung zu begegnen, für sie ist der in den zurückliegenden Jahren als gefährliches Gefühl in Verruf geratene Hass gerade schlecht genug. Den liebt der Empath, wenn er die Richtigen trifft. Dem huldigt der Tolerante, weil er ihn als Waffe erkennt.

Der ist gut, wo er den Schlechten gilt.

Abriss der Erdgasnetze: Hilfe im Anzug

Schützend stellte sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Höhepunkt der Energiekrise vor die fossile Infrastruktur. Die Colorschraffierung des Malers Kümram zeigt ihn in seiner berühmten Pose als Turbinenmann.

Niemand will es haben, jedenfalls soll es nicht vor der eigenen Haustür gefördert werden. Alle brauchen es, Energiewende hin oder her. Selbst das Kanzleramt in Berlin und der Brüsseler Berlaymont-Palast, in dem Ursula von der Leyen die Klimawende plant, werden mit Erdgas angetrieben, auch der Bundestag, zahllose Abgeordnetenbüros im politischen Berlin, die grüne Parteizentrale und die abhängten Ostgebiete in Thüringen und Sachsen hängen vor allem im Winter von dem flüchtigen fossilen Energieträger ab.  

Elektrifizierung der Gesellschaft

Es geht nicht anders, denn die Umstellung auf Elektroenergie scheitert momentan noch an der Mathematik: 80 Prozent der in Deutschland verbrauchten Energie ist kein Strom, sondern Ergebnis der Verbrennung von Erdgas, Erdöl, Kohle und Biomasse. Dass mehr als die Hälfte der im Lande genutzten Energie elektrisch ist, zeigt vor allem, wie weit der Weg zur vollständigen Elektrifizierung noch wird. Einmal verdoppeln, dann sind 20 Prozent geschafft. Dann nur noch fünfmal so viel, und die große Transformation ist beendet.

Ohne Gas geht es nicht, aber irgendwann auch nicht mehr mit. Der später wegen einer Korruptionsaffäre aus dem Amt geschiedene grüne Staatssekretär Patrick Graichen wusste das schon sehr früh. Mitten auf dem Höhepunkt der Energiekrise forderte der visionäre Vordenker des Energieausstieges die deutschen Gasnetzbetreiber zum ersten Mal auf, mit dem Rückbau der Netze zu beginnen. Die seien demnächst überflüssig, 380.000 oder 511.000 Kilometer störende Rohre quer durchs Land, genau weiß niemand, sicher aber ist, dass der Anriss dieser Infrastruktur unumgänglich sein wird. Wenn erst alle wie geplant mit Strom und Fernwärme heizen, braucht kein Mensch mehr Gasleitungen bis ins Haus. Also weg damit, forderte Graichen.

Schlag gegen Russland

Um die Umwelt zu schützen, erhöhte die Bundesregierung nach dem Ende der Energiekrise umgehend die Preise. Die Drehung an der Steuerschraube sollte den Verbrauch senken, wirkte aber aufgrund der "steigenden Reallöhne" (Olaf Scholz) nicht wie gedacht. Trotz des Erfolges der von der EU verhängten härtesten Sanktionen aller Zeiten importiert die europäische Gemeinschaft inzwischen wieder mehr Erdgas aus Russland als aus den befreundeten USA. Ganz Norwegen hat sich dank der fossilen Verkäufe an Deutschland inzwischen ein Elektroauto zugelegt und fungiert nun als globales Vorbild: Wer jahrzehntelang mehr Öl und Gas pro Kopf der Bevölkerung fördert als Saudi-Arabien, kann sich selbst eine grüne Energiewende locker leisten.

Deutschland zieht hier allerdings nicht nach. Die wenigen Lagerstätten liegen unter wertvollen Naturflächen oder - anders als in Norwegen - mitten im Meer. Ein Argument mehr für den Erdgas-Ausstieg und den Netzrückbau, der allmählich auch Form annimmt: Die Bundesnetzagentur (BNetzA), eine Behörde, die unter dem direkten Einfluss der Politik schon lukrative und rechtswidrige Entscheidungen getroffen hat, hat im Projekt "Kanu 2.0" die Kosten hochgerechnet, die anfallen werden, um nach dem Start mit den Nord-Stream-Pipelines auch den Rest der kritischen Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung mit Erdgas loszuwerden.

Ein teurer Spaß

Es sind Summen, über die derzeit noch nicht gesprochen werden soll. Derzeit importiert Deutschland Erdgas im Gegenwert von 24,8 Milliarden Euro, das für rund 80 Milliarden Euro an die Endverbraucher verkauft wird. Nach den Berechnungen der Bundesnetzagentur versprechen die Rückbaukosten in Höhe von etwa 20 bis 35 Milliarden Euro, den Preis für Erdgas um etwa 20 bis 40 Prozent zu erhöhen. 

Das träfe am Ende allerdings nur die Kunden, die den Umstieg auf Wärmepumpe und Fernwärmeversorgung verpasst haben, weil sie zur Miete wohnen, sich fahrlässigerweise kein eigenes Haus oder eine Eigentumswohnung zugelegt haben oder ein Eigenheim in der falschen Gegend besitzen, abseits von Fernwärmetrassen oder in wirtschaftliche so weit zurückliegenden Regionen, dass die thermische Ertüchtigung ihres Altbaus an finanziellen Beschränkungen scheitert.

Die Bundesregierung hat das Problem zum Glück rechtzeitig erkannt. So viel höhere Kosten für Gas, weil die Gasnetzentgelte aus immer weniger Kassen gezogen werden - da droht eine neue Neid- und Mangeldebatte um die Frage, weshalb die ärmeren Bürgerinnen und Bürger mit ihren Steuern Fördermittel spendieren, um Wohlhabenderen und Überreichen den Umstieg auf Wärmepumpe und Elektroauto zu erleichtern. Während sie mit den teuren Erdgasrestnetzen zurückbleiben, weil sie sich weder das eine noch das andere leisten können.

Höhere Kosten vorziehen

Um das zu verhindern, will die Ampel-Koalition die absehbaren kräftigen Kostensteigerungen vorziehen. Nach dem von der BNetzA vorgelegten Schutzplan zahlen alle jetzt gleich mehr, damit die Letzten nicht die Hunde beißen, zumindest nicht so sehr. Durch die solidarische Finanzierung der Vernichtung der Erdgasnetz-Infrastruktur könnten spätere Erhöhungen abgemildert werden, heißt es im "Kanu 2.0"-Plan der Bundesnetzagentur. 

Da "erhebliche Teile" der früheren Gasnetz-Investitionen durch die Klimaschutzbemühungen der Bundesrepublik bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts "verpuffen" würden, weil Deutschland sich bis 2045 zu einer "Netto-Treibhausgasneutralität" verpflichtet habe, sei es erforderlich, bereits jetzt mit höheren Netzentgelten in die Finanzierung des Endes der Gasnetze hin einzukassieren. Anderenfalls drohten im Transformationsprozess "zu hohe Entgeltsprünge", die wiederum die politische und gesellschaftliche Stabilität bedrohen. 

Anschub zum Ausstieg

Lieber langsam nach dem Froschprinzip, dafür aber für alle und zugleich ausstiegsmotivierend. Die BNetzA schlägt mit dem Kanu-Plan zwei Fliegen mit einer Klappe: Früher stark steigende Gaspreise durch die "regulatorische Flankierung des Transformationsprozesses" sorgt für den schnelleren Gas-Ausstieg aller, die es sich leisten können. Zurückbleiben die Ewiggestrigen mit ihrer einkommensbedingten Vorliebe für Gasheizungen in schlecht gedämmten Altbauten. Ein warnendes Beispiel dafür, dass sich mit dem Klima nicht schachern lässt.

Samstag, 14. September 2024

Zitate zur Zeit: Alles schlecht

Ein Staat, der alles macht, macht alles schlecht.

Javier Milei

Noral: Wenn Werte vor allem nützen müssen

Für Fälle anwendungsorientierten Moral hat die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) den Begriff "Noral" vorgeschlagen.

Es klingt fast wie die Vorlage und kostete die Beamten und Angestellten in der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin Monate angestrengter Arbeit. Dann war es amtlich: Als "Noral" soll künftig im Alltag bezeichnet werden, was bisher als anwendungsorientierte Moral mühsam umschrieben werden musste. Im politischen Geschäft war es dadurch häufig zu Missverständnissen und Falschauffassungen gekommen - etwa, wenn Positionen, die gesellschaftlich lange als unmoralisch gebrandmarkt worden waren, über Nacht zur offiziellen Regierungslinie erklärt worden waren.

Abhilfe für die Ampel

"Noral" soll Abhilfe schaffen und helfen, die Politik der Ampel noch besser zu erklären, ohne den als herabwürdigend wahrgenommenen Begriff "Doppelmoral" zu benutzen. Das neugeschaffene Wort ist dabei nach Angaben von BWHF-Chef Rainald Schawidow nicht nur ein "elegantes Spiel mit dem englischen Wörtchen ,No' für Nein", sondern auch ein Akronym. Das "N" in der Neubildung steht Schawidow zufolge für "nützlich", das "O" hingegen für "Objekt". Ausgedrückt werden solle damit, dass anwendungsorientierte Moral von Fall zu Fall, aber immer nach Brauchbarkeit von Werten und ideologischen Grundsätzen wertet. Im "No" stecke nicht von ungefähr auch der Wortanfang von  "Notwendigkeit".

Noral hilft aus Erklärungsnöten, wenn ein wichtiges Werkzeug der Opposition sich als Bundeshetzkanal entpuppt oder Satire alles darf, nur nicht immer." Rainald Schawidow nennt den Umgang bedeutsamer westlicher Medienkonzerne mit der Kurznachrichtenplattform X als aktuelles Beispiel. Nachdem sich das Unternehmen geweigert hatte, nach der Übernahme durch Elon Musk ebenso zügig pleitezugehen wie Russland, habe kurze Zeit noch die Hoffnung bestanden, dass alternative und besser gepflegte Gesprächsräume wie Mastodon und Bluesky die von Hetze, Hass und Zweifeln genervten Nutzer zu sich hinüberziehen. "Aber obwohl viele große Stimmen mit zahlreichen Followern versucht haben, ein entsprechendes Vorbild zu geben, hat sich das nicht erfüllt."

Medial kein Hasskanal

Stattdessen erforderten es weltpolitische Ereignisse, sich medial wieder vor den Hasskanal zu werfen. "Als der venezolanische Diktator X nach seiner umstrittenen Wiederwahl sperren ließ, konnte das gar nicht anders erklärt werden als mit dem üblichen autoritären Vorgehen eines vom Volk abgelehnten Systems gegen ein "wunderbares Werkzeug des Widerstandes", wie der Bayrische Rundfunk den Messenger Telegram auf dem Höhepunkt der Proteste der belorussischen Opposition gegen Machthaber Alexander Lukaschenko getauft hatte.

"Niemand konnte oder wollte zu diesem Zeitpunkt ahnen", dass sowohl Telegram als auch X schon wenig später wieder infrage gestellt werden müssen. Frankreich nahm den Telegram-Gründer fest, das erst vor kurzem wieder demokratisierte Brasilien sperrte X, in Deutschland forderten der grüne Vordenker Anton Hofreiter und Katarina Barley, die nach kurzem Wahlkampf wieder nach Straßburg entschwundene starke Stimme der SPD, dass Europa nachziehen müsse, um die Verbreitung von  "menschen- und verfassungsfeindlichen Inhalte" "an der Wurzel" anzugehen.

Digitale Radikalisierungen

Die wächst nicht irgendwo, die schlägt nicht aus, weil Bürgerinnen und Bürger aus nur ihnen bekannten Gründen meinen, sie müssten sich auf elektronischem Weg Luft machen wie früher am Stammtisch. "Die Wurzel", zitiert Rainald Schawidow aus dem Entwicklungs- und Fertigungsauftrag für einen "beschreibenden Begriff, der künftig anstelle von ,Doppelmoral' verwendet werden soll", "liegt in Radikalisierungen im digitalen Raum". Mit "Noral" antworte die BWHF zielgenau auf eine neue Herausforderung. "Wenn zwei das Gleiche tun, aber nur einer dafür kritisiert wird, kann das in Zukunft nicht mehr als Doppelmoral ausgeschmiert werden."

Es ist Noral, eine an Notwendigkeit und Nützlichkeit orientierte neue Moralkategorie, die sich traditionellen Vorstellungen von Moral und Ethik entzieht. Das von einem Kollektiv aus kundigen Worthülsendrehern, Propaganda-Poeten und Schlagwortdichtern zusammengeschraubte brandneue Wort sei keineswegs nur im digitalen Bedeutungskampf, sondern jedoch gesellschaftsübergreifend anwendbar, ist Rainald Schawidow zuversichtlich. "Sobald Werte vor allem nützen müssen, lässt sich über die Erwähnung, es sei eine noralische Pflicht, dieses oder jenes zu tun, in jeder Debatte auf eine Metaebene wechseln, die unerreichbar für Kritik ist."

Freitag, 13. September 2024

Kampf gegen rechts: Verbotszonen gegen Verfassungsfeinde

Solche Verbotszonen gegen Verfassungsfeinde könnten bald überall in deutschen Städten und Gemeinden für mehr Sicherheit sorgen.

Das Verbot der langen Messer reichte nicht, es wurde skrupellos unterlaufen. Pläne, bald auch für kürzere und ganz kurze Klingen ein Trageverbot zu verhängen, drohen daran zu scheitern, dass die Kräfte zu umfassenden und regelmäßigen verdachtsunabhängigen Kontrollen wohl fehlen werden. Ohne große Angst vor Entdeckung könnten Rechtsextreme und Rechtsextremisten weiterhin zumindest kurze Blankwaffen führen - selbst die geplante Ausgabe von Messerberechtigungsscheinen über die Ordnungsämter wird daran so schnell nichts ändern, weil selbst die beste Bürokratie erst in Gang kommen muss und es selbst bis zu einer digitalisierten Meldelösung mehrere Jahre dauern dürfte.

Nutzen für die Falschen

So viel Zeit aber hat Deutschland nicht mehr. Seit Solingen schon ist klar, dass jeder Angriff den Falschen dient. Eine weiter steigende Messerinzidenz droht zum Vernichtungssturm zu werden, der im politischen Berlin keinen Stein auf dem anderen lässt. Guter Rat ist teuer, doch das Geld ist da, weil der Staat gut wirtschaftet hat. Eine Arbeitsgruppe am Climate Watch Institut (CWI) im sächsischen Grimma hat den heißesten Sommer seit Erfindung der Schrift deshalb genutzt, um alternative Lösung für das so lange geleugnete Problem rechter Gewalt zu finden.

Unter der Leitung von CWI-Wissenschaftler Ulf Gerlemann-Samasat, der den Stralsunder Verbrechensbeobachter Lars Rahmberg in sein interdisziplinäres Team holte, gelang es, aus den im Umgang mit der "Messer-Angst in Deutschland" (Bild) gemachten Erfahrungen ein probates Mittel gegen die sogenannten "national-befreiten Zonen" in vielen ostdeutschen Innenstädten zu finden. Rahmberg, der an der Ostseeuniversität im dänischen Bornholm kriminalistische Relativierung lehrt und als besonders guter Kenner der maskulinistischen Messerkultur gilt, die seit Hunderten von Jahren in konservativen und traditionalistischen Kreisen herrscht, riet dabei von Anfang an, auf teure und unerprobte Verfahren zu verzichten.

Klare Ansprache

"Ich bin der Meinung, dass eine klare Ansprache und deutliche Zeichen immer am besten durchdringen", sagt der bekannte Kritiker des medialen Umgangs mit Einzelfällen, die "erst hochgejazzt und nur Stunden später wieder weggepackt werden", wie er sagt. Wichtig sei es, die zuletzt immer wieder vorgelegten Polizeibilanzen zu Messer-Straftaten nicht überzubewerten. "Oft wird dabei nur auf das Messer als verbindendes Element fokussiert und die Täter geraten uns aus dem Blick." 

Ulf Gerlemann-Samasat, der als 2. Assistent der Referatsleiters IV in der Umweltabteilung des CWI eigentlich auf den raschen Rückbau der Öko-Bürokratie spezialisiert ist, stimmt dem im Grundsatz zu: "Bei unserer Suche nach einer Lösung haben wir uns deshalb alle Scheuklappen verboten", sagt er. Von  möglichen Impfstoffen über das generelle Verbot von Messern mit Klingen bis hin "klugen, aber klaren Regeln", die die Vergabe von Messerlizenzen an das Vorlegen polizeilicher Führungszeugnisse abhängig macht und eine Pflichtüberprüfung durch den Verfassungsschutz vorschaltet, sei alles "ohne Vorgaben von oben" bedacht worden.

Einfache Lösungen

Die Lösung, die die Forschende nun vorschlagen, ist verblüffend einfach: Wie heute schon an vielen Orten in Deutschland bereits Messerverbotszonen ausgewiesen werden, plädiere man für die Einführung einer neuen Verbotszonenkategorie, die Nazis generell ausschließt. "Das erspart die schwierigen Kontrollfragen, die sich beim absoluten Messerverbot stellen", sagt Gerlemann-Samasat. An ihren Springerstiefeln, den Glatzen, einschlägigen T-Shirts, Jacken und Tattoos sei die Mehrzahl der Gefährder für geschulte Beamte sofort zu erkennen. "Auch diejenigen, die versuchen, sich mit eher linksüblichen Statussymbolen zu tarnen, fallen in einer Nazi-Verbotszone natürlich auf."

Da es "höchste Zeit" sei, "der Verrohung und Gewalt etwas entgegenzusetzen", europäisches Recht aber verhindere, dass rechtsradikale Gefährder in benachbarte Partnerstaaten abgeschoben werden, "bekommen wir die Zahlen nur über solche klaren Regeln und deutlichen Verbotszonen rasch runter", ist Lars Rahmberg überzeugt. "Über Verbotszonen für Waffen und anlasslose Gepäck- und Taschenkontrollen durch die Bundespolizei", bekräftigt Ulf Gerlemann-Samasat, "machen sich die wirklich harten Gefährder doch nur lustig."

Trump: Der Hetzer der Herzen

Beinahe läuft es in den USA wie in Deutschland: Die Regierung tut seit Jahren alles, um ihre eingeschworenen Gegner ins Amt zu befördern.


Erst hatte der "Gesetzesbrecher Donald Trump" (Karl Doemens) sich die republikanische Partei komplett unterworfen. Dann gewann er die Vorwahlen der Republikaner. Dann das Attentat. Dann der Wahlsieg gegen einen maladen Greis, der aus dem Weißen Haus heraus noch weniger Wirklichkeit wahrnahm als der deutsche Kanzler aus seiner Waschmaschine. Die Präsidentschaftswahlen hatten gerade erst begonnen – da waren sie praktisch schon vorbei.  

Kerze in dunkler Nacht

Doch unversehens kam Kamala Harris, eine Kerze in dunkler Nacht. Die Demokraten schöpften wieder Hoffnung und nicht nur die in der Partei, sondern auch die in Europa. Das Rededuell gewann Harris im Vorbeigehen. Taylor Swift entschied sich anschließend, es die ganze Welt wissen zu lassen. Käptn, mein Käptn!

Seitdem ist es endgültig wieder möglich, dass der Mann, der "einen Putschversuch angezettelt" hat und "sich in vier Strafverfahren wegen insgesamt 90 Gesetzesverstößen verantworten" muss (FR), doch noch gestoppt wird, obwohl er bei Frauen und Männern, bei Menschen mit College-Abschluss und ohne, auf dem Land und selbst in den Vorstädten punktet.

Allen Beobachtern ist nach wie vor ein Rätsel, woran das liegen könnte, Trump ist weder sympathisch noch schön, er ist weiß, alt und arrogant, er missachtet Höflichkeitsformen und hat nicht die Deutschland so sehr geschätzte Ex-UN-Botschafterin Nikki Haley zu seiner Vize-Kandidaten gemacht, sondern einen Buchautor. Ein Umstand, mit dem die Deutschen gleich in mehrfacher Hinsicht üble Erfahrungen gemacht haben. 

Biden ist gegen ihn

Wie alle anständigen Menschen ist Haley aus objektiven Gründen inzwischen gegen ihn. Wie alle Politiker, die nicht wissen, warum der Gegner sie eigentlich dauernd düpiert, hat aber auch Joe Biden begonnen, Trump-Politik zu machen. Grenzen dicht, Obergrenze. Eines der ersten ersten und wichtigsten Wahlversprechen von Kamala Harris war es, Trumpf Trinkgeld-Zusage zu übernehmen. 

Es wirkt das Hebelgesetz der Demokratie,  dem die Deutschen in diesen Tagen staunend bei der Arbeit zuschauen. Binnen Stunden ändern sich Gesetzeslagen, ohne sich zu ändern. Nur weil die alle politischen Mitspielern bekannt ist, dass man die Opposition fordern lassen kann, so lange und so viel sie will. Nur wenn sie fordert, was die Bevölkerung möchte, dann muss man aufpassen. Denn wer nun noch länger leugnet, schaut am Ende zu, wie andere daraus ein Regierungsprogramm machen.

Vorturner und Abrissbirne

Donald Trump ist der Vorturner einer Politik, die weniger Wert auf den Jubel aus Redaktionsstuben, Uni-Bibliotheken und den Vorfeldorganisationen der Parteien legt als auf das gute Gefühl, getan zu haben, was er richtig findet. Ein Instinktfußballer, der ohne Programm auskommt, weil er weiß, was er will.

Trump ist die Abrissbirne für ein in sich geschlossenes politisches System, das sich auch in den USA in einem ersten Zug mehr und mehr Zuständigkeiten für das Leben jedes Einzelnen erteilt hat, stets mit dem Versprechen, sie besser lösen zu können als es sich Bürgerinnen und Bürger je hätten zu träumen gewagt. Um dann in einem zweiten Schritt an der Aufgabe zu scheitern, überhaupt nur festzulegen, was getan, reguliert, überwacht, besteuert und verboten werden muss.

Kampagne unterwandert

Daran ist nichts mehr zu reparieren. Zu groß, zu mächtig, zu bürokratisch erscheint der Apparat, zu sehr von eigenen Interessen geleitet der politische Betrieb. Natürlich ist in EU-Europa noch einmal alles mehrere Stufen komplizierter. Die alles umwölbende Bürokratie findet hier in Zwiebelschichten statt, über den Parlamenten thront eine Art Operettenparlament, über diesem wiederum eine "Kommission", die ihre eigenen Stolperfüße nicht mehr sehen kann und deshalb zuletzt einen intimen Kenner der verfahrenen Verhältnisse um solidarische Hinweise bitten musste. 

Aber das Prinzip ist ähnlich und die Lösungen liegen auf der Hand: Trumps Vorschlag etwa, auf Trinkgelder keine Steuern zu verlangen, war so gut, dass Kamala Harris ihn zu ihrer eigenen machte. Trump hatte sich nun auch die Kampagne seiner Gegnerin unterworfen.

Nicht komplett natürlich. Im Gegensatz zu Harris, über deren Pläne für den "Neuen Weg vorwärts" die Welt bis vor Stunden weitgehend im Unklaren war, hat Trump dafür schon vor Monaten eine Latte von 20 Forderungen und Versprechen ins Internet gestellt. Auf Deutschland übertragen bewegt sich der "König, Guru und diabolische Verführer" (Doemens) irgendwo zwischen CDU, CSU, FDP, BSW, AfD und SPD. 

20 Kernversprechen

Migrant:innen werden wie in Deutschland inzwischen üblich als Gefährder denunziert, Trump verspricht Abschiebungen im großen Stil wie Olaf Scholz, er schürt Sorgen vor kriminellen Ausländern wie Friedrich Merz und er kündigt Steuersenkungen an wie Christian Lindner. Dazu kommt Karl Lauterbachs Schutz der Krankenversicherung, die für alle bezahlbar bleiben soll. Robert Habecks Plan, Deutschland zu einem großen Energieexporteur zu machen, aber gleichzeitig mehr Produktion ins Land zurückzuholen, ist ein Kernbaustein der Angebote des "komplett enthemmten Möchtegern-Autokraten" (FR) an die amerikanischen Wähler.

Jeder, der die Parolen von der EU-Wahl noch im Ohr hat, erkennt das Prinzip. "Wirtschaft liebt Freiheit so wie Du", hieß es da, es ging um "Demokratie schafft Freiheit", "Krieg oder Frieden" und um "Sicherheit", ein "starkes Europa" und darum "innovativer als Silicon Valley" werden zu wollen. Donald Trump hat allen Parteien zugesehen und eine Essenz aus ihren Ideen gekocht. Er wolle ein "Land von Recht und Ordnung" aufbauen, wenn er erst wieder im Oval Office sitze.

Eine Ankündigung von 20 sogenannten Kernversprechen, um Amerika wieder groß zu machen. Karl Doemens, der sein halbes Leben der Verhinderung von grundstürzenden Reformen gewidmet hat, schüttelt es.

  1. Die Grenze abriegeln und die Migranteninvasion stoppen
  2. Die größte Abschiebeaktion der amerikanischen Geschichte durchführen
  3. Die Inflation beenden und Amerika wieder erschwinglich machen
  4. Amerika zum mit Abstand größten Energieproduzenten der Welt machen!
  5. Das Outsourcing beenden und die Vereinigten Staaten zu einer Supermacht der Produktion machen
  6. Große Steuersenkungen für Arbeitnehmer und keine Steuer auf Trinkgelder!
  7. Unsere Verfassung verteidigen, unsere Bill of Rights und unsere Grundfreiheiten, einschließlich der Redefreiheit, der Religionsfreiheit und des Rechts, Waffen zu besitzen und zu tragen.
  8. Den dritten Weltkrieg verhindern, den Frieden in Europa und im Nahen Osten wieder herstellen und einen großen Raketenabwehrschild mit eiserner Kuppel über unserem gesamten Land errichten – alles Made in America.
  9. Die Aufrüstung der Regierung gegen das amerikanische Volk beenden.
  10. Die Epidemie der Migrantenkriminalität stoppen, die ausländischen Drogenkartelle zerschlagen, Bandengewalt unterdrücken und Gewalttäter einsperren.
  11. Unsere Städte wieder aufbauen, einschließlich Washington D.C., und sie wieder sicher, sauber und schön machen.
  12. Unser Militär stärken und modernisieren, um es ohne Frage zum stärksten und mächtigsten der Welt zu machen
  13. Den US-Dollar als Reservewährung der Welt erhalten
  14. Die Sozialversicherung und Krankenversicherung ohne Kürzungen schützen, einschließlich keiner Änderung des Renteneintrittsalters
  15. Stornierung der Elektroautopflicht und Abbau kostspieliger und belastender Vorschriften
  16. Kürzung der Bundesmittel für Schulen, die unseren Kindern kritische Rassentheorie, radikale Genderideologie und andere unangemessene rassistische, sexuelle oder politische Inhalte aufdrängen
  17. Halte Männer vom Frauensport fern
  18. Deportierung von Pro-Hamas-Radikalen, um unsere Universitätsgelände wieder sicher und patriotisch zu machen
  19. Sicherung unserer Wahlen, einschließlich Stimmabgabe am selben Tag, Wählerausweis, Stimmzettel und Staatsbürgerschaftsnachweis
  20. Unser Land vereinen, um es zu neuen und rekordverdächtigen Erfolgen zu befähigen