Mittwoch, 14. August 2024

Thierry Breton: Ein Vormund für 450 Millionen

Ein Zuchtmeister für die Feinde eines zurückgeschnittenen Meinungswildwuchses: Thierry Breton ist ein Gegner der Freiheit
Ein strenger Zuchtmeister für die Feinde eines auf Fasson zurückgeschnittenen Meinungswildwuchses: Thierry Breton ist mit 69 im Rentenalter, lässt aber nicht nach in seinen Bemühungen, die Bürger zu schützen.

Er heißt Thierry Breton, ist 69 Jahre alt, Franzose, und seit fünf Jahren im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron als EU-Kommissar in Brüssel zuständig für "Binnenmarkt und Industriepolitik". Bei der EU-Wahl im Frühjahr musste Breton nicht antreten, Kommissar ist keine Wahlfunktion, die Hände heben müssen nur die Staats- und Regierungschefs und das EU-Parlament, dessen Zustimmung dank ausgiebiger Hinterzimmerabsprachen jeweils als Formsache gilt. Die EU-Bürgerinnen und -Bürger stehen dadurch im "Mittelpunkt des demokratischen Prozesses der EU" (EU), stören aber nicht, wenn es ernst wird.

Im Kampf gegen die Meinungsvielfalt

Und ernst ist es gerade wieder. Seit Jahren schon bemüht sich die Staatengemeinschaft mit aller Kraft, die Meinungsvielfalt im Internet in den Griff zu bekommen. Vor allem beim Portal X, unter dem Namen Twitter noch ein scharfes Schwert im Kampf gegen inkorrekte Wirklichkeitswahrnehmungen, bereitet dem für die Durchsetzung des im Digital Service Act (DSA) festgeschriebenen Regelwerkes zur Meinungsüberwachung zuständigen Ex-Unternehmer große Sorgen. 
 
Nicht einmal vier Wochen war der als erstes "Internet-Gesetz" gelobte DSA in Kraft, als Breton es schon auf eine erste Machtprobe mit X-Besitzer Elon Musk abkommen ließ. Der Amerikaner müsse bei der EU erscheinen, um dort nachzuweisen, dass er alle Auflagen der Gemeinschaft einhalte. Geschehe das nicht, werde die EU-Kommission nicht davor zurückschrecken, den Zugang zu X von ganz EU-Europa aus zu sperren, um  "Hass und Lügen" auszusperren, wie in seinem Ultimatum an den Unternehmer formulierte. 

Ein Rentner als Vormund

Er bekam keine Antwort, blieb aber dran. Obwohl längst im Rentenalter, sieht sich Thierry Breton als Vormund von 440 Millionen EU-Europäern, deren Schutz vor Missinformationen er zu seiner Hauptaufgabe gemacht hat, seit bei Binnenmarkt und Industriepolitik, seinen beiden eigentlichen Aufgabenfeldern, gar nicht mehr gut läuft. 
 
Auch fast ein Vierteljahrhundert nach Einführung der Gemeinschaftswährung Euro bestehen zahllose Handelsschranken zwischen den eigentlich von keinerlei Grenze mehr getrennten Partnerstaaten fort. Bestimmte Güter dürfen nicht oder nur sehr begrenzt zwischen EU-Nachbarländern gehandelt werden. Staaten, die das den Regeln nach längst müssten, weigern sich, den Euro einzuführen. Ein Binnenmarkt für digitale Güter existiert nicht, ebenso fehlt einer für Energielieferverträge, für mobile Kommunikation und Lizenzen. Wer heute in Skandinavien versucht, die deutsche "Tagesschau" zu sehen, erlebt ein Europa der Kleinstaaterei, denn die Hauptdanachrichtensendung von jenseits der Ostsee ist im Norden gesperrt wie X heute schon in Venezuela.

Privatfehde gegen Musk

Für Thierry Breton ist das kein Problem, um das er sich kümmern müsste. Der Franzose, von Musk mit Nichtachtung gestraft, führt im Zuge seiner Bewerbung um eine weitere Amtszeit in Brüssel lieber seinen privaten Feldzug gegen X weiter. "Sehr geehrter Herr Musk", hat er dem Amerikaner jetzt geschrieben, "ich schreibe Ihnen im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen im Vereinigten Königreich und im Hinblick auf die geplante Ausstrahlung eines Live-Gesprächs zwischen einem US-Präsidentschaftskandidaten und Ihnen auf Ihrer Plattform X, das auch für Nutzer in der EU zugänglich sein wird." 
 
Breton, der sich selbst den Titel "EU's digital rights chief" gegeben hat, obwohl die dänische Kommissarin Margrethe Vestager offiziell als "Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft der Europäischen Union" fungiert, erinnert Musk "an die Sorgfaltspflichten, die im Digital Services Act (DSA) festgelegt sind". 
 
Aus diesen Vorschriften ergebe sich "insbesondere, dass einerseits sichergestellt werden muss, dass die Meinungs- und Informationsfreiheit, einschließlich der Freiheit und Pluralität der Medien, wirksam geschützt werden, und dass andererseits alle angemessenen und wirksamen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung schädlicher Inhalte im Zusammenhang mit relevanten Ereignissen, einschließlich Live-Streaming, ergriffen werden, da diese, wenn sie nicht angegangen werden, das Risikoprofil von X erhöhen und sich nachteilig auf den gesellschaftlichen Diskurs und die öffentliche Sicherheit auswirken könnten."

Breton gegen die Freiheit

Ein langer Satz mit fast 600 Zeichen, der nicht zufällig am Tag vor einem von Musk geplanten Interview mit dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump geschrieben wurde. "Da die betreffenden Inhalte für EU-Nutzer zugänglich sind und auch in unserer Gerichtsbarkeit verbreitet werden, können wir potenzielle Übertragungseffekte in der EU nicht ausschließen", schreibt Breton.
 
Daher würden die "potenziellen Risiken in der EU im Zusammenhang mit der Verbreitung von Inhalten, die zu Gewalt, Hass und Rassismus im Zusammenhang mit wichtigen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen auf der ganzen Welt aufrufen können" überwacht, darunter auch "Debatten und Interviews im Kontext von Wahlen".
 
Eine Drohung mit Konsequenzen, sollte Musk in seinem Interview zulassen, dass Trump etwas sagt, das in Brüssel als "Inhalte, der zu Gewalt, Hass und Rassismus aufrufen könnte" definiert wird. Da das Interview als Live-Veranstaltung geplant war, verlangt Thierry Breton nichts anderes als eine Überwachung in Echtzeit mit dem erklärten Ziel, möglicherweise nur von der US-Interpretation der Meinungsfreiheit gedeckte Aussagen Trumps im laufenden Betrieb auszublenden. 

Drohungen mit Sperrung

Geschehe das nicht, ist Thierry Breton zu allem bereit: "Wie Sie wissen", schreibt er an Musk, "läuft gegen X bereits ein förmliches Verfahren auf Grundlage des DSA, insbesondere in Bereichen im Zusammenhang mit der Verbreitung illegaler Inhalte und der Wirksamkeit der Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation." Er stelle hiermit klar, "dass alle negativen Auswirkungen illegaler Inhalte auf X in der EU im Zusammenhang mit dem laufenden Verfahren und der Gesamtbewertung der Einhaltung des EU-Rechts durch X" zu Konsequenzen führen würden. "Ich bitte Sie daher dringend, die Wirksamkeit Ihrer Systeme zeitnah sicherzustellen und meinem Team die ergriffenen Maßnahmen mitzuteilen." 
 
X ist auf Bewährung, Breton ist da sehr klar. "Meine Dienste und ich werden äußerst wachsam gegenüber jeglichen Beweisen sein, die auf Verstöße gegen das DSA hinweisen, und werden nicht zögern, unser Instrumentarium voll auszuschöpfen, auch durch die Annahme einstweiliger Maßnahmen, falls dies gerechtfertigt ist, um die EU-Bürger vor ernsthaftem Schaden zu schützen", kündigt der Bürokrat selbstbewusst tiefe Eingriffe bis auf die Grundsatzebene der Charta der Grundrechte der Europäischen Union an. 

Aussetzung der Grundrechte

Dort hatten Romantiker in Artikel 11 als "Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit" formuliert, dass jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung habe und "dieses Recht die Freiheit einschließt, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben". Lauter und deutlicher hat noch nie jemand angekündigt, dass ihm Grundrechte egal sind und seine Agenda daraus besteht, sie nicht langsam und mit Bedacht zu schleifen, sondern sie mit einem Schlag abzuschaffen.
 
Applaus ist dem Freiheitsfeind aus Frankreich dennoch gewiss: Deutsche Medien folgen seiner Argumentation, dass das dumme Volk bewahrt werden muss vor schädlichen Einflüssen. Elon Musk, der Breton ein "Go fuck yourself" entgegnet hatte, "pöble" gegen den EU-Kommissar, vermerkt der "Spiegel" entsetzt ob der "groben Beleidigung", die beim einstigen Sturmgeschütz der Demokratie für mehr Empörung sorgt als der institutionelle Versuch, Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern einen für funktionierende demokratische Systeme konstitutiven Teil der Grundrechte zu entziehen.

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