Im 16. Jahr verwirft das Bundesverfassungsgericht einmal mehr eine Wahlrechtsreform. Wieder ist Zeit gewonnen. | |
Es konnte doch aber nicht mehr so weitergehen. Zwar war es den politischen Parteien gelungen, die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach geforderte Reform des Wahlrechts immer wieder auf die lange Bank zu schieben. Wolfgang Schäuble tröstete mit leeren Versprechungen, Norbert Lammert sah die Dinge auf einem guten Weg. Doch auch wenn mangels medialer Aufregung draußen im Lande kaum jemand Notiz davon nahm, dass Europas größte Demokratie ihre Wahlen auf einer Grundlage abhielt, die vom Verfassungsgericht als Bruch der Verfassung abgeurteilt worden war, bestand Handlungsbedarf.
Verrat in Karlsruhe
Wenn auch keine Eile. Über mehr als ein Jahrzehnt schleppte sich der Prozess, in dem die Leute, die das verfassungsfremde Wahlrecht gebaut und auf der Basis dieses Wahlrechts in ihre Ämter gelangt waren, ankündigten, bald mit einem großen Wurf um die Ecke kommen zu wollen. Ein kleineres Parlament ohne größere Wahlkreise sollte es sei. Ein gerechtes Abbild der Stimmungslage allerdings lieber nicht, denn niemand weiß ja nie.
So ging es denn dem Direktmandat an den Kragen. Ursprünglich war der direkt gewählte Abgeordnete zwar Kern und Mittelpunkt jeder Volksvertretung. Doch der vermaledeite Mechanismus der Ausgleichsmandate, mit denen weniger erfolgreiche Parteien für verpasste Mehrheiten belohnt werden, funktionierte verblüffenderweise wie der Mindestlohn und das Bürgergeld: Je mehr Gerechtigkeit durch mehr Großzügigkeit geschaffen wurde, desto ungerechter wurde es.
Ein unsagbares Rätsel
So hatte der Bundestag 1991 661 Abgeordnete, die 60,4 Millionen Bürger vertraten. 30 Jahre später waren es 733 Volksvertreter, die für 61,2 Menschen draußen im Lande emsig engagiert waren. Eigentlich vertritt jeder Parlamentarier im Bundestag etwa 91.000 Wählerinnen und Wähler. Die neu hinzugekommenen allerdings stehen im Grunde nur für etwa 11.000. An ihnen aber hängt das Schicksal der Nation: Einmal da, gehen sie nicht mehr weg. Aus 16 sogenannten Überhangmandaten, die wiederum ausgeglichen werden mussten, wurden zwischen 1994 und 2021 sagenhafte 138. Die Zahl der Abgeordneten liegt damit derzeit 133 Sitze über der gesetzlich festgelegten Soll-Größe von 598.
Die Ursache war ein Rätsel, dem der demokratische Block keineswegs auf den Grund gehen wollte. Stattdessen schreinerten unterschiedliche Koalitionen unterschiedliche Krücken mit dem Augenmerk auf ein Design, das gern die aller anderen, aber möglichst nicht die eigenen Wahlchancen beeinträchtigen sollte. Versuch macht klug und hier brauchte es mehrere: Was auch getan wurde, um so zu tun, als werde etwas getan, am Ende wies das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe jedes Mal darauf hin, dass der als Verfassungsbrecher notorische Gesetzgeber zu weit oder aber lange nicht weit genug gegangen war.
Der letzte Versuch
Der letzte Versuch zielte dann auf den Kern des demokratischen Gedankens. Weil die anderen Parteien die Direktmandate holen, die eigenen Kandidaten aber meist nur auf dem Aushilfsweg über die Parteienlisten ins Parlament einziehen, zimmerte die Ampelkoalition das Wahlrecht so um, dass aus den mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordneten Volksvertreter zweiter Klasse werden, die nur dann noch ein Mandat erlangen, wenn die mit der Zweitstimme gewählten Listenkandidaten nicht schon alle Plätze besetzen. Auf Empfehlung der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) wurde die Erststimme dazu in Auchstimme umbenannt und die Parteienstimme auf "Hauptstimme" getauft.
Ein Manöver, das so durchsichtig war, dass es vom Bundesverfassungsgericht als durchaus zulässig bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Sperrklausel, die Parteien benachteiligt, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten würden, bei der Sitzverteilung aber nicht mehr berücksichtigt werden sollten, wenn sie im Bundesgebiet weniger als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Diese Regelung bedeute "eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis", urteilt das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die klagende CSU. Die könne von der Sperrklausel am Einzug ins Parlament gehindert werden. Obwohl sie dort eine Koalitionsgemeinschaft mit der CDU bilde.
Während die Streichung der Grundmandatsklausel nun also vereinbar ist mit dem Grundgesetz, das die Wichtigkeit des direkten Mandats ausdrücklich betont, ist es die getrennte Betrachtung von Wahlergebnissen von Parteien, die im Parlament kooperieren, nicht.
Ein schöner Erfolg
Doch bei allem Katzenjammer, der nun folgen wird, und bei den Vorwürfen, dass nun auch die kommende Bundestagswahl wieder auf der Basis eines kaum mehr handhabbaren Wahlrechts abgehalten werden muss, bliebt doch ein Erfolg zu konstatieren. Seit dem ersten Verfassungsgerichtsurteil zum Wahlrecht vom 3. Juli 2008, mit dem dem Gesetzgeber eine Änderung des Bundeswahlgesetzes bis zum 30. Juni 2011 aufgegeben worden war, sind stolze 16 Jahre vergangen, ohne dass mehr geschehen ist, als immer mal wieder eine Reform anzukündigen, die dann immer wieder von Karlsruhe verworfen wurde.
Ein schöner Erfolg, der seine Fortsetzung findet: Bis zu einer Neuregelung bleibt die Grundmandatsklausel weiterhin bestehen. Und mit ihr aus Gründen der Gerechtigkeit auch der Ausgleichs- und Überhangapparat.
Was soll's. Parteienwahl statt Personenwahl ist Bullshit und gehört verboten.
AntwortenLöschenIch glaube, ich habe eben den Staat delegitimiert. Ich werde mich selber melden.
Gysi ist der Beste
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Gysi zum Urteil aus Karlsruhe – „Man muss Absatz für Absatz sehr genau studieren“
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Warum er das in all den Jahren seit 2008 verabsäumte, es gab ja reichlich zu studierende Absätze seit dem ersten Urteil, bleibt sein Abgeordnetengeheimnis.
der nachdenkliche wirkt immer am längsten
AntwortenLöschenGysi ist der Beste ....
AntwortenLöschenWenigstens bildet er, als ein typischer Ihrwisstschon, sich dieses aus innerer Überzeugung ein. Ist er aber nicht. Vielleicht bekomme ich noch Gelegenheit, ihm einmal mein speculum musculi tricipitis zu zeigen, der Anblick hat so manchen Herren aus dem sozialen Grenzbereich von Dummheiten abgehalten.
Auch ein frommes Huhn trinkt mal 'n Korn:
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Der Klaus sagt:
30. Juli 2024 um 2:01
Auch Polen ist voll von IHNEN!!
https://dert.tech/europa/213958-polens-aussenminister-frieden-kann-mit/
„Laut dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski ist die Friedensmission von Premierminister Viktor Orbán sinnlos und wird zu keinen wesentlichen Ergebnissen führen.„
https://en.wikipedia.org/wiki/Rados%C5%82aw_Sikorski
„Since 1992, he has been married to American journalist and historian Anne Applebaum„
🥱🥱 … immer dasselbe.
Für Die Masse bleiben SIE unsichtbar.
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Genau. Das nimmt z.B. auch keiner zur Kenntnis, dass Trump der Kandidat von "DENEN" ist.
LöschenUnd dann "kritisieren" SIE Deutschland, dass es sich gerade wirtschaftlich vor den Baum fahren würde...
Ganz geschickte sind das! Ganz geschickte!
Dumm nur, dass SIE auch ab November unsichtbar und unbeachtlich bleiben werden.
(Und weitweitweg im Osten lächelt ein weiser alter Mann mit akuratem Haarschnitt leise und verschmitzt in sich hinein.)
Schön, dass die Kommentare hier nicht so streng am Thema kleben müssen.
AntwortenLöschenIch zitiere denn aus den Memoiren des ehrenwerten Sir Hugh Carleton Greene:
"In meiner Rede im großen Konzertsaal, wo ich mich vor mehr als zwei Jahren zum ersten Mal an die NWDR-Mitarbeiter gewandt hatte, unterstrich ich – dies übrigens weder zum ersten noch zum letzten Mal - dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk staatlichen und parteipolitischen Zwängen so weit wie möglich entzogen sein muss… Als ich vom Podium herunterkam, knurrte mir Herr Brauer, der Bürgermeister von Hamburg, leise, aber unüberhörbar feindselig ins Ohr: »Sie werden Ihr Ziel nicht erreichen, Mr. Greene. Sie werden es nicht erreichen.«" (Herr Brauer war übrigens von der "Verraten"-dies-das-Partei.)
Btw.. Gesetzt den Fall, dass die Mamis und Papis von es Grundi vergleichbare demokratische Frohnaturen waren, wollten die dieses Mehrheitswahlrecht möglicherweise gar nicht. Das taugt doch nur für Bürgermeisterlein und Ganzweitdraußenaufdemlandräte.
Aber für die Mitglieder des Bundestags? Keine Vertreter ihres Wahlkreises, sondern der gesamten Wahlbevölkerung? Niemals.
Da musste die Parteienlösung her, um gerechte Verteilung der Fleischtö... ähm... Lenkung der Geschicke des Landes zu erreichen. Die Mehrheitswahl war dann doch wohl bloß eine lex bavaria, den grantelnden Sozialchristlichen nicht den Zusammenschluss mit dem Unsozialchristlichen bei Strafe fer Bedeutungslosigkeit aufzuzwingen und vielleicht sogar den Anschluss Bayerns an Österreich zu provozieren.
Aber ich schweife ab.