Der Osten ist eine Erfindung des Westens, seit es erlaubt wurde, nicht nur zu bemerken, sondern auch öffentlich zu erwähnen, dass die Rettung der verlorenen Gebiete zwischen Elbe und Oder nicht nur vorübergehend unter Leitung erfahrener Abgesandter aus den schon länger existierenden Bundesländern erfolgt. Großes Erschrecken in der Wissenschaft, großes Erschrecken in der Politik. Großes Erschrecken vor allem in den Medienhäusern in Frankfurt am Main, Köln, München und Hamburg.
Der Schlaf der Welt
Wie hatte das herauskommen können? Ging es nicht seit Jahren auch so? Don't ask, don't talk. Deutsche Manager, deutsche Richter, deutsche Politiker, deutsche Minister, sie sind natürlich westdeutsch, deutsche Kabinette wurden immer nur noch westdeutscher. Kompetentes Personal war unter in der Restbevölkerung Baugebiet DDR eben kaum zu finden. Bauten aber nicht genau diese Kolonialbeamten das beste und das allerbeste Deutschland aller Zeiten? Für West und Ost?
Warum das zerreden? Wieso jetzt, wo doch schon fast niemand mehr Ost und West überhaupt kannte? Welchen Grund konnte es geben, 32 Jahre nach dem Anschluss der Ostgebiete Texte über das Leiden der Angeschlossenen zu schreiben. Wo die sich doch selbst entschlossen hatten, die Freiheit gegen Fremdverwaltung und Wohlstandsversprechen einzutauschen?
In blühenden Landschaften
Waren sie nicht immer gut gefahren? Hatten sie nicht wirklich blühende Landschaften bekommen? War drüben, wo das alles bezahlt werden musste, nicht sogar das ewige Jammern, das Falschwählen und die Zurückhaltung beim korrekten Engagement hingenommen worden? Weil "die da" (Fanta4) eben einfach so sind? Bedauernswert, aber leider eben schon auch ein bisschen Familie, um die man sich mit "Ost-Programmen" immer mal wieder rührend kümmerte?
Der Osten ist keine Erfindung des Westens, sondern eines seiner Probleme. Einer der das bei seinen Auftritten brutal beweist, ist Nils Heinrich, ein Bühnenkünstler, der aus Sangerhausen stammt, einer Siedlung, die seit Jahren boshaft versucht dem rheinischen Eltville den Namen "Rosenstadt" streitig zu machen. Heinrich nutzt eine ähnliche Methode, um das richtige, das westlich gelegene Deutschland zur einzig wirklich bedauernswerten Baracke im Bundesbau zu erklären: Mehr als 30 Jahren nach der Wiedervereinigung schürt der Mittfünfziger Vorurteile, er verbreitet fake news und ja, im Rheinland, im Breisgau, Oberfranken, in Niedersachsen und in Württemberg stuft es mancher als Hass ein.
In den schlimmsten betroffenen Gebieten
Heinrichs Thema ist natürlich schon lange keins mehr gewesen, nicht einmal in den am schlimmsten betroffenen Gebieten Sachsens und Mecklenburgs. Selbst dort ist die Einheit als Fakt anerkannt, zähneknirschend hier und da, aber selbst die Antifa, die als Linkspartei auftretende SED und die von westdeutschen Lehrern und Gütersloher Unternehmensberaterinnen angeführte AfD akzeptieren, dass es zumindest zur Zeit keinen Weg zurück zur Zweistaatlichkeit gibt.
Eigentlich ist Heinrichs Thema also kein Thema mehr. Der beim Westdeutschen Rundfunk in Köln sozialisierte gelernte Konditor hat es deshalb wieder zu einem gemacht. Man sehe heute noch "vielen runtergekommenen, abgehängten Gegenden in Westdeutschland an, dass die Einheit spurlos an ihnen vorbeigegangen ist", weint er falsche Tränen. Der stolzen Stadt Hameln, einer niedersächsischen Mittelstadt, die immerhin als Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums eingestuft ist und damit auf einer Stufe mit Münster, Hagen und Bielefeld steht, hat der Künstler sogar ein Lied geschrieben, in dem er die Stadt des Rattenfangs als "trauriges Beispiel von vielen" besingt.
Durchsichtiger Spaltungsversuch
Es ist ein Machwerk, ein Spaltgesang, eine Hymne auf längst überwundene falsche Bilder in den Köpfen bezieht, die es nicht mehr gibt. Was sich als "Lied voller Mitgefühl und Liebe" ausgibt, bedient in Wirklichkeit nur Vorurteile, die Fortschritte beim Aufbau leugnet und den durchsichtigen Versuch unternehmen, Unterschiede zwischen Ost und West zu machen, die es nicht gibt. Nachweisbar ist längst, dass in den neueren Bundesländern nicht mehr in Westdeutschland geborene Fachkräfte die lukrativsten und verantwortungsvollen Stellen in Politik, Wirtschaft, Medien und Verwaltung schultern. Und dass das wegen des Fachkräftemangels zwischen Greifswald und Crimmitschau die beste Lösung für alle ist.
Nils Heinrich gefällt sich in der Rolle des Herabwürdigers, im Mantel des Mannes, der den Spieß herumdreht und die Klischeekeule schwingt. Hameln sei ein Funkloch, Hameln habe keine Kita, den Hamelner wüchsen die Fußnägel ein, sie litten an Skorbut, verkauften ihre Töchter und hörten Pur. Kübel an Undankbarkeit wird ausgeschüttet über Menschen, die so viel Gutes getan haben bis weit über die Grenzen ihrer Stadt hinaus. Und die Politik schweigt. Ungestört verbreiten große Internetfirmen die Botschaft bisher über ihre Plattformen - alle Hoffnungen der Hamelnerinnen und Hamelner ruhen nun auf der EU, die mit neuen Regeln bald erneut versuchen will, dem Treiben der Vereinfache, Geschichtsklitterer und Erfinder eines Westens als abschreckendes Beispiel das Handwerk zu legen.
Hameln
Ich ging der Nase nach, nach Westen. Ich hatte gehört, da ist es am Besten
Wie töricht das war und infam, merkte ich, als ich nach Hameln kam
Mitten in Hameln steht ein Wienerwald, da wusste ich, hier bleibt die Küche kalt
Die Zeit steht still und wartet auf den Bus. Hameln – nichts kann und gar nichts muss
An der Tankstelle darf man rauchen, im Krankenhaus darf man rauchen
In der Kita wird nicht geraucht, es gibt keine Kita, weil man die nicht braucht
Natürlich ist Hameln ein Funkloch, wo niemand ein Smartphone hat
Spotify hält man in Hameln für die polnische Partnerstadt
Die 80er wohnen in Niedersachsen. Wo Fußnägel in die Glieder wachsen
Man braucht keine Nagelfeile, Grüße aus Hameln, ich bleib doch noch ne Weile
Hier, wo noch Adenauer regiert, werden EC-Karten nicht akzeptiert
Töchter gelten als Zahlungsmittel, pro Tochter gibt’s von der Kuh ein Drittel
Ist ein Hamelner krank und blass, macht der Arzt einen Aderlass
Aus offenen Wunden rinnt Blut. Die häufigste Todesursache: Skorbut
Viele Hamelner ha’m nur ein Bein. Samstags sammelt man die Toten ein.
Die Lepra klaut allen die Füße. So ist es in Hameln, viele Grüße!
Das ist Hameln im goldenen Westen. Die Menschen ernähr’n sich von Resten
Ist deine Frau nicht mit dir verwandt, wird sie auf dem Richtplatz als Hexe verbrannt
Keine Feuerwehr kommt, wenn es brennt, der Müll wird hier von den Ratten getrennt
Man richtet sich nach der Sonnenuhr, hier läuft sie noch, die Musik von Pur
Frauen dürfen nicht wählen, sie sind in der Küche, Kartoffeln schälen
Zu Weihnachten gibt es Tomaten. In der Hauptstraße im Kolonialwarenladen
Man kauft sie und schickt sie den Lieben als Apfelsinen nach drüben
Der Hamelner gibt gerne her, an seine letzten Verwandten in der DDR
Wird im Osten das Paket aufgemacht, wird laut und herzhaft gelacht
Dann wird es wieder verschlossen und mit einer Drohne in den Westen geschossen
In den Westharz oder nach Ostwestfalen wo sie Höhlenmalereien in die Höhlen malen
Da gucken die Menschen noch Fernsehsender – das sind die gebrauchten Bundesländer
In Hameln kannst du gut schlafen. Das gilt auch für Bremerhaven
Und Depressionen kriegt man gerne in Oberhausen und in Herne
Doch es gibt so viel mehr auf der Welt. Brandenburg und Bitterfeld
Da ist es zwar auch nicht viel heller. Doch ab 18 Uhr ist das Internet schneller.
...wir werden immer dürrer, die Grünen immer fetter - Thomas Heilmann ist unser Retter ...
AntwortenLöschenAls Außenstehender, Unbeteiligter und größtenteils Teilnahmsloser freut man sich trotzdem über Zufallsfunde einheimischen Gesangsschaffens.
AntwortenLöschenAls Außenstehender ...
AntwortenLöschenHälsningar från rikets huvudstaden.