Sonntag, 23. Juni 2024

Sehnsucht der Völker: Wo bleibt die EU-Nationalmannschaft?

Die Trikot der neuen EU-Nationalmannschaft sind schon lange fertig: Eigentlich sollte schon 2020 soll eine gemeinsame EU-Elf für Europa antreten.
 
Sie war schon vor sechs Jahren versprochen, ein Mittel im Kampf gegen rechten Nationalismus und linke Spalter, eine Hoffnung der Völker auf mehr Gemeinsamkeit und Frieden. Doch obwohl die damalige EU-Kommission glasklar erkannt hatte, dass die Zeiten großer Fußballturniere nicht nur immer eine gute Gelegenheit sind, unangenehme Entscheidungen zu treffen, sondern auch Tage, in denen das alte, grausame Gespenst des Nationalismus aus seinem Keller kriecht, wurde bis heute nichts aus dem kühnen Plan einer Mannschaft für alle.
 
Wie das Klimageld, die gemeinsame EU-Armee und die für 2025 versprochenen "Vereinigten Staaten von Europa" ist der Traum von einer einheitlichen EU-Nationalmannschaft, in der die Europäer endlich miteinander statt gegeneinander spielen, ein Phantom geblieben. Das Nationale, zuletzt von der SPD im EU-Wahlkampf offensiv genutzt, ist den strammen Nationalisten offenbar immer noch zu nützlich, um sich Mehrheiten zu sichern, als dass sie auf die Sehnsucht der Völker Rücksicht nehmen, die nicht mehr zu selbstsüchtigen nationalen Regungen verleitet und von betont vielfältig gekleideten Mannschaften gegeneinander in Stellung gebracht werden wollen.

Die Nation als das Trennende

Wenn die Fahnen wehen, ist der Verstand in der Trompete, hat Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gesagt. Ein Satz, der später ein altes ukrainisches Sprichwort wurde, weil er gut beschreibt, wie Sport spaltet, der Teamgedanke zu Ressentiments führt und selbst fortschrittliche Geister plötzlich in atavistische Reflexe zurückfallen, bei denen das Gegenüber nicht mehr Mensch ist, sondern Schotte, Ungar, Türke mit Ruhrgebietswurzeln, Schwarzer, Weißer oder Pole, der auch schon in Hamburg gespielt hat.

So sehr sie die Gemeinsamkeiten sucht, die sie so selten findet, so sehr fürchtet die EU sich auch nach dem verheerenden Rechtsruck vom 9. Juni noch vor dem schnellen, entschiedenen Schnitt in den alten Zopf der nationalstaatlich bestimmten Fußballmannschaften. Brot und Spiele und nationalistische Gefühle, sie dienen nicht nur der Ablenkung von den Nöten des Alltags, sondern auch der emotionalen Entlastung: Individuen sind aufgefordert, sich einer Gruppe anzuschließen, in dem sich kleiden wie andere Mitglieder, dieselben Lieder grölen und dieselben Fahnen schwenken. 

Gegen fragwürdige Regimes

Auf Augenhöhe tritt die Gefühlsgemeinschaft dann an gegen die fragwürdigen Systeme aus Ungarn und der Türkei. Man misst sich beim Laufen und Schießen mit einem Land wie der Schweiz, gegen das seit Jahren strenge Sanktionen verhängt worden sind. Und selbst den Russlandfreunden aus Serbien und den georgischen Vertretern, die gerade die Werte der EU verraten haben, begegnen die Kicker der Demokratien als Sportsmänner.

Dass die Kraft der gemeinsamen Werte sich zum Teil gegenseitig aufhebt, wenn die Niederlande Polen schlagen oder die Portugiesen Tschechien, ist ein trauriges Kapitel der Uneinigkeit, die in der größten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte nicht nur über die EU-Armee und die neue EU-Außenbeauftragte, sondern auch über die gemeinsame EU-Nationalmannschaft herrscht.
 
Dass Nationen eine längst überholte Idee des 19. und 20. Jahrhunderts sind und "Nationalmannschaften" nur ein obsoletes Vehikel, um die großen Nationenkriege auf dem Sportplatz nachzuspielen, weiß jeder. Doch den Schritt zu gehen und als EU voranzumarschieren, indem die derzeit 27 Nationalteams zu einer Mannschaft zusammengelegt werden, davor scheuen alle zurück.

Fußball am Ende der Nation

Dabei hatte der deutsche Kommissar Günther Oettinger schon vor vielen Jahren "mehr Gemeinsamkeit" in der EU gefordert und damit die Arbeit an der Verordnung EG-BKSport 08/2018 ausgelöst, die offiziell "Verordnung über die Annäherung der Fußballnation Europa" hieß. Das EU-Gesetz, das die Mitgliedsstaaten ursprünglich bis zur Winter-WM in Katar hatten umsetzen sollen, ebnete den Weg einem einheitlichen Fußball-Europa. Das Ziel war festgeschrieben: Statt einer Vielzahl von Nationalmannschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten der Union sollte nur noch eine einheitliche EU-Nationalmannschaft als völkerverbindendes Identifikationsangebot für alle Europäer an den Start gehen.
 
Aus 27 mach 1, das würde auch der Fußball-Europameisterschaft neues Leben einhauchen. Nicht mehr die immer gleichen würden von Sieg zu Sieg eilen, denn 15 der 16 Plätze im Euro-Starterfeld, die derzeit EU-Staaten blockieren, wären frei für mehr Vielfalt und Diversität am Ball. Andorra, Island und Bosnien könnten dabeisein, Monaco, Montenegro und Norwegen. Es würde sogar reichen, um neben England und Schottland auch Nordirland und Wales mitspielen zu lassen. Selbst Israel, das wegen der Weigerung seiner Nachbarn, gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten anzutreten, ohnehin in den europäischen Wettbewerben antritt, hätte eine sichere Teilnahmeperspektive.

Eine erste Internationalmannschaft

Aber natürlich keine Titelaussichten. Eine gemeinsame europäische Mannschaft wäre vermutlich auf Jahre hinaus unschlagbar, sie würde den Weltfußball zu dominieren. Ein probates Mittel in Zeiten, in denen es keine Kleinen mehr gibt und einzelne EU-Länder allein kaum noch Aussichten auf Erfolg haben. Über die Mittel und Wege, eine solche europäische Nationalmannschaft zusammenzustellen, verfügt die EU längst: Nach dem Vorbild der EU-Kommissare könnte jeder Mitgliedsstaat einen Kicker entsenden, den einen Platz zu viel, den das Regularium der Uefa nicht hergibt, übernähme der Trainer.

Günther Oettinger hat darin seinerzeit auch eine emotional unumgängliche Weichenstellung gesehen. "Die Union ist ohne gemeinsame Internationalmannschaft unvollständig", mahnte er vor Jahren schon. In Abstimmung, aber mit einfacher Mehrheit, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, könnte der EU-Rat über Aufstellung und Taktik abstimmen und die Quotierung der Einsatzzeiten der einzelnen Vertreter der Mitgliedsstaaten überwachen. Mit einem System aus Setzen, Losen und Rotieren soll sichergestellt werden, dass die Aufstellung der EU-Elf stets sportlich fair als politischer Kompromiss ausgehandelt wird.

2 Kommentare:

  1. "Eine gemeinsame europäische Mannschaft wäre vermutlich auf Jahre hinaus unschlagbar, sie würde den Weltfußball zu dominieren."
    Das hat man 1990 auch von Deutschland gesagt. West- und Ostdeutschland zusammen sind unschlagbar.
    Der nächste Europameister war dann Dänemark.

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    1. Wenn sie nur die EM gewänne, würde das doch schon genügen. Das würde schwer genug.

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