Dienstag, 19. September 2023

Die Delegitimierer: Schlimmer Trend zum Zweifel am Staat

Die Parole vom "Staatsversagen" hat es aus den Schmuddelecken des Intenets zum medialen Modebegriff gebracht.

Sie galt schon als heiliges Tabu, als es sie noch nicht gab. Zuletzt wurde sie dann sogar als rechtswidrige Vorstraftat neu eingeordnet, so dass der Verfassungsschutz bei aufkommendem Verdacht in Aktion treten und mit ersten Beobachtungsmaßnahmen Verdächtiger beginnen kann. Die "verfassungsfeindliche Delegitimierung des Staates" nimmt "losgelöst von jeder sachbezogener Kritik" Kurs auf eine "tatsächlich verfassungsfeindliche Agenda" (BfV), die unzulässige Zweifel an der Handlungsfähigkeit der zuständigen Organe schürt, Ängste vor dem Zusammenbruch der freiheitlich-demokratischen Ordnung verstärkt oder von einer Mehrheit der Bevölkerung anerkannte Symbole des freiheitlichen Verfassungsstaates beschmutzt und besudelt.  

Kein legitimer Protest

Der wehrhafte Verfassungsstaat zeigt Entschlossenheit. Er lässt sich nicht so einfach beiseiteschieben von Menschen, bei denen "aus Skepsis gegenüber dem Verfassungsstaat seine Bekämpfung wird", wie BfV-Chef Thomas Haldenwang formuliert hat. Überall da draußen, wo sich Gruppierungen und Einzelpersonen "unter anderem in einer aggressiven Agitation gegen Repräsentanten und Institutionen des Staates" bedienen, "um dessen Legitimität systematisch zu untergraben", gehen öffentlich geäußerte Meinungen oder Aktionen über das Maß eines legitimen Protest hinaus.

Da wurden nicht nur Bahnanlagen angegriffen, sondern die Corona-Schutzmaßnahmen. Da wurde nicht nur Luft aus den Reifen umweltschädlicher SUVs gelassen, sondern zum Ignorieren gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufgerufen. Da wurden nicht einfach Farbattacken gegen Denkmale organisiert, sondern demonstrativ "Spaziergänge" missbraucht, um die Richtigkeit all der voneinander abweichenden Beschlüsse von Bund und allen Bundesländern infragezustellen. Das Zeichen war klar. Dieser Staat wehrt sich gegen seine Feinde. Er wird nicht nachgeben und sich nicht beugen.

Die Mühen der Demokratie

Gezielt wird der Staat madig gemacht.

Obwohl es gelang, die Delegitimierungsbewegung mit dieser Strategie tatsächlich in einem Maße zu marginalisieren, dass selbst die größten zweifelschürenden Organisationen heute kaum mehr ein Zehntel der Menschenmengen zu mobilisieren vermögen, die ihnen auf den Höhepunkt ihrer medial befeuerten Popularität nachgelaufen waren. Heute kommen nur noch wenige, es sind oft nur die Verbitterten, die, die mit den Mühen der Demokratie, einem bürgerlichen Erwerbsleben und dem Traum von Festanstellung, Eigenheim, Auto und eigener Wärmepumpe abgeschlossen haben. 

Gewonnen aber ist nichts. Denn ausgerechnet dort, wo Vater Staat seine verlässlichsten Bataillone  vermutet, wächst in diesen Tagen offenbar die Versuchung, wider den Stachel zu löcken und genau die Narrative zu bedienen, mit denen Reichsbürger, Selbstverwalter, Klimakleber und als in Teilen verfassungsfeindlich enttarnte Parteien ihre Verschwörungserzählungen bestreiten: Es geht dann um vermeintlichen Macht- und Kontrollverlust, um angebliches  "Staatsversagen" und einen "Staat ohne Plan", wie es die ehemals so angesehene Wochenschrift "Die Zeit" nennt. 

Ein Trend zum Misstrauen

Obgleich der Staat heute wie bis in Heizungskeller, Garage, Bett und Kühlschrank regiert, geht der Trend zum Misstrauen. Zahlen des Suchmaschinenkonzerns Google zeigen einen Anstieg von Null auf Hundert allein bei der kontrafaktischen Worthülse "Staatsversagen", auch bei "Politikversagen" und "Politikerversagen" ist der Anstieg enorm: Bei den Grenzkontrollen versage der Staat, bei der Migration insgesamt, beim der europäischen Flüchtlingslösung und beim Zwei-Prozent-Ziel. Geschürt wird zudem immer wieder auch der Verdacht, in der EU gebe es Korruption, dabei sind alle Verdächtigen inzwischen aus der Haft entlassen worden und die der Unterstützung von Katar bezichtigte Griechin Eva Kaili hat ihre normale Arbeit im Parlament ganz im Dienst der Bürgerinnen und Bürger mittlerweile wieder aufgenommen.  

Das Vergnügen daran, sich aus mutwillig zusammengesuchten Halbwahrheiten ein Bild über Land, Zeit und Leute zu machen, lassen sich die eingeschworenen Verfechter einer Politik, die das Wohl des Planeten höher wichtet als das Wohl der auf ihm lebenden Menschen, davon nicht nehmen. Waren es eben noch Rechte, Rechtsextreme, Rechtsradikale, Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, die sich sicher daran erkennen ließen, dass der Begriff "Staatsversagen" zu ihrem Grundvokabular gehörte, steigen nun auch Gemeinsinnsender, Verbände, Bundesministerinnen, lokale Zeitungen und linke Blätter, aber auch Illustrierte und ehemalige Nachrichtenmagazine in die durchsichtige Kampagne ein.

Vom Müllhaufen der Geschichte

Längst hat die Süddeutsche Zeitung abschließend nachgewiesen, dass der "Begriff für Untertanen" auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, weil jeder, der ihn verwendet, dem "Staat in letzter Konsequenz die Legitimität abspricht" und damit "insgesamt ein fragwürdiges Politikverständnis offenbar". Richtig ist und richtig bleibt, dass ein Staat, der sich darauf verlassen kann, dass niemand ihm in keinem Bereich Versagen vorwirft oder ihn gar als "failed state" (Der Spiegel) bezeichnet, ganz anders durchregieren kann als einer, der mühsam mit besonderen Leistungen um Anerkennung ringen muss. 

Das muss er auch, denn "nach 40 Jahren neoliberaler Deregulierung" (Die Zeit), in denen es gelang, die Zahl der hierzulande geltenden Bundesgesetze auf 1.773 mit 50.738 Paragraphen und 2.795 Bundesrechtsverordnungen mit 42.590 Paragraphen zu erhöhen, während die Zahl der Beamten und Angestellten im Öffentlichen  Dienst allein seit 2018 um fast fünf Prozent zunahm und die große Behördenansiedlungsoffensive ein bunte Vielfalt an neuen Verwaltungsanstalten schuf, ist der "Staat wieder gefragt" (Georg Diez). Aber wegen fehlender Planungen gehindert, durchzuregieren.

Wasser für die Mühlen der Falschen

Eine Kalamität, die nun selbst seine leidenschaftlichsten Verteidiger in Versuchung bringt, in den Chor der Delegitimierer einzufallen. Als wäre es ein Wettrennen, übertrifft man sich in Beschuldigungen, wo überall und wie schlimm der Staat versagt habe: Bei der Bahn und bei der Clankriminalität, bei Wohnungsbau und Bundeswehr, beim Meinungsfreiheitsschutz im Netz, in Berlin und im Geflügelstall. Ein wahres Trommelfeuer der Delegitimierung, bei dem jeder Einschlag Wasser auf die Mühlen der Falschen spült: Die können sich durch seriöse Medien bestätigt sehen in ihrer weit über die vom Verfassungsschutz geduldete "Skepsis" (Haldenwang) hinausgehenden Ansichten.

 

1 Kommentar:

  1. Der Diez weiß genau, dass sein Zeitungsschiff Schlagseite hat. Vielleicht ist ein kuscheliger Job in Berlin drin, wenn man laut genug den Hofsänger der Regierung gibt.

    Beim Seibert hat's geklappt und er wurde dann sogar ans Mittelmeer weiterprotegiert.
    Und wenn man mal ein Fettnäpfchen erwischt, steht die Völkerrechtlerin wie ein Mann hinter einem.

    https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/seibert-kopf-li.418021
    Israel wirft dem ehemaligen Regierungssprecher vor, sich in die Innenpolitik eingemischt zu haben. Baerbocks Amt findet, das sei die Aufgabe eines Diplomaten.

    Lol jau.

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