Der deutsche Atomausstieg wird weltweit als beispielhaft gelobt. Wie er über Jahrzehnte hinweg vorbereitet und durchgesetzt wurde, ist eine bis heute unerzählte Heldengeschichte. |
Sie denken sich Dinge einfach aus, Dinge, die genauso gut wahr sein könnten. Namhafte Verlage finden sich, die die Botschaft verbreiten, ungeprüft im besten Fall, im schlimmsten aber, obwohl sie genau wissen, dass nichts von dem stimmt, was da behautet wird. Die Politik, die aufgefordert wäre, die Zustände zu ändern, indem sie hart durchgreift gegen die Verbreiter historischer fake news, ignoriert die Gefahren, die der Gesellschaft erwachsen, wenn dauerhaft falsche Behauptungen über den Lauf der Geschichte im Umlauf sind.
Ein sogenannter Roman
Immer noch darf deshalb auch "Wende" verkauft und rasch verbreitet werden, ein sogenannter "Roman" der in London lebenden Eva Lapido, der ein Alternativweltszenario entwirft, das beängstigend glaubhaft wirkt. Alles ist hier miteinander verwoben: Der Osten und die Finanzwirtschaft, die deutsche Angst vor dem Atom, die Stasi und die westdeutsche Eliten, an deren langen Arm die Faust hängt, die die Ossis wie Zitronen auspresst.
Als Jugendliche hat Eva Ladipo die üblichen Bücher gelesen. Im heimischen Bad Homburg war die "Wolke" allgegenwärtig, der Atombombenabwurf und der Super-Gau, der Angriff der Russen und die verbrannte Erde durch das Ozonloch standen vor der Tür des westdeutschen Einheitseigenheims. Lapido ist fortgegangen, hinaus in die weite Welt. Sie studierte Cambridge und promovierte in Sankt Petersburg, schrieb für die damals noch konservative FAZ und siedelte schließlich nach London über. Dort begann sie mit der Arbeit an "Wende", einem als Thriller verkleideten Vorschlag zu einer Verschwörungstheorie, die alles erklären würde, was Historikern im Geschichtsablauf seit Ende der 80er Jahre trotz aller Aufklärungsbemühungen rätselhaft scheint.
Wer die Wahrheit in Zweifel zieht
Lapidos Buch zieht in gewohnter Weise die Staatssicherheit der DDR heran, um aus realen Versatzstücken und fantasiereicher Fiktion ein glaubwürdiges Gesamtbild zu erschaffen: Am Anfang fällt ein früher Grüner vom Glauben ab, das bezahlt er mit dem Leben. Doch die von ihm gemachte Entdeckung, kurz nach dem Reaktorunglück in Fukushima, von höchster Bedeutung für die Zukunft der Nation, die keine mehr sein will, wird von einem seiner Kollege weiterverfolgt.
Der ist ein junger Ostdeutscher, ein Aufsteiger, der sich glücklich schätzen kann, als einer von ganz wenigen getopften Kindern überhaupt mitspielen zu dürfen im Konzert der richtigen Menschen. Lange scheint es möglich, ihn rauszukaufen aus seinen Skrupeln und ihn werden zu lassen, wie die anderen sind. Aber tief drinnen ist dieser René Hartstein eben doch ein Ostler, aus dem die DDR nicht auszuwaschen ist. Er folgt seinen Herren, britischen Investmentbankern. Aber er folgt auch seinem Instinkt, sich nicht wirklich einzulassen mit Leuten, die vom selben Schlag sind wie die, die er aus seiner Kindheit und Jugend kennt.
Ein völlig verrücktes Land
Kein Held, sondern eine Kamera, die Lapido durch eine Landschaft fahren lässt, in der alle verrückt geworden zu sein scheinen. Nach Fukushima ist die ganz Welt froh, dass nichts wirklich Schlimmes passiert ist. Die Deutschen aber genießen es, sich vorzustellen, wie schlimm es gewesen sein könnte. Und eine Kanzlerin, einsam in ihren Entscheidungen und niemandem außer ihrem eigenen Gewissen verantwortlich, entscheidet, dass Europas größte Wirtschaftsnation aussteigen wird aus dem Atom.
Ein Sieg für die Hintermänner einer Bewegung, die noch vor einigen Jahren als frei erfunden hinreichend beschrieben war, im Licht aktueller Ereignisse aber durchaus realistisch erscheint. Eingebettet in eine unterhaltsame Handlung voller Stasi-Agenten, ruchloser Manager und profitgieriger Erben des SED-eigenen KoKo-Imperiums, geht es um die Frage, wer sich das alles ausgedacht hat mit der Angst vor der Atomkraft, wer die "Nein Danke!"-Bewegung in der alten Bundesrepublik finanziert und an der Wiege der Grünen gesungen hat, bis der gärige Haufen der frühen Jahre zur regierungspartei wurde.
Ostdeutsche Quengelei
Hartstein, der Einzige in seiner Familie, der den Hörsaal einer Universität von innen gesehen hat, der einzige mit einem lukrativen Job und der Einzige, der die daheim in den Elendssiedlungen der Post-DDR Zurückgebliebenen finanzieren kann, müsste die Klappe halten, um seinen Platz am Futtertrog nicht zu riskieren. Doch obwohl einer der Wendegewinner, kann er nicht anders als seinen hoch dotierten Job bei einem rätselhaft erfolgreichen Investmentfonds aufs Spiel zu setzen, weil ihn seine eigene Biografie zwingt, in der Vergangenheit herumzurühren, um sie zu verstehen.
Das ist unerhört, denn es weckt glaubhafte Zweifel daran, dass Geschichte warm, wie sie gewesen ist. Geht es nach Eva Lapido, ziehen immer irgendwelche Kreise im Hintergrund an Fäden, die der normale Mensch nicht sehen kann. Ehemals waren es Agenten der Sowjetunion, doppelt verpflichtet oder dreifach im Sold, neuerdings erledigen das andere Bedienstete, Leute mit langem Atem, die warten können, bis die Gelegenheit passt. Eva Lapidos Held stellt am Ende seiner langen Reise in die Finsternis der wirklichen Zusammenhänge von zufälligen Ereignissen und ihren Wirkungen fest, dass kaum etwas so scheint wie es ist. Das "schmutzige Werk von Leuten mit schlechten Nerven", wie es eine der Verantwortlichen am Ende nennt, zielt auf Profite, tarnt sich aber als Philantropie.
EU und Bund müssen reagieren
Dass gerade Menschen, die noch Bücher lesen, anfällig sind für die Versuchung, nicht alles zu glauben, was ihnen erzählt wird, ist nach solcher Lektüre kein Wunder. Hier wird die Saat des Zweifels gelegt, hier züchten vermeintliche Romanschreiber*innen skrupellos krude Thesen, die allem widersprechen, was nachweislich Konsens ist. Und umso verwunderlicher ist, dass die Bundesregierung und die EU noch immer keine Anstalten machen, im Bereich der vermeintlichen "Literatur" strenge Maßstäbe anzulegen an Wahrheitspflichten, überprüfbare Fakten und die Einhaltung von Regeln, die das Schüren von Verunsicherung durch verfälschte oder ganz und gar erfundene Geschichten untersagt.
Danke für den Link. Habe ich angeklickt und am Ende gleich zwei Rechtschreibfehler entdeckt.
AntwortenLöschen>> Freihändiges Texten ist dann doch eine ganz andere Haunummer.
Den könnte ich eigentlich stehen lassen, denn es stimmt ja.
Danke für den Literaturtip, habe ich beim Monopolisten gleich bestellt. Habe auch einen: https://www.1989mauerfall.berlin/
AntwortenLöschenSehr interessant und amüsant...