Der Junge kann raus aus dem Land, das Land aber nie aus dem Jungen. Du kannst in Gelsenkirchen geboren sein, in Nürnberg zur Schule gegangen und keine andere Staatsbürgerschaft besitzen als die deutsche. Gelingt es Dir aber, mit deinem Fußballverein ein wichtiges Endspiel zu erreichen, dann findet es unter Umständen zugleich in Istanbul, aber auch in deiner Heimat statt. Dort, wo der Präsident dich empfängt. Dort, wo Du für deine politischen Sympathien nicht gehasst und verdammt wirst. Dort, wo sie dich ohnehin immer hinsortieren.
Kein Entkommen
Es gibt kein Entkommen. "Wurzeln" (Der Spiegel) begleiten den Menschen, wo immer er sich hinbegibt. Sich zu integrieren, kann passieren. Die Regel ist es nicht. Denn wohin schon? "Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar", hat Aydan Özoguz, die Integrationsbeauftragte einer früheren Bundesregierung, bereits vor Jahren festgestellt. Wenn das, was integrieren soll, was als Integrationsangebot funktionieren könnte, dann muss das Schicksal der frühen Geburt der Eltern den deutschen Nationalmannschaftsfußballer İlkay Gündoğan im Augenblick seines größten sportlichen Erfolges zurückwerfen auf die Ufer der Erinnerung an eine Herkunft, die im Grunde nicht seine ist.Endspiel in Gelsenkirchen.
Der Gelsenkirchener findet sich wieder in einer ihm angedichteten "Heimat" fernab der Heimat in ihrer eigentlichen Bedeutung des Landes, Landesteils oder Ortes, in dem jemand geboren oder aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt. Im so oft missbrauchten Begriff steckt das germanische Wort "heim", das eigentlich "Dorf" oder "Haus" meint und den Platz bezeichnet, an dem wurzelt, an dem jemand lebt und zu Hause ist, wenn alle Gegenden zwischenzeitlichen Aufenthaltes abgelebt und emotional verbraucht worden sind.
Die Blutlinien des Bundespräsidenten
Blutlinien und Abstammungsgedanken, wie sie der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einem unglücklichen Versuch beschwor, "the meaning of being German" mit "I am German, just as a Frenchman is a Frenchman and an Italian an Italian" zu erklären, spielen dabei keine Rolle mehr. Heimat bedeutet für die meisten Menschen etwas Schönes oder wenigstens etwas Erinnerungswertes. Sie denken bei dem unschuldigen Wort, das auf eine spezielle Verbindung zwischen Mensch und Raum verweist, an den Platz, an dem sie aufgewachsen sind, an ihre Kindheit, an die Familie und an Freunde aus der Schulzeit, an Straßen, Wälder, Wiesen und Häuser, an Städte, Dörfer, Gerüche, den Lichteinfall im Winter und den Badesee im Sommer.
Die "Germaness" (Weizsäcker) unterscheidet sich nicht von der Art, wie ein Russe, ein Türke, ein Peruaner oder ein Kanadier sich Heima (Sigur Ros) fühlt. Als "Ursprungs-, Herkunftsland" definiert, ist die Heimat etwas, das sich nicht wechseln lässt. Der Mensch ist frei, aber er kann "nicht über Zeit und Ort seiner Geburt verfügen", hat von Weizsäcker analysiert. Er könne allerdings "die Bedingungen beeinflussen und ändern, unter denen er lebt" und "den historisch überlieferten Traditionen einen neuen Inhalt geben".
Wunderbare Wurzelwelt
Nur nicht mehreren zugleich. Ob mononational oder "türkischstämmig" (Sigmar Gabriel), ob Deutsch-Afghane oder Deutsch-Iraner, ob Staats- oder Doppelstaatsbürger oder gar leidenschaftlicher Staatsbürgerschaftensammler, auch die wunderbare Welt der "Wurzeln" (Rheinische Post) funktioniert nicht mit geteilten Loyalitäten. Und sie funktioniert erst recht nicht, wenn selbst denen, die nichts vorzuweisen haben als eine einzige Staatsangehörigkeit, abgesprochen wird, ihr Vaterland als Heimat empfinden zu dürfen.
Man könnte sagen, dass auch die Heimat von Juden in der Diaspora nicht ihr jeweiliges Geburtsland ist, aber Türken mit Juden zu vergleichen wäre zuviel des Spaßes oder gleich verboten.
AntwortenLöschenDie Juden können auch eine Verbundenheit mit der Levante bis in vorgeschichtliche Zeit glaubhaft machen, wo es beim Türken in Anatolien doch eher fragwürdig bis mau aussieht. Angelegt an dieses Zeitlineal müssten irgendwo hinter den Ural.
Der Nomade, ob nun mit oder ohne Dreifachklammer, sieht die Habe des Sesshaften als die seine an, mit der größten Selbstverständlichkeit, und wird fuchsteufelswild, wenn die Sesshaften das anders sehen.
AntwortenLöschenEingeräumt, der umgekehrte Fall kam zwar auch vor.