Samstag, 6. Juli 2024

Nord-Stream-Anschläge: Erster Erfolg bei der Tätersuche

Bis zuletzt forderte die Linke den Weiterbau, alle anderen Fans von Nord-Stream 2 hatten sich da schon als langjährige Kritiker des "Prestigeprojekts des Kreml" (Baerbock) zu erkennen gegeben.

Erst war es ganz sicher der Russe, danach ganz lange niemand mehr. Als die Erdgas-Pipelines Nord Stream I und Nord Stream II im September vor zwei Jahren unversehens explodierten, herrschte selbst in Deutschland, dem Staat, der den unterseeischen Rohren seine Energieversorgung anvertraut hatte, nur einige Stunden lang helle Aufregung. Kluge Kenner der globalen Szene verwiesen auf Mahnungen, die es vorher nicht ohne Grund gegeben habe.  

Keine Rücksicht auf Terroristen 

Ein Krug, der trotzdem weiter zum Wasser gehe, breche dann eben. Der Bundeskanzler selbst, Chef aller Chefsachen, meldete sich zu Wort und ließ erkennen, dass Europas größte Wirtschaftsmacht diesen Anschlag auf einen Teil der kritischen Infrastruktur nicht ungesühnt lassen werde. "Da kann keiner auf Rücksicht hoffen", drohte Scholz in einer sommerlichen Audienz, die er ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern gewährt. 

Unerbittlich jagte die Generalbundesanwaltschaft die sogenannten "Verursacher der Nord-Stream-Explosionen" (ZDF) seitdem, selbst noch, als Schweden, Dänemark und Polen die Ermittlungen rund um das krachende Ende eines Projektes eingestellt hatten, das nach neuerer Lesart als "einer der großen Irrtümer der Ära Angela Merkel" (T-Online) bezeichnet werden soll, obgleich es auf einer Idee der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer gründete.

Alles voller langjähriger Gegner

Erst als die Rohrleitung fertig war, wollte sie niemand mehr haben. Nicht einmal derjenige, der sie abgeschaltet hatte, wollte irgendwer sein. Dass die europäischen Versorger Uniper und die BASF-Tochter Wintershall Dea,die österreichische OMV, Frankreichs Engie Energy und der niederländisch-britische Multi Shell einst nicht ohne grünes Licht ihrer Regierungen in das Milliardengeschäft eingestiegen waren, hatte mit nichts zu tun, im Grunde genommen war es nie geschehen.

Die damalige Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock lieferte eine zeitgemäße Neuinterpretation der Pipeline als "Prestigeobjekt des Kremls" (Baerbock). Ihr Parteikollege Robert Habeck nutzte seine ersten Tage im Amt, um die von der Vorgängerregierung ausgestellte Bescheinigung einzukassieren, dass Nord Stream 2 "die Widerstandsfähigkeit des europäischen Gasversorgungssystems erhöhe". Was nicht passt, wurde passend gemacht, um das "fatale Projekt" (Baerbock) als "Wette gegen die europäischen Klimaziele" zu enttarnen, das es Europa unmöglich machen werde, seine Klimaziele zu erreichen.

Grüne setzen ganz auf Gas

Eine wagemutige Ansage aus einer Partei, deren Energiestrategie im Ersatz von Kernkraft- und Braunkohlekraftwerken durch Gasturbinen besteht. Doch ab dem 26. September 2022 erübrigten sich gehässige Nachfragen: Unbekannte sprengten die Pipelines. Die Warnungen der Freunde in Übersee hatten sich bewahrheitet. Mehr musste niemand wissen, genauer wollte es sich auch niemand sagen lassen, schon gar nicht von einem amerikanischen Enthüllungsreporter. Die "Tagesschau" zeigte später zwar Fotos der Täter. Doch den Frauen und Männern, die im Verdacht der "verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 des Strafgesetzbuches) und anderer Straftaten im Zusammenhang mit der Beschädigung der Nord Stream Gaspipelines in der Ostsee" stehen, kamen die Ermittler nicht näher.

Bis jetzt. Nun endlich, 640 Tage nach dem "schwerwiegenden Angriff auf die kritische maritime Infrastruktur" (NDR) sind die ersten Tatverdächtigen ermittelt, die ersten Strafen sogar schon ausgesprochen. Bereits im Februar hatten die Strafverfolgungsbehörden ihre Ermittlungen vom Sprengstoffattentat zur Vernichtung der Erdgasleitungen auf die Vorgänge rund um deren Bau ausgedehnt, weil der Verdacht im Raum steht, dass bereits die Errichtung von Nord Stream II "deutsche Sicherheitsinteressen verletzt" (Generalbundesanwalt) haben könnte. Die Bundesnetzagentur flankiert dieses Vorgehen gegen Verantwortliche der von der SPD geführten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern jetzt mit einem harten Schlag gegen den Fernleitungsnetzbetreiber Gascade, "weil dieser fehlerhafte Werte zu Nord Stream 2 veröffentlicht hatte".

Bissiger zahnloser Tiger

Der Rechtsstaat, wegen seiner sichtlichen Ratlosigkeit angesichts der Probleme, die ein mögliches Ergreifen der Attentäter mit sich bringen könnte, von seinen Feinden lauthals verhöhnt, zeigt mit dem strengen Ahnden der infolge von IT-Problemen gemeldeten falschen Werte zu den Gasflüssen im August 2021, dass er nicht der zahnlose Tiger ist, für den ihn so mancher hält

Nein, wo es passt, packt er zu. "Da kann keiner auf Rücksicht hoffen", wie Olaf Scholz prophezeit hatte. Die Gascade Gastransport GmbH, eine Tochtergesellschaft der Wiga Transport Beteiligungs-GmbH, die wiederum ein Gemeinschaftsunternehmen des eben nach Großbritannien verkauften letzten deutschen Öl- und Gasförderers Wintershall Dea und der bundeseigenen Berliner Firma Securing Energy for Europe ist, muss nun zahlen. 

75.000 Euro.

Freitag, 5. Juli 2024

Die letzten Tage von Berlin: Klingbeils größte Rolle

Kommt die Armee Wenck? Steht das Volk auf und bricht der Sturm los, der die Feinde der offenen, bunten Gesellschaft hinwegfegt? Was wird aus der demokratischen Mitte, wenn die Ränder immer näher rücken und ganze Bundesländer drohen, in ihrer Entwicklung um hundert Jahre zurückzufallen?

Lars Klingbeil hatte mit Bedacht zum großen Schwarzen gegriffen, ehe er sich vor die Kamera setzte, um über das chinesische Spionageportal TikTok Kontakt zur deutschen Wohnbevölkerung aufzunehmen. Die Lage ist ernst, die Stimmung trübe. Klingbeil trägt schwarzes T-Shirt, schwarzes Jackett, und er hat schwarze Visionen mitgebracht. "Liebe Leute, die Lage ist ernst – und nicht erst seit gestern, sondern zunehmend und schon lange", kauderwelscht der halbe SPD-Parteivorsitzende in seiner aufrütellnden Alarmmeldung aus der Parteizentrale.

Schwarzer Fleck vor weißer Wand

Klingbeil sitzt vor einer weißen Wand, ein schwarzer Fleck mit dunklen Augenschatten, der seine Unterarme auf einen polierten Schreibtisch stützt. Das Haar ist auf wirr frisiert, Kontakt zur Außenwelt besteht nicht mehr. Alles hier ist Imagination, reiner Überlebensinstinkt. Was soll man noch sagen nach zweieinhalb Jahren an der Spitze einer Koalition, die unbeliebter ist als jede vor ihr? Welche Argumente wären denn noch im Schrank, das eigene Tun und Lassen, die gutgemeinte Politik und die so desaströs missratene Umsetzung zu verteidigen?

Klingbeil, einem der führendsten Vertreter der Generation Parteiarbeiter, die aus der einstigen Arbeiterpartei SPD eine politische Formation zur Selbstversorgung gemacht haben, ist nichts eingefallen. Nach Jahren, in denen seine Partei im festen Schulterschluss mit allen anderen und untergehakt mit den Vertretern der seriösen Medien alles getan hat, um der radikalen politischen Konkurrenz die Menschen in Scharen in die Arme zu treiben, ist dem 46 Jahre alten früheren Chef der Jusos auch diesmal wieder nur dieselbe Schallplatte in die Hände gefallen: Die Rechten fühlen sich stärker, sie versuchen "mehr Raum in unserer Gesellschaft einzunehmen", sie sind "keine Bürgerlichen, keine Konservativen, keine Spinner", was Lars Klingbeil ihnen womöglich noch durchgehen lassen könnte. Sondern "knallharte Rechtsextreme, Nazis, Menschen, die ein anderes Land wollen".

Gegen die, die das Gegeneinander wollen

Der Niedersachse, der seine politische Karriere wie für Nomenklatura-Kader üblich als Mitarbeiter in im Wahlkreisbüro eines SPD-Abgeordneten begann, klingt beunruhigt. Klingbeil hat herausbekommen, dass diese Leute ein "ganz anderes Land wollen, dass diese Gesellschaft ganz anders aussieht als das heute der Fall ist". Diejenigen, die Klingbeil nie nennt, haben erstaunliche Ziele: Sie wollen natürlich "spalten", denn das wollen sie immer, ihr Ziel aber ist es dem SPD-Vorsitzenden zufolge vor allem, dass in diesem Land Gegeneinander und nicht Miteinander herrscht". 

Was diese Leute damit bezwecken, kann Lars Klingbeil im knappen TikTok-Format von nicht einmal zwei Minuten nicht erläutern. Aber nennen, was nun zu tun ist, denn er ist eindeutig knallhart gegen die, die das Gegeneinander wollen. "Es ist unsere Aufgabe, das ernst zu nehmen, sich dagegenzustellen." Schließlich hätten der "Verfassungsschutz und andere öffentlich" geäußert, "dass unsere Demokratie in Gefahr gerät" und "wir alle haben die Wahrnehmung, dass etwas ins Rutschen kommt." 

Jeder soll ein Stoppschild setzen

Klingbeils Appell ist der, der er immer war. Irgendetwas mit "sich diesen Menschen entgegenstellen", überall dort "wo in Eurem Umfeld Menschen anfangen, rechtsextrem zu reden, zu handeln, zu denken" ein "Stoppschild setzen", denn "wir dürfen nicht zulassen, dass in dieser Gesellschaft wieder sortiert wird". Wenn nur jeder da draußen, der zu ahnen glaubt, was da dieser Kollege, diese Verwandte oder dieser Nachbar und Freund insgeheim denkt, dem sofort Einhalt geböte! Wie würde das den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern! Und die Spaltung heilen!

Klingbeil, von Bewunderern im politischen Berlin "die Axt" genannt, hat aber nicht nur diesen Aufruf an die guten und politisch gesunden Teile der Bevölkerung mitgebracht. Er zeigt auch echte Emotionen im Moment des gefühlten Verlustes von inzwischen mehr als 85 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Dass der unerwartete Triumph von 2021 so schnell verspielt werden konnte, das trägt der Stratege der deutschen Sozialdemokratie den "Menschen" (Klingbeil) da draußen sichtlich nach. 

Kein Bündel haltloser Versprechen

Gern würde er ihnen sicherlich auch jetzt noch mal etwas anbieten, eine Vision oder ein funkelnagelneues Bündel haltloser Versprechen. Aber selbst Lars Klingbeil ahnt, dass ihm außerhalb der kleinen Blase, zu der die SPD auch durch seine eigene beharrliche Arbeit geschrumpft ist, niemand mehr auch nur für fünf Cent Kredit gibt.

Aus dem kahlen Raum, aus dem er ins Nichts spricht, kommen also folgerichtig Durchhalteparolen und Appelle, "mitzuhelfen", dass die "Faschisten, die Rechtsextremen, dieses Land nicht verändern". Die Szenerie hat etwas von Führerbunker und Verzweiflung. Da ist nichts mehr außer dem, was Wahlkämpfer negative campaigning nennen. Die da und wir hier. Böse und sehr gut. Lass Dich nicht von der falschen Seite versuchen, nur weil Du denkst, dass wir nicht die richtige Politik machen. Bist Du nicht für uns, bist Du gegen uns und selbst an allem Elend schuld, das dann auf Dich wartet. 

Es ist Lars Klingbeils bislang größte Rolle. Und für die SPD ist es ein neuer Meilenstein auf einem Weg, den die Linkspartei in den gleichen ideologischen Stiefeln schon bis fast zu seinem Ende marschiert ist.

Triple-Wumms: Wie funktioniert der neue "Wachstumsturbo" eigentlich wirklich?

Der Leitstand der Bundeswummsmaschine ist bewusst einfach gehalten: Von hier wird der Vortrieb zum nächsten grünen Wirtschaftswunder gesteuert.

Zu viel wollte er noch nicht verraten. Bundeskanzler Olaf Scholz weiß, dass ihm nicht mehr viele Pfeile im Köcher bleiben. Obschon kaum jemand anders sich drängt, das von multiplen Krisen geschüttelte und von der eigenen überragenden Moral gerührte Deutschland zu übernehmen, könnte ein Scheitern der schon mehrfach in die Verlängerung gegangenen Haushaltsberatungen der Koalitionsspitzen die Totenglocke für des Ampelkanzlers Amtszeit läuten. Scholz, der eigentlich für zwei Dienstzeiten geplant hatte, würde dann auf jeden Fall auch den angestrebten neuen sozialdemokratischen Rekord verpassen und den derzeitigen Rekordinhaber Helmut Schmidt nicht überflügeln können.

Plan B aus der BWHF

Scholz ist jedoch ein Mann, der immer einen Plan B hat. Ehe es nicht vorbei ist, ist es nicht vorüber. Schon vor dem Beginn der Kette der Krisensitzungen im Haushaltsstreit hat der Kanzler einmal mehr Kontakt zur Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in  Berlin aufgenommen, um sich von den Experten für Neusprech-Design eine weitere Optimismusvokabel für den Wirtschaftsnahkampf der kommenden Wahlkampfwochen liefern zu lassen.

"Wirtschaftswende" und "grünes Jobwunder" hatten sich zuletzt allzu schnell verbraucht. Zeigten solche Begriffe bisher zumindest einige Tage lang medial Wirkung, waren sie wie die "Flüchtlingsbremse", der "Wumms" und die als Verantwortliche für die multiplen Miseren ausgerufenen "Hochvermögenden" zuletzt wie Platzpatronen im Lauf explodiert.

Bedeutungsschreiner und Beschwörungsingenieure

Umso raffinierter ist das von BWHF-Chef Rainald Schawidow von einem schlagkräftigen Team aus Wortakrobaten, Bedeutungsschreinern und Beschwörungsingenieuren entworfene neue Schlagwort "Wachstumsturbo", auf das Scholz selbst im Deutschen Bundestag schon einen Vorgucker erlaubte. Erstmals handelt es sich nicht um eine sogenannte Leerfloskel", die ausschließlich der Fortführung des politischen Bedeutungskampfes dient, sondern um ein hochentwickeltes maschinelles System aus fantastischen Floskeln, "sehr vielen sehr kluge Maßnahmen", wie Scholz selbst verraten hat, und einer demonstrativen Einigkeit, mit der Ampelspitzen die intern auch als "Bundeswummsmaschine" bezeichneten Wachstumsturbine in "kompletter Einigkeit" (Scholz) nach außen vertreten wollen.

Grundlage des Aufschwungsystems, von dem Scholz "gefällt, was ich jetzt schon kenne", ist das Prinzip der mechanischen Sahneschlagmaschine: Mit Hilfe eines Handgriffs, der eine Geldkurbel antreibt, wird bewegt ein Schlagwerk gesetzt, das aus geringsten Wachstumsdaten ermutigende Schlagzeilen erzeugt. Selbst eine schwächelnde Wirtschaft, wie sie auch die solidarischen Medien zuletzt beklagten, wirkt so luftig und cremig und fest zugleich. Eine Sahnemaschine mit einer Kapazität von zwei Litern kann pro Stunde 100 Liter Sahne produzieren, ähnliche Effekte verspricht sich das Kabinett vom geplanten Wachstumsturbo, von dem mindestens ein Triple-Wumms erwartet wird, verglichen mit dem "Doppel-Wumms" aus dem Herbst 2022.

Im Leitstand der Bundeswummsmaschine 

Der Leitstand der Bundeswummsmaschine (BWM), die zentral aus dem Bundesklimawirtschaftsministerium gelenkt werden soll, ist dabei bewusst einfach gehalten. Die Kontrukteure verzichten absichtlich auf die Deutschland stets schwerfällige, teure und mit hohem Zusatzaufwand verbundene Digitalisierung. Staatdessen gibt es zwei große Handräder und eine Turbo-Taste, wie sie früher bereits bei PCs der 8086er- bis Pentium-1-Ära eine manuelle Änderung der Prozessor-Taktfrequenz durch den Nutzer zuließ. 

Dies soll auch hier jederzeit im laufenden Betrieb möglich sein. Dazu wird die Taktfrequenz aus dem Normalbetrieb kurz auf ein Drittel oder die Hälfte des normalen Wertes abgesenkt, ehe ein kurzer Druck einen sogenannte Luft-Kondensationsverdichtungsprozess in Gang setzt, der das gefürchtete Negativwachstum angesaugt, durch ein Schwellrohr führt und unter Aufsicht der jeweils zuständigen Behörden in Bund, Land und bei der EU auf neuartige Medial-Turbolader (umgangssprachlich auch Turbo) leitet. Durch die eingearbeitete Luft nimmt das Volumen zu und eine Luftpistole wirkt aus der Ferne betrachtet wie die berühmte Scholz'sche Bazooka

Gegen den knausernden Verbraucher

Bisher kamen solche Geräte hauptsächlich in Konditoreien, Bäckereien und Eisdielen zum Einsatz, im Zuge der Haushaltsberatungen aber wurde den Koalitionsspitzen aber wohl klar, auch noch so "viele konkrete Vorschläge" zur Beschönigung der Lage nicht ausreichen werden, die knausernden Verbraucher zu mehr klimaschädlichem Konsum im Dienst des Binnenaufschwungs zu verleiten. "Die Lage ist manchmal anders als die Stimmung", hatte Vize-Kanzler Robert Habeck das Dilemma umrissen, das vor allem darin liegt, dass sich die Lage weigert, den Vorgaben der Politik zu folgen. 

Das mit großen Hoffnungen verkündete Dynamisierungspaket aus dem Winter ist folgenlos verpufft. Die "Wirtschaftswende" hat nach einer 360-Grad-Drehung nichts bewirkt. Deshalb will die Bundesregierung sich nun mehr um die Stimmung kümmern: Das Wirkprinzip des Turboladers, vom Schweizer Alfred Büchi bereits Jahre 1905 zum Patent angemeldet, soll helfen, einen Teil der wenigen verbliebenen Energie der jammernden und klagenden Wirtschaft mittels Turbine und Verdichter möglichst wirbelfrei in die Abspielstationen bei ARD und ZDF und die Redaktionsstuben übertragen. Die Genehmigung der EU-Kommission zum Bau der Wachstumsturbine steht noch aus. Doch die Zustimmung gilt als Formsache.

Donnerstag, 4. Juli 2024

Demokratiefestigende Verschuldung: Wenn die Geldhähne krähen

Wer Marx gelesen hat oder die Funktionsweise von Volkswirtschaften verstanden, ist ein Ewiggestriger, der der Zukunft nur im Wege steht.

Sie trägt ein Silberkettchen um den Hals, das aus nachhaltigem Minenabbau stammt. Sie hat einen Ring aufgefädelt, der nie aus Erz geschmolzen werden musste, weil erinnert schon da war, ein Erbstück wie der feste Glaube seiner aktuellen Besitzerin, dass die Welt nicht schlecht ist, aber der Mensch. Und die Entropie, die alles dazu treibt, zu Staub zu zerfallen, sich am besten aufhalten lässt, wenn indem weniger mehr machen, der Staat dafür aber mehr Geld ausgibt.

Frisches Geld als ewiges Versprechen

Anna Lehmann stammt aus Ostdeutschland, sie ist Chefin des Innenressorts bei der ehemals alternativen Tageszeitung "Taz" und vielgefragter Expertinnengast zu weltbewegenden Themen wie Linkspartei, Politische Linke und Aufstehen in allen öffentlich-rechtlichen Sendern. Lehmann hat vier Kinder und einen asynchronen Haarschnitt, sie hat keine Ahnung, kann aber zu allem etwas sagen. Nicht einmal die ostdeutsche Herkunft merkt man ihr an, wenn sie von "frischem Geld" fabuliert, das "in die Hand genommen werden" müsse, oder den Kanzler zart zurechtstößt, weil er das Volk einfach nicht auf Linie zu bringen versteht. 

Mit dem Satz "Deutschlands Infrastruktur brökelt, das Bildungssystem ist am Anschlag, der Klimawandel schreitet voran" hat Anna Lehmann aus ihrer Sicht alle Brennpunkte des Überlebenskampfes eines Volkes zusammengefasst, das eigentlich keins mehr sein will, am Ende aber doch nur von fragwürdigen Wurzelvorstellungen und Passvorschriften zusammengehalten wird. 

Krisen lösen wie die DDR

Lehmann, geboren, als die DDR auf dem Totenbett siechte, wüsste, wie sich die Krisen lösen ließen. "Der Staat muss den Hahn auf-, statt zudrehen", hat sie in einer makroökonomischen Analyse angesichts des stockenden Haushaltsstreits in der Ampelkoalition empfohlen. Es klaffe da ja noch ein Milliardenloch, schreibt Lehmann. Und ein Loch, das ist in ihrer Vorstellung etwas zu Stopfendes, gar nicht so viel anders als bei Straßenschäden oder Socken. Man macht es halt zu, fertig. Dann kann "Geld wieder fließen". Und alles wird gut wie damals im Osten, als Erich Honecker befahl, dass man nun nicht mehr heute so gut arbeiten müsse, wie man morgen leben wolle. Sondern auch gleich mit dem leben anfangen und die Zukunft gleich heute verfrühstücken könnte.

Die Sprachbilder, die Anna Lehmann verwendet, wenn es ums Geld, die Wirtschaft und den ganzen lästigen Rest an Realität geht, sind vergleichbar denen, die die berühmte "Tagesschau in einfacher Sprache" benutzt. Hier wie dort werden Nachrichten bis auf die Quantenebene von jeder Information befreit, so dass am Ende Botschaften übrigbleiben, die den Empfänger dümmer machen, als er vorher war. 

Wenn die "Tagesschau in leichter Sprache" mitteilt, die Regierung habe über dieses und jenes beraten und sie überlege nun, "wie sie noch mehr für die Menschen tun" könne, entspricht das Anna Lehmanns Argumentation, dass die FDP "diejenigen triezen" wolle, "die selbst arbeiten, und diejenigen entlasten, die ihr Geld für sich arbeiten lassen". 

Am offenen Geldhahn

Während es, nun ja, bei SPD, Grünen und den anderen progressiven Parteien umgekehrt ist. Dort wird ein "Hahn" aufgedreht. Dort "fließt" das Geld für den guten Zweck. Dort ist das Morgen kein Ort, an dem künftige Generationen unter untragbaren Schuldenlasten stöhnen. Sondern ein lichtes Land, das "einfach funktioniert" (Die Grünen), weil Anna, Katja, Carola, Bodo, Olaf und Saskia eines schönen Tages mit "sehr, sehr vielen klugen Maßnahmen" den "Wachstumsturbo" angeworfen haben.

Frühere Generationen von Linken haben "Das Kapital" gelesen, nicht verstanden, aber so getan. Dazu gibt es mittlerweile keinen Grund mehr. Die Vulgärmarxisten, die heute von Geldhähnen krähen, alles und überall Fördermittel verstreuen möchten und sofort nach "Hilfen", "Rettungspaketen" und der Verteilung von Milliarden rufen, die es nicht gibt, ersparen sich die Mühe. Sie sind stolz darauf, weder Marx noch Hayek noch Adam Smith und John Locke gelesen zu haben, sie brauchen nie von John Maynard Keynes oder Milton Friedman gehört haben, weil sie Marcel Fratzscher und Ulrich Schneider haben, die "Das Kapital" auch nicht für ein Buch halten, sondern für den Feind.

Still da drüben

Argentinien etwa ist aus dieser Sicht nicht pleite und zuschanden, weil jahrzehntelang mehr ausgegeben wurde als erwirtschaftet werden konnte, sondern weil ein furchtbarer rechtspopulistischer Naziökonom radikal im Sozialen kürzt, Staatsbetriebe privatisiert und zehntausende Staatsbedienstete entlässt. Was fehlt, um die eigenen Ideen umzusetzen, ist letztlich nur die Deutungshoheit. Würde niemand mehr dazwischenquatschen, den Segen endloser Schulden leugnen und behaupten, es sei gar nicht möglich, von geborgtem Geld zu leben, könnte Deutschland schon viel weiter sein. 

Lehmanns Chefinnen bei der Taz haben deshalb jetzt einen Beschwerdebrief an den Bundesfinanzminister geschrieben, in dem der Liberale aufgefordert wird, nicht mehr Medienvertretern zu sprechen, die für "unappetitliche" und "rechtslastige" Organe arbeiten, die nicht wie die "Taz" ein "journalistisches Medium" sind, "das nach presseethischen Grundsätzen arbeitet", wenn es politischen Gegnern Schlaganfälle wünscht. In einen Topf geworfen zu werden mit anderen, die anders denken, andere Ansichten haben, die Welt anders betrachten und anders schreiben, das ist für wahre Vertreter einer Pressefreiheit, die nur sich für frei erklärt sehen möchte, eine Zumutung. 

Irritiert und ratlos

"Irritiert" und "ratlos" hat man dort, wo in den 80ern noch Terroristen verherrlicht, der Staat delegitimiert und gnadenlos Leute gekündigt und die ohnehin verboten geringen Löhne gekürzt wurden, weil das Geld einfach nicht reichte, über die Vorstellung von einer "Pluralität der Medienlandschaft" geschimpft. Die Taz, die ihre "Frauenseite" schon einstellte, ehe andere Redaktionen einen aus der Taufe hoben, will nicht in einem Atemzug genannt werden mit "der Online-Schleuder Nius" (taz), die "ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Springer-Verlags versammelt hat", um "Ressentiments und Gehässigkeit auszuwalzen" und zu "verbreiten". 

Bei der Taz, wie die großen ehemals bürgerlichen Zeitungen im Westen kein Werkzeug der Herrschaftskritik mehr, sondern eines der emsigen Vermittlung der frohen Botschaft vom Glück der Deutschen, stets so gut regiert zu werden wie es nur vorstellbar ist, sitzt die Enttäuschung spürbar tief. Hat man sich all die Jahre vergebens angedient? Hat man seine Willigkeit zu noch besserer Vermittlung aller demokratiefestigenden Maßnahmen noch immer nicht ausreichend unter Beweis gestellt? Ist denn in den Ministerien, gerade in dem mit dem Geldhahn, nicht bekannt, dass Pressefreiheit verdient werden muss?  "Das schmerzt unbeteiligte Zuschauerinnen wie uns".

Graue-Wölfe-Gruß: Das wird man doch wohl noch zeigen dürfen

Der Schweigefuchs bereitet der Bundesinnenministerin Kopfzerbrechen.

Es war kein Hitlergruß, nicht der große und nicht der kleine. Kein "Döp DöpDöp Dö", kein "Deutschland den Deutschen", kein seit einem Amtsgerichtsurteil von 2006 strikt verbotenes "Alles für D-Wort" oder gar ein provokativ verknapptes "Alles für...", um das Verbot zu umgehen. Als der türkische Torschütze Merih Demiral im Stadion in Sachsen den Faschisten-Gruß der Grauen Wölfe, zeigte, zwei verkrümmte Hände mit Schnauze und langen Ohren, wäre das in Österreich eine Straftat gewesen. In Deutschland hingegen brach nur die übliche Aufregung aus.

"Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen", schrieb Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, sei "völlig inakzeptabel".

Faeser ruft nach der Uefa

Die als "Herrenrasse", die "minderwertige Menschen" (Gesellschaft für Bedrohte Völker) wie Kurden, Juden, Christen, Armenier, Jesiden und Aleviten ausrotten muss, das mag im deutschen Alltag soweit zulässig sein, dass bisher alle Versuche, die türkische Nazi-Organisation zu verbieten, gescheitert sind. Aber im Stadion! Bei der Fußball-Europameisterschaft! Für Nancy Faeser hört sich da alles auf. Jetzt müsse die Uefa aber wirklich tun, was die deutsche Politik bisher nicht hinbekommen konnte. Durchgreifen.

"Wir erwarten, dass die Uefa den Fall untersucht und Sanktionen prüft", hat die Bundesinnenministerin klare Kante gezeigt wie immer, wenn deutsche Sicherheitsbehörden etwas "fest im Blick haben" (Faser), ohne dass es deshalb zu Störungen des Normalbetriebes kommt. 

Die Grauen Wölfe, bundesweit im mehr als 300 Vereinen mit mehr als 18.500 Mitgliedern organisiert, stehen unter der Beobachtung des Bundesamts für Verfassungsschutz. Doch die "größte rechtsextreme Organisation in Deutschland" (Bundeszentrale für politische Bildung) erfreut sich ungeachtet ihrer "gegen das im Grundgesetz formulierte Prinzip der Menschenwürde" (BPB) gerichteten Bestrebungen uneingeschränkter Betätigungsmöglichkeiten.

Hitler-Gruß der Grauen Wölfe

Der in deutschen Kindergärten als "Schweigefuchs" bezeichnete Gruß aus abgestrecktem Zeige- und kleinem Finger mit zu einer Schnauze zusammengepresstem Restfingervorrat ist zwar der Hitler-Gruß der Grauen Wölfe, die den früheren Führer und Reichskanzler als eines ihrer Vorbilder verehren. Doch im Unterschied zu Österreich, das das Zeigen des symbolischen Stempels, den Türkentum und Islam der Welt aufdrücken wollen, bereits vor fünf Jahren verboten hat, scheiterten alle entsprechenden Anläufe in Deutschland an...

Man weiß es nicht. 2020 bliesen CDU/CSU, SPD, FDP und die Grünen im Bundestag zuletzt die Backen auf und sie verabschiedeten den gemeinsamen Antrag "Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten – Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen", der ankündigte, den gegen Einfluss der Bewegung, die "militant und gewaltsam" auftrete und "auf einer nationalistischen und rassistischen Ideologie" fuße, "im europäischen Verbund" vorzugehen. Dabei seien unter anderem auch entsprechende Organisationsverbote zu prüfen. Direkt verbieten aber wollte die Parlamentsmehrheit damals nichts - entsprechende Anträge von Linkspartei und AfD fielen durch.

Vorsicht und Rücksichtnahme

Erst drei Jahre später wurde die Frage wieder "dringend" (Tagesspiegel), weil die neue Ampel-Innenministerin ähnlich aktiv "in dieser Richtung" (Tagesspiegel) gewesen war wie ihr Vorgänger Horst Seehofer. Wie tief die Sozialdemokratin im Stoff steht, zeigte sie selbst bei X: Auf einem Bild, das mittlerweile gelöscht wurde, posiert Nancy Faeser mit einer Gruppe von Personen, in der ein Mann den Wolfsgruß vorführt. 

Warum auch nicht. Weder die Grauen Wölfe noch deren Erkennungszeichen, das "rechtsextrem" ist und "für Terror, Faschismus" steht, wie der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir befindet, sind in Deutschland verboten. Auch der Verfassungsschutz warnt: "In entsprechendem Zusammenhang kann das Zeigen des „Wolfsgrußes“ als Bekenntnis zur „Ülkücü“-Ideologie gewertet werden". Muss aber nicht.

Ein Verbot besteht nicht

2018 schon hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ermitteln können, dass es schwer ist, den Gruß zu verbieten, wenn die grüßende Organisation nicht verboten ist. "Die Verwendung von Kennzeichen der „Grauen Wölfe“ wäre nach § 9 VereinsG nur verboten, wenn ein Verein, der diese Kennzeichen verwendet, seinerseits nach § 3 VereinsG verboten wäre", heißt es da. Ein entsprechendes Verbot des Bundesministers den Innern (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VereinsG) aber "besteht nicht". 

Mit gutem Grund, denn Wölfe-Partei MHP  ist ein wichtiger strategischer Verbündeter der Erdoğan-Regierung in Ankara, die bei allem, was was den AKP-Chef so "schwierig" (DPA) macht, immer noch der Mann ist, der die Südostflanke der Nato bewacht.

Was soll man da machen? Und wer? Die Uefa, natürlich, die Uefa muss helfen. Die könnte Merih Demiral für ein Spiel sperren, dann wäre die Aufregungswoche auf jeden Fall rum und alles könnte dann wieder sein zuvor. Die Begründung liegt auf der Hand: Im Stadion hatten politische Gesten schließlich noch nie etwas zu suchen.


Mittwoch, 3. Juli 2024

Welche Haushaltstricks wirklich gegen nervige Grundgesetzbestimmungen helfen

Diese Frage bewegt das politische Berlin: Wie lässt sich das Grundgesetz umgehen, ohne es zu umgehen?

Vor Tagen schon sollte er fertig sein, der Haushaltsplan für das letzte Jahr der Ampelkoalition. Doch nach einer Verschiebung kam die Verschiebung, nach ersten Nachrichten über einen "guten Weg" auf dem man sei, folgten weitere Verzögerungen. Statt Ende Juni wird es nun nicht Anfang Juli, sondern Mitte Juli oder auch später, vielleicht auch gar nicht. Die "entscheidende Woche" (Handelsblatt) ist jedenfalls auch schon halb rum. Um den Druck zu erhöhen, bereitet sich die Union schon demonstrativ auf vorgezogene Neuwahlen vor.

Verteilungskämpfe ohne Ende

Es geht um Milliarden, um harte Einsparungen durch höhere Einnahmen oder umgekehrt, um Verteilungskämpfe zwischen denen, die mehr Soziales wagen, und denen, die lieber an künftige Generationen denken und alles erst erarbeiten wollen, ehe es ausgegeben wird. Mehr Geld wird es nicht werden, eher mehr Geld, das fehlt. Um aber alle Ambitionen unbeschadet zu lassen, braucht es eine Einigung wenigstens für den Moment.

Doch welche cleveren Haushaltstricks helfen wirklich gegen nervige Etatlöcher? Was für effektive Abwehrmethoden hat der Finanzminister gegen Ansprüche, die auch nach einer Steigerung der Ausgaben des Bundes von 276 Milliarden Euro auf 476 Milliarden Euro innerhalb von nur zehn Jahren über zu wenig Geld und zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten für echte Fortschrittspolitik klagen? Und welche Möglichkeiten haben die, unter Verweis auf die enorm gestiegenen Ausgaben für alles darauf verweisen, dass es mehr braucht als nur ein paar Milliarden mehr, ihre Vision von einem Staat umzusetzen, der überall allen alles gibt, bis jeder genug hat?

Ausufern der Schuldenlast

Immer wieder ist es die Schuldenbremse, die in den Blickpunkt rückt. Vor 16 Jahren unter begeistertem Beifall von der Großen Koalition beschlossen, gilt die Idee der SPD nicht mehr als sehr guter Weg, "ein Ausufern der Schuldenlast" (Spiegel) zu verhindern. Leider steht die Vorschrift dennoch im Grundgesetz und muss somit zumindest der Form nach beachtet werden - das GG gilt hierzulande anders als die nur völkerrechtlich verbindlichen Maastricht-Kriterien, auf denen die Wertegemeinschaft EU fußt, als schwieriger Gegner. Es lässt sich zwar zeitweise ignorieren, weiträumig umgehen und sogar straflos brechen. Gewinnt aber am Ende irgendwann doch.

Ein probates Mittel, um lästige Vorschriften herumzulavieren, hat Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Einfall Russlands in der Ukraine beherzt ergriffen. Das Sondervermögen für die Bundeswehr, das er Anfang 2022 im Bundestag verkündete, ist ein 100 Milliarden Euro hoher Schuldenberg, der nicht existiert. Er befindet sich außerhalb von Raum und Zeit und verletzt die Schuldenbremse nicht - ganz im Gegensatz zum Geld in der Bundesklimakasse, die vom Bundesverfassungsgericht konfisziert wurde.

Vierfach-X muss mindestens

Viele kleine oder ein XXXXL-Sondervermögen für alles zu schaffen, wäre ein Weg gewesen, alles zu bezahlen, ohne dass die Ausgaben im Kassenbuch auftauchen. Doch diese Chance hat sich die Ampel verbaut, weil die einen es aller Nase lang forderten, um Tatkraft zu beweisen. Und die anderen es ablehnten, um Prinzipientreue zu zeigen.

Das kleine, noch weit höher als der Bund verschuldete Bundesland Sachsen-Anhalt allerdings hat eine Methode ausbaldowert, sich ein Sondervermögen zu verschaffen, ohne dass die dazu aufgenommenen Kredite als Schulden gelten. Dazu hat die Landesregierung einen Kredit aufgenommen, diesen aber an die landeseigene Immobilien- und Projektmanagementgesellschaft Sachsen-Anhalt (IPS) weitergereicht. 

Fiktion der Investition

Die eigens gegründete GmbH führt die Einnahme als Verbindlichkeit und nutzt sie etwa zum Neubau einer Uniklinik für etwas mehr als eine Milliarde. Die Landesregierung aber muss die Schulden nicht als Minus im Kassenbuch verbuchen, weil die Uniklinik, wenn sie eines Tages fertig ist, Miete an die IPS zahlen wird und die Milliarde so wieder eingespielt wird. Zumindest, wenn es der Uniklinik gelingt, dann erstmals mit einem positiven Betriebsergebnis zu wirtschaften.

Eine Milliarde würde dem Bund nichts nützen. Diese Summe wäre nur Kleingeld, das allein durch seine Verteilung verbraucht würde. 160 bis mindestens 1.600 Milliarden Euro hatte Bundesklimawirtschaftsminister Robert Habeck deshalb ins Spiel gebracht - doch die Höhe der Summe spielt bei der Umsetzung des Sachsen-Anhalt-Modells im Grunde auch gar keine Rolle. 

Vorbild Grenzlager

Egal, um welches Volumen es geht, wichtig ist nur, dass die Kreditaufnahme und -weitergabe mit der Fiktion einer späteren Rückzahlung aus Einnahmen verbunden würde. Die von der EU geplanten Asyllager an den Außengrenzen liefern hier eine passgenaue Lösung: Ihre Insassen werden irgendwann unter dem geheimnisumwitterten Status "legal fiction of non-entry" geführt werden. Sie halten sich dann in der EU auf, ohne in der EU zu sein.

Ein Muster, das sich durch die Schaffung einer von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) bereits vorgeschlagenen Klassifizierung einer "Legal fiction of non-indebtedness" problemlos auf das leidige Gebiet der Staatsverschuldung übertragen lassen würde. Jeder zusätzliche Schuldeneuro wäre ein Euro an zusätzlichen Volksvermögen, wenn auch nicht sofort, sondern zu einem - möglicherweise sehr weit - in der Zukunft liegenden Zeitpunkt.

Deckelschere: Großer Schnitt für die Menschheit

Zu jeder Flasche mit festem Deckel müssen Hersteller nach der Neufassung der Einwegkunststoffrichtlinie  2019/904N künftig eine sogenannte Deckelschere mitliefern, die das Lösen des Deckels ermöglicht.


Es ist eine dieser EU-Änderungen, die erst nicht beachtet werden, weil der Termin für ihre Umsetzung noch weit in der Zukunft liegt. Dann aber sind sie da und sie sorgen für riesiges Erstaunen, ja, teilweise für Entsetzen. Nicht immer ist es die Größe einer über die unzähligen Richtlinien oder Verordnungen vorgeschriebenen Neuerung, die Menschen zweifeln und verzweifeln lässt. Oft geht es gerade um Kleinigkeiten, winzige Verbesserung des Zusammenlebens und notwendige Eingriffe ins Privatleben, die übergriffig, anmaßend und unnötig empfunden werden.  

Besser erklären, Menschen mitnehmen

Noch besser erklären, heißt es dann. Um Verständnis dafür werben, warum es nicht nur gut gemeint, sondern auch sehr gut gemacht ist. Und kein Wasser auf die Mühlen derjenigen leiten, die den erwartbaren ersten Widerstand mancher Mitmenschen ausnutzen, wollen, um Stimmung gegen Staat, Partei, Regierung und EU-Kommission zu machen. Die Leute, das ist bekannt, wollen nur spalten. Sie wollen ein Deutschland zurück, das es nicht mehr gibt, ein Deutschland, das zurecht untergegangen ist.

Über Jahre hinweg hieß es in solchen Augenblicken standhalten, gerade bleiben, denen nicht nachgaben, die nur bemüht sind, alles infragezustellen und an allem herumzunörgeln. Die EU, die seit 70 oder mehr Jahren für Frieden in Europa sorgt, ist schon lange selbstbewusst genug, sich von denen, die im Tross immer hinten laufen und das Ziel anzweifelt, von der Durchführung von Fortschritt abhalten zu lassen.

Gemeinschaft streckt die Hände aus

Doch wenn nun in wenigen Tagen eine Innovation ins Leben von 460 Millionen Europäern tritt, die schon seit Monaten in einer Eingewöhnungsphase ausprobiert werden konnte, dann streckt die Gemeinschaft ihre Hände aus: Statt die harte Konfrontation mit den Meckerern, Quertreibern und Wutbürgern zu suchen, geht die Gemeinschaft bei der Umsetzung der auch als  Einwegkunststoffrichtlinie bekannt gewordenen EU-Richtlinie 2019/904 "über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt (Text von Bedeutung für den EWR)" einen anderen Weg.

Zugewandt, respektvoll, mit viel Verständnis für Sorgen, Nöte und Bedenken, so sieht sie aus, die Strategie, mit der die nach inständigen Mahnungen des deutschen Bundespräsidenten vor "riesigen Plastikinseln, die inzwischen im Meer schwimmen" (Walter Steinmeier) im Juni vor fünf Jahren verabschiedete Verfügung popularisiert werden soll, nach der EU-Schraubdeckel auch nach Öffnung fest mit der Flasche verbunden bleiben müssen. 

Vorschlag des Bundespräsidenten

Um die Umweltverschmutzung zu reduzieren, wird das ab dem 3. Juli Pflicht in der weltgrößten Staatengemeinschaft. Lose Verschlusskappen, die Flüsse verstopfen und nach Erkenntnissen von Walter Steinmeier drohten, dass "bis 2050 womöglich mehr Plastik als Fisch in den Ozeanen" schwimmt, sind dann verboten. An Flaschen "aus Kunststoff oder teilweise aus Kunststoff, wie Saftkartons oder Einweg-PET-Flaschen, mit einem Volumen von bis zu drei Litern" müssen nunmehr "Tethered Caps", zu Deutsch "Lippenkratzer", angebracht werden, die sich nicht entfernen lassen. Damit wollen EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament all denen den Wind aus den Segeln nehmen, die ihre Flaschendeckel bisher traditionell in Feld, Wald und Flur geworfen haben, als gebe es eine zweite oder sogar dritte Erde und nicht nur diese eine einzige.

Der Aufschrei der traditionalistischen Kreise von Müllsündern und Deckelterroristen war groß. Obwohl  das Fachportal "Wissenschaften.de" die sogenannten "Lass-mich-dran"-Deckel bereits im vergangenen Jahr zu einem der "Meilensteine des Jahres" gekürt hatte - damit ehren die Forscher die jeweils kühnsten Innovationen, die Forschende und Forscher für die Menschheit erreicht haben - hielt der Widerstand an. "Ich finde die neuen Coca-Cola Deckel beim Trinken unkomfortabel, hätte es keine Alternative gegeben?", quengeln Ewiggestrige. Selbst die beruhigenden Hinweise teilstaatlicher Werbeportale, dass es sich nur "um eine Hilfestellung" für Minderbemittelte und Stockdämliche handele, also mithin für alle Menschen, verfing kaum. 

Ernstgenommene Bedenken

Mehr als 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger lehnen die neuen betreuten Verschlüsse ab. Von "Deckelfaschismus" ist die Rede, im Internet zeigen sich Deckelgegner beim gewaltsamen Anreißen der Tethered Caps, andere betonen, dass sie nun erstmals im Leben jeden einzelnen Deckel gezielt in die Landschaft oder ein nahes Gewässer würfen, um gegen die Beschränkung ihrer Freiheit beim Trinken zu protestieren. Zum ersten Mal regt sich da beinharten Widerstand. Selbst der beruhigende Zuspruch von Ämtern, Leitmedien und Herstellern, dass Menschen sich in der Vergangenheit doch auch an noch viel bizarrere Vorschriften gewöhnt hätten, sorgte nur für Hohn, nicht aber für dankbare Gefolgschaft.

Darauf hat nun die EU reagiert - ungewöhnlich schnell für die legendär langwierigen Entscheidungsprozesse, nach dem Desaster der EU-Wahl von Anfang des Monats aber wohl auch einer gewissen Not gehorchend. Mit einer Änderung der EU-Richtlinie 2019/904 (Neufassung) reagiert die Gemeinschaft auf die Bedenken.

Zwar bleibt es danach bei der gefundenen innovativen Lösung für verbundene Verschlüsse. Diese sogenannten "Scharnier-Deckel" hatten Verbraucherinnen und Verbraucher in umfangreichen Tests als beste aller schlechten Ideen gelobt. Doch zu jeder Flasche mit dem neuen Deckel müssen Getränkehersteller jetzt Schere liefern, mit der sich der Tethered Cap umstandslos und ohne körperliche Anstrengung von der Flasche lösen lässt.

Gerechte Lösung der Flaschenfrage

Man nehme damit Rücksicht auf Bedenken Älterer, Jüngerer, körperlich Schwächerer und vulnerabler Gruppen, die es allein mit Muskelkraft oft nicht schafften, den Deckel von der Flasche zu ziehen, heißt es in Brüssel. Auch im politischen Berlin reklamieren die Ampelparteien die Neuregelung für sich: Die Deckelschere sei ein "großer Schnitt für die Menschheit", heißt es aus der SPD-Parteizentrale, die angibt "Dampf gemacht" zu haben für eine gerechte Neulösung der Flaschenfrage. 

Was nun fehlt, ist Akzeptanz und Mitarbeit. "Vielen Menschen ist noch gar nicht klar, was dahinter steckt", wirbt der US-Konzern Coca Cola um eine Bereitschaft zur Umgewöhnung. "Das dauert, aber es wird das neue Normal werden."  Die aktuelle Diskussion erinnere an die zähe Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen an die Ostfront, an Einsatzverbote für deutsche Raketen auf russischem Boden und die großen Demonstrationen gegen Remigration. 

Jetzt, wo die Regierung die Erlaubnis zum offensiven Einsatz deutscher Hilfen gegeben hat und die Bundesinnenministerin selbst weitreichende Ausweisungen schon bei geringen Anlässen plant, so heißt es im neuen EU-Flaschendeckelamt (EU-FDA), das künftig Festverschlüsse und Scherenpflicht kontrolliert, "redet kein Mensch mehr darüber."

Dienstag, 2. Juli 2024

Grüne Strategie: Ohne Moos nichts los

Der Hass ihrer Gegner ist riesig, doch die grüne Chefstrategin Annalena Baerbock (r.) zeigt beharrlich, dass sie bereit ist, Zeichen für die zu setzen, die ein ganz normales Leben führen.

Auch Wochen danach grummelt es noch im Bauch der Grünen, die zum dritten Mal auf dem Weg waren, eine echte Volkspartei zu werden und unversehens doch wieder den Boden der Tatsachen küssen mussten. Enttäuschende Ergebnisse. Der Abfall ganzer Bevölkerungsschichten. Der Osten verloren. Die Zahl der Hochburgen im Westen, wo die Bionadeviertel des progressiven Berufsbeamtentum uneinnehmbare Festungen des Fortschritts zu sein schienen, beängstigend geschrumpft.  

Der grüne Zwerg

Eine Katastrophe. Wie der grüne Riese Hulk, der sich im Handumdrehen aufbläst, aber wenig später noch schneller zu einem bedauernswerten kleinen Männchen in zerlumpten Hosen schrumpft, liegen den Grünen seit jenem 9. Juni danieder. Geschlagen. Ungeliebt. "Gehasst", wie sie es selbst nennen.

Wie vor zehn Jahren, als eine üble Kampagne der Rechten ihnen den Suppenteller mit der Idee zum wöchentlichen "Veggie-day" für alle ins Gesicht gedrückt hatte und angehende Ministerinnen wie Renate Künast ihren Traumjob wegen eines "wunderbaren Tages zum Ausprobieren, wie wir uns mal ohne Fleisch und Wurst ernähren" verloren, brachte auch der EU-Wahltag wieder eine bedeutsame Kollision der Parteitagsstrategen mit der "Wirklichkeit", die selbst Bundeswirtschaftsklimaminister Robert Habeck "umzingelt", wie er selbst sagt.

Noch nicht bereit

Die Menschen sind noch nicht so weit. Sie sind noch nicht bereit. Sie sträuben sich, wenn man sie zu hart anfasst. Doch ist man nicht streng genug, dann tanzen sie einem auf den vielen schönen neuen Vorschriften herum. Wie man es macht, macht man es falsch. Nie lieben eine alle, oft nicht mal die meisten. 

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat jetzt in einem Interview mit der ihr bekanntermaßen in tiefer Zuneigung verbundenen Süddeutschen Zeitung Klartext gesprochen. Ohne ausreichend Geld, um überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger durch die grüne Transformation Wohlstandsverluste erlitten, Ausgleichszahlungen zu leisten, werde der Weg in Kanzleramt schwer, sagte die Ministerin, die bekannt dafür ist, kein Tabu zu scheuen.

Mehr Geld rettet alles

Für PPQ hat Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech die politisch verschlüsselten Erkenntnisse der 43-Jährigen ins Deutsche übersetzt. Hahnwech, die im sächsischen Bitterfeld praktiziert und als intime Kennerin der Berliner Bühne schon wegweisende EU-Papiere etwa zur "Just-Transition-Strategy" decodiert hat, erkennt bei Baerbock eine "starke Fixierung auf das Geld", wie sie sagt. 

Wenn die Grüne fordere, dass ihre Partei künftig "soziale Fragen stärker beachten" müsse, heiße das in der Übersetzung aus dem Politischen, dass die Außenministerin mehr Geld für konsumtive Zwecke verlange, um Umstellungsschmerzen im Transformationsprozess mit Entschädigungszahlungen des Staates zu mildern. "Dieser Verweis auf die soziale Komponente ist klassisch", sagt Hahnwech, "übersetzt bedeutet das immer, man will Geld in die Hand nehmen."

Strategin der Grünen

Annalena Baerbock, die als einer der großen Strateginnen der Grünen gilt, sei jedoch in der Lage, diesbezüglich keine "dumpfe Trompete zu blasen, sondern eine leise Flöte", wie Hahnwech unumwunden lobt. Ein Satz wie "Sicherheit ist die Frage unserer Zeit – und zwar in jeglicher Hinsicht, gerade auch die gefühlte und die materielle Sicherheit", sei von vielen Politikern vorstellbar, dich nur wenige seien in der Lage, ihn so zu sagen, dass es nicht klinge wie eine Korrektur der früheren Festlegung, dass die "sicherheitspolitischen Frage unserer Zeit die Klimakrise" sei

Die eigentliche Botschaft liege darin, den alten Satz "ohne Moos nichts los" abzuwandeln. "Baerbock sagt, Geld regiert nicht nur die Welt, Geld braucht es auch, um den Energieausstieg, die Wohlstandsbremse und die Umstellung auf nachhaltiges CO₂ zu organisieren."

Nonchalant nehme Baerbock bei der Begründung, warum das bisher nicht geklappt habe, das sogenannte Partei-Wir zu Hilfe, um Robert Habeck, ihren Konkurrenten um den Kanzlerkandidatentitel, in den Senkel zu stellen: "Wir als Bundesregierung und auch als Grüne haben die Frage der sozialen Absicherung zu Beginn nicht ausreichend thematisiert", sagt sie. "Sie schafft es so tatsächlich, beim arglosen Leser den Eindruck zu erwecken, als sei das mittlerweile geschehen", lobt Frauke Hahnwech.

Schuld sind die anderen

Bei Baerbock liege alles weit, weit zurück und schuld seien immer die anderen. Gezielt verweist die Wahlverliererin von 2021 auf das "Gebäudeenergiegesetz aus dem Ministerium von Klimaminister Robert Habeck", bei dem es lange gelungen sei, die Menschen im Unklaren zu lassen, "was das alles für sie konkret heißt". Doch noch ehe das Gesetz beschlossen werden konnte, kam es dann doch heraus. "Viele erinnern sich, wie hektisch danach versucht wurde, wieder Ruhe ins Schiff zu bringen." 

Ein Staatssekretär wurde geopfert, der Zeitplan der Heizungswende so gestreckt, dass alle Regelungen zur Umbaupflicht erst inkrafttreten, wenn niemand mehr damit rechnet. Frauke Hahnwech hatte die Strategie der Langen Bank damals über die Maßen gelobt. "Man muss wissen, wann kein guter Tag zum Sterben ist." Über die Erfindung einer "kommunalen Wärmeplanung", die notwendig sei, um eines Tages zu wissen, wer künftig welche Art von Heizung betreiben dürfe, sei es damals gelungen, die Vertagung der Umbaupflicht als endgültige Beerdigung auszugeben. "Und Annalena Baerbock hat es dabei sogar geschafft, sich als Stimme des Volkes zu inszenieren."

Die Tür bleibt offen

Obwohl Robert Habeck bei den Grünen als Favorit für den Posten des grünen Verlierers im Rennen um das Kanzleramt gilt, habe Baerbock sich mit dem klug platzierten Interview eine Tür offengehalten. "Dass die SZ mit ihr spricht, zeigt auch nach außen, dass sie trotz ihrer Betrugsaffäre rund um das Buch, trotz ihrer hohen Betreuungsrechnungen und trotz der vielen Patzer auf der internationalen Bühne weiterhin eine Hausmacht bei den Medien hat." 

Als Taktikerin zeige sich die Außenministerin im übrigen auch beim Feilen und Schleifen an den verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Grenzen der politischen Gestaltungsräume. "Sie wettert nicht direkt gegen die Vermeidung von Schulden über das ja bereits längst überschrittene grundgesetzliche gestattete Maß hinaus, aber sie stellt dem Verfassungsgebot, künftigen Generationen keine untragbaren Lasten zu hinterlassen, geschickt das Argument entgegen, dass Knausrigkeit und Sparsamkeit den Frieden am meisten bedrohen. "Es wäre fatal, in ein paar Jahren sagen zu müssen: Wir haben die Schuldenbremse gerettet, aber dafür die Ukraine und die europäische Friedensordnung verloren", findet Baerbock.

Mutig an den Stammtisch

Für Frauke Hahnwech ein klares Zeichen dafür, dass die anfangs unsicher, aber selbstverliebt auftretende Politikerin gelernt habe, Dinge ganz selbstverständlich miteinander zu vermischen, die nichts miteinander zu tun haben. "Wenn sie etwa sagt, die Ampelregierung dürfe nicht scheitern, weil das der größte Gefallen sei, den wir den Feinden der liberalen Demokratie im In- und Ausland tun könnten, dann setzt sie klare Prioritäten: Lieber schlecht regieren als gar nicht." 

Baerbock inszeniere das zudem mit einer gewissen Portion Deftigkeit: "Ihre Formulierung von ,unserem verdammten Job als Regierung', die ,auch in schwierigen Zeiten Probleme miteinander zu lösen' hat, ist wie ihre vielen Bildern aus Fußballstadien vor allem als Zeichen für die gedacht, die sich wünschen, dass Politiker nicht so abgehoben vom normalen Leben regieren.

Flucht der Verbündeten: Verrat am Präsidenten

Gehässige Häme: Nachdem Joe Biden wegen eines ungünstig gelegten Termins schwächelte, fallen sämtliche verbündeten Medien über ihn her.

Der Mann war sichtlich bei bester Gesundheit. Beschwingt stieg Joe Biden die hinab, leichtfüßig und für einen Mann, der schon zu Zeiten des Vietnamkrieges Politik gemacht hat, beneidenswert junggeblieben. Zeitgenossen wie der ewige EU-Politiker Elmar Brok oder der CDU-Strippenzieher Wolfgang Schäuble mussten die Bühne räumen. Biden aber gelang im Greisenalter der Aufstieg zum mächtigsten Mann der Welt - ruhig, aber mit großer Dynamik kam er seinen Aufgaben nach. Ein Garant der Sicherheit der ganzen Menschheit, dem seine Gegner immer wieder zu schaden versuchten, indem sie Zweifel an seiner Vitalität zu wecken bestrebt waren.

Der fitte alte weiße Mann

Über lange Zeit vergebens. Wie ein Mann warfen sich die demokratischen Medien vor den ganz alten weißen Mann im Weißen Haus. Sobald dessen Gesundheit "Gegenstand von Diskussionen" (Die Welt) wurde, schlossen sich die Reihen: Videos, auf denen Biden "altersschwach und erratisch" wirke, seien "mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz manipuliert wurden. "Künstliche Intelligenz" muss heute in jedem Fake News-Vorwurf vorkommen, sonst gilt er nicht.

Hier aber half selbst das nicht. Dass die verfeindeten Republikaner "mit gekürzten und zurechtgeschnittenen Bildern den Eindruck erwecken" wollten, Biden sei alt, krank und nicht mehr in jedem Moment Herr seiner Sinne, überzeugte allenfalls die Redaktionen, nicht aber deren Publikum. Biden ist doch alt, sichtlich krank und auch nicht immer Herr seiner Sinne, blieben viele Skeptiker vorsichtig. Die Klarstellungen des Weißen Hauses zu "Trump-Kampagne mit allen Mitteln" schwenkte um: Nun waren es cheap fakes, die in einer Welle von Klarstellungsartikeln als Erklärung für das bedauernswerte Bild herangezogen wurden, das der mächtigste Mann der Welt abgab.

Was wahr war

Was man sehen konnte, war nicht wahr. Was wahr war, konnte keiner sehen: Joe Biden ist ein quecksilberiger Hecht im Karpfenteich, vibrierend vor innerer Energie und in seinem Tatendrang kaum zu bremsen. Auf seine Medien in Deutschland konnte sich der US-Präsident verlassen. Zwar hat deren Kampf gegen den Herausforderer Donald Trump nie wieder die manische Dringlichkeit der Jahre vor dessen erster Wahl erreicht. Damals prangte ein warnendes Bild des Demiurgen auf jedem zweiten Titelbild, die Deutschen wurde kriegstüchtig gemacht für Jahre unter der Knute eines Mannes, der Europa an den Kreml verkaufen, die Erderwärmung verdoppeln und alle wohlmeinenden Menschen einsperren würde. 

Doch die Verteidigung, sie stand, zumindest bis eben noch. Die Doemens und Schulers, Hautkapps und Simons kämpften einen Kampf, an dem der Kandidat schon lange nicht mehr teilnahm. Zwar wurde der Zorn der Verkünder der schrecklichen Botschaft der Wiederkehr des Weltenfressers allenfalls noch pflichtschuldig vermittelt. Die routinierte Empörung über jeden Halbsatz aus Trumps Mund war lau, die Frequenz der Aufrüttelungsversuche kommt nicht einmal in die Nähe der Brinkbäumer-Jahre beim "Spiegel", als "Nachricht" ein anderes Wort "was hat Trump gestern gesagt" geworden war.

Scheideweg TV-Duell

Das TV-Duell zwischen den beiden alten weißen Männern in der vergangenen Woche nun hat aber offenbar selbst die, die im Glauben fest waren, abfallen lassen. Nach Bidens verunglücktem Auftritt fand sich kein einziger Faktenchecker, um die wirklich wahre Wahrheit klarzustellen. Niemand bewies, dass Biden eine gute Figur gemacht und "alle Fragen beantwortet" (Jill Biden) hatte, ohne umzufallen, in eine seiner Erstarrungsposen zu verschwinden oder die große Sonnenbrillengeste zu machen, die immer kommt, wenn das System Biden neu gestartet werden muss.

Statt nachzuweisen, dass der Kreml Biden gelähmt und Trump ihn gefälscht hat, die Republikaner ihn von einem Voodoozauberer verhexen ließen und der Sender CNN seiner Verantwortung nicht gerecht wurde, dem amerikanischen Präsidenten aus der Bredouille zu helfen, knickten die Gefolgsleute des Präsidenten in Legionen ein. 

Nie sei Trump dem Wahlsieg näher gewesen, analysierte die "Tagesschau", aus den Hinterbänken im Bundestag kamen gute Ratschläge, wie sich mit ein paar Tricks ein neuer Kandidat aus dem Hut zaubern ließe und selbst die wohlwollenden Adressen, die nie wagen würden, ihren Favoriten selbst infrage zu stellen, zitierten verwegen "Ist Biden noch tragbar?"

Abfall der Verbündeten

Ein trauriges Ende einer Präsidentschaft, die aus deutscher Mediensicht direkt an die fantastischen Obama-Jahre anknüpfte. Nun brauchen die eigenen Leute in Washington einen "Notfallplan" (RND), selbst die während ihrer gesamten Amtszeit weitgehend unsichtbare Vizepräsidentin soll ihm nun am liebsten "gefährlich werden" und die "Faktenchecks" zu Trumps Lügen werden nur noch leidenschaftslos zusammengeschoben. 

Biden versucht es weiter, doch die meisten Verbündeten haben ihn aufgegeben. "Zeit für den Ruhestand" hetzt es hier. "Ist Joe Biden am Ende" fragt es dort. Die Ratlosigkeit ist mit Händen zu greifen, denn niemand hat eine Vorstellung, wie es nach der "historischen Tragödie im November" (Marie-Agnes Strack-Zimmermann) weitergehen soll. 

Unser Mann im Weißen Haus

Dass unser Mann im weißen Haus "der Welt einen Gefallen tun und abtreten" soll, um einem "verurteilten Verbrecher" (Stern) den Weg freizumachen, weil alle demokratischen Ersatzkandidaten noch schlechtere Umfragewerte haben als der amtierende Kandidat auf die demokratische Spitzenkandidatur, ist vor einigen Tagen noch die Forderung von Leuten gewesen, die Bidens Versuche, sich auf einen Stuhl zu setzen, den es nicht gab, für den Beweis seiner Vergeistigung hielten. Nun blühen entsprechende Verschwörungstheorien dort am buntesten, wo der Präsident als sichere Bank für four more years gilt.

Aufnahmen, "die angeblich den geistigen und körperlichen Verfall von Biden" zeigten, haben sich in bare Münze verwandelt.

Montag, 1. Juli 2024

EU: Das Reich der Menschen, umgeben von Feinden

Paris, Traumziel so vieler Deutscher und beliebtes Fotomotiv von Spitzenpolitikern aus Berlin, droht in diesen Schicksalstagen an die Falschen zu fallen.
 

Hört meine Worte, und bezeugt meinen Eid. Die Nacht zieht auf und meine Wacht beginnt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod. Ich will mir keine Frau nehmen, kein Land besitzen, keine Kinder zeugen. Ich will keine Kronen tragen und keinen Ruhm begehren. Ich will auf meinem Posten leben und sterben. Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Ich bin der Wächter auf den Mauern. Ich bin der Schild, der die Reiche der Menschen schützt. Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache, in dieser Nacht und in allen Nächten, die kommen. 

Eid der Nachtwache  

Die Reiche der Menschen, sie sind wieder einmal bedroht, akut bedroht. Im Süden sind die italienischen Postfaschisten aktiv, in Österreich reckt ein Rechtsradikaler sein Haupt. Ungarn ist schon länger verloren, Polen gerade zurückerobert, aber noch nicht für immer gesichert. 

Im Norden sind Zweifel an Schweden angebracht, in den Niederlanden ist es tödlich still, nachdem die Demokratie auch dort in die Hände ihrer Feinde gefallen ist. Kein Laut dringt aus dem Land, seit es sich auf "radikal-rechten Kurs" (Der Stern) gemacht hat. Und nun versammeln sie sich auch noch hinter dem längst geschleiften Westwall, die französischen Faschisten, eben noch gute Freunde der gemeinsamen Werte und mit einem Schlag im Anmarsch, 75 oder mehr Jahre europäischer Friedensordnung in den Staub zu treten.

Nur noch Freunde am Rand

Deutschland, die größte Nation unter den 27 gleichen im gemeinsamen Europa, sie steht auf einmal wieder fast allein. Stürzt bald auch noch Amerika, steht Deutschland wie vor 80 Jahren allein im kalten Wind der Wirklichkeit, "die uns umzingelt" (Robert Habeck). Ein paar Mächte am Rand halten zur Stange. Spanien, Portugal, Griechenland, sie geben die Stellung nicht auf wie manch langjähriger Weggefährte, der die Nerven verliert und sich in eine bequemere Anschlussverwendung geflüchtet hat. Noch. Aber das Ende ist bekannt.

Die Signale sind nicht zu übersehen. Die Gegner von Fortschritt, Green Deal, Verbrennerverbot und Willkommenskultur, sie sammeln sich. Sie sammeln sich zum Sturm auf die Institutionen, die seit den ersten Montan-Verträgen den Weg zu immer mehr Europa geebnet und Kurs auf die Vereinigten Staaten von Europa gesetzt hatten. Frankreich kippt. Die Achse Berlin-Paris, unter dem Duo Olaf Scholz und Emmanuel Macron ein rostiges Stück Alteisen, sie quietscht und knirscht und sie kann jeden Moment brechen. Und der Rest Europas droht mitzufallen: Halb zog es ihn, halb sank er hin. 

Zeichen setzen

Während die wenigen verbliebenen Aktivisten der großen Remigrationsdemonstrationen vom Jahresanfang nach Westen pilgern, um Zeichen zu setzen, bröckeln die Brandmauern ringsum. Mit letzter Kraft und gewieften Tricks nur konnten sich die Staatenlenker der Gemeinschaft nach dem Debakel der EU-Wahl noch einmal auf ein Weiterso unter der deutschen Kommissionschefin Ursula von der Leyen einigen. Schon dazu aber musste alles, was von der demokratischen Mitte übrig war, ohne Rücksicht auf das eigene Ansehen oder kommende Wahlen gemeinsame Sache machen. 

Die erste Runde der Parlamentswahlen in Frankreich nährt allerdings ernsthafte Zweifel daran, ob Wählerinnen und Wähler es honorieren, dass immer dasselbe hinten rauskommt, ganz egal, wo sie ihre Kreuze machen. Beteiligt am - womöglich bereits letzten - Rettungspaket für die bei den Bürgerinnen und Bürgern so arg in Verruf geratene EU waren Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten aller sozialistischen Sehnsuchtsstufen. Geht es nach dem abgewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron, sollen es dieselben Parteien in derselben Konstellation sein, die zusammen mit den Linkspopulisten verhindern, dass die Rechte die Macht in einem weiteren EU-Kernland an sich reißt.

Das bisschen Mitte

Das bisschen Mitte, verbündet mit den Linkspopulisten des Jean-Luc Mélenchon, der seine europafeindliche Bewegung die "Neue Volksfront" nennt, soll verhindern, dass die Reiche der Menschen noch weiter schrumpfen und die Regionen noch größer werden, in denen die Ideologie des Rechtspopulismus das Sagen hat. Nurmehr Deutschland, jenes von der Geschichte gebrannte Kind, widersteht der Versuchung, es nach allen denkbaren Kombinationen der traditionellen Koalitionsfarben mal mit einer ganz anderen Mischung anderem zu versuchen. 

Hier, wo die Quantenmechanik selbst das Backhandwerk bestimmt, müssen Millionäre nicht vor rechten Scharfmachern fliehen. Hier, wo die globale Mindeststeuer regional durchgesetzt wurde, werden auch die kommenden desaströsen Niederlagen bei den Landtagswahlen niemanden länger als fünf Minuten darüber nachdenken lassen, wohin ein Weg führt, den immer weniger Menschen mitgehen.

Schild und Schwert

Die Wacht, sie wird nicht enden vor dem Tod, die SPD wie Grüne, FDP und Christdemokraten, sie sind nicht nur in Macrons Frankreich die Wächter auf den Mauern, das Schwert in der Dunkelheit und das Schild, das die Reiche der Menschen schützt. Sie sind auch bereit, ins eigene Verderben zu laufen und das über Jahre hinweg erwirtschaftete Vertretungs- und Anerkennungsdefizit bei der Mehrheitsbevölkerung so lange unbeachtet zu lassen, bis es selbst mit Hilfe der neugeschaffenen Linkspopulisten nicht mehr reicht, die unaufhaltsame Rechtsverschiebung in der politischen Landschaft aufzuhalten. 

Nur noch um Zeit geht es, um das Warten auf eine jähe Wendung, von der weder Macron noch Scholz noch sonst irgendwer in einer der Parteizentralen der Traditionsparteien sagen könnte, worin oder woraus sie bestehen könnte. Ein Wirtschaftsaufschwung würde helfen, am besten etwas mit Wumms, das bis in die verbliebene dünne Schicht der Arbeiterklasse reicht, die als Avantgarde am häufigsten rechts wählt. Auch ein Kriegsende im Osten wäre nützlich. Wie die Sache mit der Wirtschaft aber sieht sich die Regierung auch hier seit Jahren außerstande, irgendeine Art von Initiative zu ergreifen.

Das Pferd soll sprechen lernen

Kommt Zeit, kommt Rat. Man kann sich der Realität sofort ergeben. Oder wetten, dass es gelingt, einem Pferd das Sprechen beizubringen. Entweder, es klappt. Oder es klappt nicht, das aber auf jeden Fall später. Wenn die Rechtspopulisten dann erst übernehmen, wird alles schlimmer werden. Die Wendung schärfer. Der Kurswechsel bei Migration, EU-Ausbau, Klimaschutz und Identitätspolitik so rasant, dass allerlei aus der Kurve zu fliegen droht. 

Einen Plan B aber gibt es in Berlin so wenig wie in Paris. 

Stattdessen ist in der deutschen Hauptstadt eine ähnliche Lust am Untergang zu spüren, wie sie auch Macrons Neuwahlentscheidung ausdrückte. Wenn schon, denn schon, und dann mit knallenden Türen. So wird gegangen, dass die Welt bebt.