Geschlossene Gesellschaft: Die EU-Wahl ist eine Wahl ohne Wahlkampf. |
Wenn Willy Brandt kam, füllten sich die Marktplätze. Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Gregor Gysi, selbst die frühe Angela Merkel, sie alle zogen in einer fernen Vergangenheit Menschenmassen an, wenn es in den Wahlkampf ging. Volkstribune waren gefragt, laute Stimmen und große Lautsprecher, um die Zweifelnden zu überzeugen, die Wankenden auf die richtige Seite zu ziehen und den politischen Gegner einzuschüchtern.
Leiden, werben und überzeugen
Wahlkampf, das hieß leiden, werben und überzeugen. Zu ihren Auftritten hetzten die Zugpferde der Parteien, gern auch "Wahlkampflokomotiven" genannt, in 16-Stunden-Tagen durch die Republik, heiser, von Schlafmangel geplagt, die leidenschaftlichen Reden mal um mal wie Roboter replizierend. Auch diese Zeiten, in denen das Wahlvolk wie nach Belieben über seine führenden Politiker verfügte, als handele es sich um Leibeigene, sind vorüber.
In der geschlossenen Gesellschaft, in der anlässlich der EU-Wahl eine Wahlkampfsimulation mit Fernsehspot, Plakaten und schmissigen Parteitagsinszenierungen stattfindet, ist kein Platz mehr für allzu viel Volks. Nicht dass das heut noch strömen würde, wenn Europas stärkste Stimme oder die nicht kandidierende Spitzenkandidatin der Union auf einen Marktplatz riefe. Nein, dort wo die großen Namen mit dem dünnen Klang auftreten, bleiben die Menschenmengen überschaubar. Aber nicht nur deshalb meidet das politische Europa die Wählerinnen und Wähler je gründlicher als der Teufel das Weihwasser. Die EU als hermetische Elitenveranstaltung kann ersten keine Massen mobilisieren. Zweitens aber weiß sie das genau und um blamable Bilder zu vermeiden, unterlässt sie jeden Versuch.
Wahlkampf im Saale
Der Wahlkampf, jedenfalls das bisschen, was daran erinnert, findet im Saale statt, der genaugenommen ein Hinterzimmer ist. Was dort gesagt wird, interessiert kaum jemanden, wo die namenlosen Kandidaten auflaufen, erfüllt von der Hoffnung, nach dem Wahltag wie immer bis zum nächsten Mal in die kühlen Hallen von Straßburg und Brüssel zu entschwinden, findet sich nicht die neugierige Wählerschaft ein, die wissen will, wie es weitergehen soll. Sondern Parteisoldaten, gelangweilte Vertreter von Interessengruppen und die traurigen Reste der Zivilgesellschaft. Allenfalls dienen die Landungen der Spitzenkandidaten dieser oder jener Protestszene als Anlass, Flagge zu zeigen. Und anderen als Gelegenheit, gegen den Protest zu protestieren.
Auftritte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, schnell rein, schnell raus und ohne großes öffentliches Trommeln, so halten sie es alle. Katarina Barley, in der finalen Phase als "Katarina die Starke" unterwegs, meidet jedes Aufsehen. Lieber kommt sie "Auf ein Eis" zu handverlesenen "Bürgern" (SPD) oder sie sucht den Kontakt hinter sicheren Werkstoren. Ihre grüne Konkurrentin Terry Reintke ist ebenso bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr Wahlkampfteam zeigt am liebsten Nahaufnahmen im Kreise anderer Parteiarbeiter, auch mal die Kandidatin im Gespräch mit zwei Engagierten vom THW.
Vermiedener Marktplatztest
Mehr Masse braucht niemand, denn wer braucht schon den alten Marktplatztest für seine Positionen, wenn er im "Wahlkampfendspurt" stattdessen einen virtuellen Impulsvortrag beim Verband der Süßwarenindustrie halten oder eine Ausstellung "Art of Fundamental Rights" eröffnen mit einem moderierten Gespräch kann. Es ist alles gesagt, mittlerweile auch von allen. Es hört auch schon lange niemand mehr zu. Vielleicht bringt das Hochwasser noch die eine oder andere Gummistiefelstimme. Das in Teilen staatliche Werbeportal T-Online hat auch einen passenden Grund dafür gefunden. "Klassischer Wahlkampf – das lockt die Jungen nicht an".
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