Samstag, 31. August 2024

Naher Osten: Was, wenn es ganz einfach wäre?

Eure Verleumdung ist unsere wahrheit
Die Widerspenstigen sitzen im Osten. Ihre Zähmung ist gesellschaftliche Notwendigkeit.

Schließlich musste Jessy Wellmer wieder ran. Es gibt nicht viele ostdeutsche Gesichter im Gemeinsinnfunk, schon gar keine, die jemand vor der Kamera sehen möchte. Doch sich dem Vorwurf aussetzen, dass schon wieder ein Wessi versucht, das undurchschaubare Wesen der Ostdeutschen zu ergründen, war ebenso ausgeschlossen. Also Wellmer, wie immer, eine Reporterin mit Ostgeruch, weil die ersten zehn Jahre ihres Lebens Bürgerin der verblichenen DDR.

Einsatz in Manhattan

Die Seele der Menschen dort ist unergründlich. Sie wollen dazugehören, aber nicht ganz. Sie wollen ihr Ding machen, aber nur so, wie sie wollen. Sie fühlen sich zurückgesetzt und untergebuttert, wählen aber einfach so, was sie meinen, wählen zu wollen. Allen halsbrecherischen Erkundungsversuchen westdeutscher Expertenkommissionen zum Trotz hält dieser Trend seit vielen Jahren. Erst waren es rote Socken, dann rechte Extremisten, zwischenzeitlich entdeckten die Abgehängten im Osten sogar ihre Sympathien für Grüne und SPD, die höhere Löhne und mehr Gerechtigkeit versprachen. 

Was hat das mit der DDR zu tun? Welche Rolle spielt Jessy Wellmer, eine aus dem Osten, die es trotzdem im Westen geschafft hat? Nur dort nachzuschauen, wo die Lage in den Stunden vor der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen so angespannt ist, dass die Bundesregierung in Berlin nicht mehr nur über den einen oder anderen ideologischen Schatten springt, sondern ein Wetthüpfen mit den Grundrechten veranstaltet, reichte der aus Mecklenburg stammenden ARD-Abgesandten für ihre Dokumentation "Machen die Ostdeutschen unsere Demokratie kaputt?" nicht. Sie ließ es sich letztlich in Köln erklären, wo mit Henriette Reker eine bewährte Zeugin bereitsteht, allen, die es nicht ahnen, den Zusammenhang von Unterentwicklung und Renitenz zu erläutern. Puh, der Osten!

Puh, der Osten 

In der ARD ist ein zumindest in Sachsen heimischer Schriftsteller aus der SPD, der den bedrohlichen Rechtsruck analysiert. Im ZDF stammen die Stimmen von verblüfften Funktionären, die sich das alles nie hätten vorstellen können. Historiker finden Sachgründe beim guten alten Topfen, mit dem es nach Dafürhalten eines niedersächsischen Kriminologen immer anfängt, ehe es in Messerstechereien, konservativen Mehrheiten und toten Babys im Blumenkasten endet.

Kolonialwarenhändler machen Front gegen ihre Kunden. Fernsehsender versuchen alles, um zu ergründen, wie es so weit kommen konnte, obwohl sie doch 34 Jahre lang und mit beständig wachsender Intensität für das Gegenteil getrommelt und gepfiffen haben. Renommierte Blätter nehmen Zuflucht zu Verschwörunsgtheorien und sind sicher, dass es die mangelnde Bildung im Osten ist, die die Menschen glauben lässt, die Regierung verschweige der Bevölkerung die Wahrheit. Brauner Bodensatz. Pack. Dummheit. In der Diktatur "verzwergte" (Arnulf Baring) Charaktere, die "nicht weiter verwendbar" sind.

Unvorstellbar erscheint Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft die Vorstellung, die Erklärung könnte eine ganz einfache sein. Was, wenn nicht an Honecker liegt, nicht am System der Polikliniken und der gemeinsamen Zehn-Klassen-Schule, nicht an der Radonbelastung des Trinkwassers, der Fremdbestimmung durch eine zugewanderte Verwaltungs- und Wirtschaftselite, der Pionierorganisation mit ihrem Halstuchzwang, den fehlenden Erbschaften, niedrigen Löhnen, niedrigeren Impfraten oder kleineren Parteigrundorganisationen?  Sondern an, der Gedanke mutet im ersten Moment unerhört an, schlechter Politik, betrieben von Parteien, die aus ostdeutscher Sicht vom ersten Tag an abwechselnd regiert, aber allesamt enttäuscht haben?

Wenn es so einfach wäre

Was, wenn es so einfach wäre? Seit der erste Ex-DDR-Bürger bei einer bundesdeutschen Wahl sein Kreuzchen machte, hat er sie alle durchprobiert, in beinahe allen Kombinationen. Die CDU und die FDP, die SPD und die Grünen, die CDU und die SPD, die SPD, die Grünen und die FDP. Es ist, darüber lässt sich angesichts einer vollkommen und in alle Richtungen verfahrenen Lage kaum mehr streiten, nicht besser geworden. Die treuesten der Treuen unter den Propagandisten fallen vom Glauben ab, Zweifel werden geschürt und wackere Sozialdemokraten werfen das Handtuch, das sie selbst gestrickt haben.

Der Realitätsverlust ist der letzte Schutz vor der Erkenntnis, dass Ostdeutsche, die die bleiernen 80er Jahre in der DDR erlebt haben, im Deutschland der 2020er vieles wiedererkennen können. Die Bräsigkeit einer selbstverliebten Führung, deren Überzeugung, den einzig richtigen Weg zu kennen, nur noch übertroffen wird von ihrer Unkenntnis der Verhältnisse im Land. 

Die alles erstickende Bürokratie, die Liebe zu Regelungen, die Probleme automatisch und unter Vermeidung irgendwelcher Diskussionen beseitigen. Die Medienlandschaft, die alles im Chor singt. Die Pausenclowns im Staatsdienst, deren menschenverachtende Gruppenfeindlichkeit die Gesellschaft spalten soll, um zu übertünchen, dass da nirgendwo mehr eine Idee ist und schon gar "kein Konzept, keine Vision, keinen Plan für die Zukunft".

Hoffnungsschrei als Hilfeschrei

So sieht es Sahra Wagenknecht, eine Kommunistin, deren steile Karriere zur Hoffnungsträgerin der  Sachsen und der Thüringer wie ein Hilfeschrei Verzweifelter wirkt. Dort, wo Menschen von gestern stur darauf beharren, dass sie selbst es sein wollen, die bestimmen, wie schnell und welche Zukunft bei ihnen Einzug hält, fallen alle Ermahnungen auf einen von langer Dürre vernässten Boden, der so vernässt ist, dass es den vielen Regen aus schönen Versprechungen nicht mehr aufnehmen will. Viele Sachsen, die es einmal nach Wiesbaden verschlagen hat, oder nach Duisburg oder nach Hamburg, möchten nur noch ausgrenzen, unter sich bleiben und alles vermeiden, das die Gefahr erhöht, es könne bei ihnen bald auch so aussehen.

Das Argument, es sei doch aber gut, wenn es so werde, erreicht sie nicht, so viele hübsche Verpackungen es auch bekommen hat. Fachkräftemangel, demografische Katastrophe, Klimahitze, Waldbrände, Wassermangel, Männerüberhang, es ist ihnen inzwischen egal, womit gerade davor gewarnt wird, nicht die bewährten Parteien des demokratischen Blocks zu wählen. Ganz im Gegenteil: Gäbe es auf dem Wahlzettel eine Möglichkeit, "keine der genannten" anzukreuzen, würde sich vermutlich eine satte Mehrheit in Sachsen und Thüringen für genau diese Option entscheiden.

Da sie vom Gesetzgeber nicht vorgesehen ist, sind es AfD und BSW, die all diese Stimmen abgreifen.

2 Kommentare:

  1. Nebenbei, in den Ketzerbriefen stand einstens, dass die BASF Anfang der Neunziger ein Verfahren entwickelt hatte, Kunststoffe ohne großartige Trennung unter Energiezufuhr wieder in eitel Erdöl zu wandeln.
    Das wurde von interessierter Seite schnell abgewürgt.
    Lasst es erst einmal sacken.

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  2. Interessant die Verlinkung zum "Topfen". Man staunt, dass selbst das heutige Rinnsteinblättchen "Tagessudel" noch 1999 eine gewisse geistige Höhe aufwies, nun zwar nicht, dass ich das Zeug alles so mit Handkuss unterschreiben würde.

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