Vom traditionellen Ausrufungssims am Reichstag rief Bundesfinanzminister Christian Lindner am Freitagvormittag vor einer wartenden Menschenmenge erfolgreich den neuen Notstand aus. |
Nun bloß keinen Fehler mehr machen, nicht weiter männerbündeln mit den falschen Vertrauten und nur ja keinen erneuten Verfassungsbruch riskieren. Zwei Wochen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe, das die gesamte Haushaltsplanung der Ampel-Koalition in einen Scherbenhaufen aus dem Reich der Sagen und Märchen verwandelt hatte, rauchten im politischen Berlin tagelang die Köpfe. Wie nun weiter? Was tun? Welche Schuldentricks sind noch möglich, wie lässt sich weitermachen ohne rechtliche Grundlage? Neue Kredite, Goldverkauf im großen Stil, radikale Steuererhöhungen noch weiter über das geplante Maß hinaus?
Kein vorgeschriebener Wortlaut
Es war an Finanzminister Christian Lindner, die basics zu zu klären. Was ist überhaupt noch rechtmäßig? Bis wohin zurück müssen die Bereinigungsbemühungen gehen? Und wenn es notwendig ist, eine Fortdauer der seit Jahren bestehenden Notlage zu erklären, wie ist das vorgeschriebene Ritual? Gibt es einen Notstandsnotar, der die offizielle Erklärung beeidet? Welchen Wortlaut schreibt die Verfassung vor? Muss eine Ausrufung des Notstandes öffentlich erfolgen? Reicht der Ausspruch einer bestimmten Notstandsformel im Amtszimmer des Finanzministers? Im Beisein des übrigen Kabinettes? Oder ist eine Durchsage im Deutschlandfunk, die Beschwörung sei ausgesprochen worden, ausreichend?
Nur die älteren Spitzenkräfte im Finanzministerium, Männer und Frauen wie Haushaltsstaatssekretär Werner Gatzer, der seit 2005 über die Einhaltung der grundgesetzlich vorgegebenen Traditionen bei neuen Notständen wacht, wussten noch um die überaus komplizierten, aber unerlässlichen Regeln: Die Regierung muss die sogenannte außergewöhnliche Notlage beschließen, der Finanzminister muss sie erklären: Später wird sie der Bundestag dann zur Abstimmung vorgelegt, wobei die Zustimmung als Formsache gilt.
Formgerechte Erklärung vom Reichstagsims
Doch zur formgerechten Erklärung des Notstandes, der nach Artikel 115 des Grundgesetzes eine oder mehrere Ausnahmen von den strengen Vorgaben der Schuldenbremse erlaubt, gehört noch mehr. Vorgeschrieben ist tatsächlich, dass der Finanzminister den Notstand ausruft - erst dann kann die sogenannte Bremsenbremse inkrafttreten. Möglich ist das "im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen
Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die
staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen". Gedacht haben die Väter der Schuldenbremse dabei unter anderem an die Möglichkeit, dass Waffenlieferungen zu finanzieren sind, Heizungsanlagen akut und dringend ausgetauscht und EU-Dämmvorschriften umzusetzen sind oder der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft zu fördern ist. Einsatz von Fachfensteröffnern
Seit Philipp Scheidemann hier am 9. November 1918 die Republik ausrief, gilt ein unscheinbarer kleiner Balkon des Reichstages als vorschriftsmäßiger Platz für die Ausrufung von ganz gewöhnlichen "außergewöhnlichen Notsituation". Eine Tür links des Portals, direkt neben dem zweiten Fenster des ersten Stockwerks, das im Normalfall verplombt ist, wird in erforderlichen Fällen durch beauftragte Fachfensterhandwerker geöffnet. Verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, dass der amtierende Bundesfinanzminister als Ressortverantwortlicher dann den schmalen Sims betritt und einer wartenden Menschenmenge die ersehnte neue Haushaltsnotlage verkündet.
Eine feierliche Form ist dabei nicht Bedingung, auch eine konkrete Schwurformel mit Gottesbezug ist nicht vorgesehen. Allerdings muss der das Ritual ausführende Finanzminister die Arme am Ende seiner Notstandserklärung wie einst Scheidemann siegesgewiss ausbreiten und entschlossen auf den Horizont blicken, um der anhaltenden oder erneuten "außergewöhnlichen Notsituation" zur Durchführung der Fortführung der "unveränderten Modernisierung" (Olaf Scholz) Verfassungsrang zu verleihen.
Simsverkündung nur erster Schritt
Nach Angaben führender Verfassungsrechtler gilt das als erster Schritt für einen wirksamen Notstandsbeschluss. In einem zweiten Schritt muss dann eine Begründung vorgelegt werden, warum neue und noch höhere Kreditlasten zu Ungunsten der jungen und jüngeren Generation notwendig sind. Denkbar sind Hinweise auf anderenfalls drohende Vulkanausbrüche, Probleme bei der geplanten Endlagersuche für radioaktiven Müll und der Auszahlung von Fördermitteln.
Über den Zeitrahmen entscheidet die Bundesregierung dabei selbst, sie hat auch die Möglichkeit, der Opposition Angebote ihrer Wahl zu machen, um erneute Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht zu verhindern. Der EU-Kommission in Brüssel muss zudem sowohl ein Genehmigungsantrag für die Erlaubnis der Einführung des Notstandsregimes als auch eine Video- und Audio-Aufzeichnung des ordnungsgemäß durchgeführten Ausrufungsaktes vorgelegt werden.
EU-Erlaubnis ist Formsache
Die Erteilung der Erlaubnis gilt dann in der Regel als Formsache, sie erfolgt wiederum nach dem von den Müttern und Väter der Gemeinschaft vorgesehenen Trilog, einem informellen Verhandlungstreffen zwischen Vertretern der 3 am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe EU-Rat, EU-Kommission und Europäischem Parlament. Ob das erneute Aussetzen der Schuldenbremse für das Jahr 2023 verfassungsgemäß ist, hängt also maßgeblich davon ab, wie buchstabengetreu Regierung und Bundestag die "außergewöhnliche Notsituation" und den erforderlichen Zusammenhang zwischen den finanzierten Maßnahmen und der Notsituation begründen.
"im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen"
AntwortenLöschenIst das Abicht, dass die gleiche Phrase auch in Art. 109, Abs. 3 aufgeführt ist?