Montag, 6. März 2023

Der Engagementstaat: Timurtrupps für jede Stadt

Es war früh klar, dass es kein Kurzstreckenrennen werden würde, sondern ein Marathon. Als Ursula von der Leyen  das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Jahr 2009 an ihre Nachfolgerin Kristina Schröder übergab, ging damit auch ein Staffelstab in eine neue Hand. Später übernahm ihn Manuela Schwesig, vier weitere Ministerinnen folgten. Heute aber liegt die staatliche Engagementpolitik in der Verantwortung von Lisa Paus, die vom ersten Tag an beherzt darangegangen ist, die erfolgreiche Bilanz ihrer sieben Vorgängerinnen im Bereich der Engagementpolitik fortzuschreiben, wie sie einst im Grundlagenpapier über die Engagementstrategie
BMFSFJ - Strategische Ausrichtung der Engagementpolitik -
festgelegt worden war.

Unerforschter Bereich staatlicher Daseinfürsorge

Es ist ein ebenso großer wie weitgehend unerforschter Bereich staatlicher Daseinfürsorge, der hier seit Jahren emsig, aber unbeobachtet Hand in Hand mit der Zivilgesellschaft, Verbänden, Wissenschaft & Wirtschaft entwickelt wurde und wird. Die damals, vor zehn Jahren, noch "neue" Engagementstrategie des Bundes setzte seitdem überraschende Akzente: Etwa eine "Verknüpfung der engagementpolitischen Schwerpunktbereiche unter der Prämisse, dass zivilgesellschaftliches Engagement einen eigenen Stellenwert neben dem allgemeinwohlorientierten staatlichen Bereich und der gewinnorientierten Wirtschaft" haben solle. Selbst der oft hinderliche "Eigensinn" bürgerschaftlichen Engagements wurde vom BMFSFJ berücksichtigt, denn welche Farben die jeweiligen Koalitionen auch trugen: "Wir tun als Staat gut daran, die Engagierten in ihrer Freiwilligkeit zu unterstützen", darin waren sich alle einig.

Mit Gewalt und Zwang, das hatten Wissenschaftler*innende zuvor zweifelsfrei festgestellt, geht gar nichts in keinem Engagementbereich. Als die damals als Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bestallte Sozialdemokratin Elke Ferner im seinerzeit noch von Willi Brase (SPD) geleiteten Unterausschuss "Bürgerschaftliches Engagement" auftrat, um die umfangreichen Vorhaben des (BMFSFJ) im Bereich der Engagementpolitik den neugierigen Abgeordneten vorzustellen, machte sie keinen Hehl aus der ministerialen Auffassung, dass "die Bedeutung der Zivilgesellschaft die Notwendigkeit ins Blickfeld rücke, Engagementpolitik als Schwerpunktaufgabe im Feld der Gesellschaftspolitik zu verstehen". Die führende Rolle der Bedeutung bei der Durchsetzung der Beschlüsse, das klang für alle Zuhörer und Zuhörerinnen durch, erfordere zwingenf die Gründung einer eigenen Unterabteilung für Engagementpolitik, in der die Engagementpolitik des BMFSFJ gebündelt und gezielt ausgerichtet werden könne.

Eine strategische Weichenstellung

Eine strategische Weichenstellung von historischer Bedeutung. Seit jenem Tag im September 2014 versteht sich "das BMFSFJ schwerpunktmäßig auch als Engagementministerium". Aus einem Vier‐Säulen‐Ministerium wurde beinahe über Nacht ein Fünf‐Säulen‐Ministerium - ohne übermäßige Zusatzkosten und ohne teure Umbenennung in BMFSFJE. Selbst der Öffentlichkeit blieb die tiefgreifende Verwandlung so weitgehend verborgen, dass noch Jahre später immer wieder Fragen gestellt wurden, ob es die "Bereiche der Engagementpolitik", von denen immer mal wieder ganz leiser die Rede sei im politischen Berlin, überhaupt gebe.

Aber ja. Und sie reichen heute von der staatlichen Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements durch die Schaffung guter Rahmenbedingungen über das nachhaltige Fördern bürgerschaftlichen Engagements bis hin zur "staatlichen Entwicklung einer Anerkennungskultur, die bürgerschaftliche Engagierten bei der Selbstvergewisserung helfen" soll. All das baut selbstverständlich auf eine "Vielzahl vorliegender Erfahrungen und Erkenntnissen auf, getragen von der Überzeugung, dass bürgerschaftliches Engagement nicht verordnet" werden kann und darf. "Zivilgesellschaftliches Engagement ist nicht nur freiwillig, es ist ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, das für alle in Deutschland lebenden Menschen gilt", hat die bis heute unvergessene Elke Ferner damals an der Wiege der deutschen Engagementspolitik gesagt. 

Staatliche Belohnung für Engagementarbeiter

Ferner, die den Versuch von Familienministerin Ursula von der Leyen engagiert unterstützt hatte, den Zugang zu Teilen des Internets von Deutschland aus zu sperren, behielt Recht. Heute ist zivilgesellschaftliche Engagementarbeit zumeist anerkannte Erwerbsarbeit. Staat und Behörden haben nicht nur eine bunte Vielfalt an Auszeichnungen, Preisen und Medaillen geschaffen, mit denen Engagementarbeiter belohnt werden, sondern auch eine nachhaltige Infrastruktur, die Planungssicherheit schafft und es Menschen erlaubt, sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren zu wollen, um an der Bewältigung gesellschaftspolitischer Herausforderungen mitzuwirken.

Es geht um Teilhabe, um Faktenchecks, um die Ernährung Hungernder durch die "Tafel", um  die interkulturelle Öffnung unserer Gesellschaft, für Demokratie und gegen Extremismus von rechts. Überall sind ehrenamtliche Tätigkeit und Einsatz gefragt, überall hilft der Staat mit engagierten Projekten wie "Demokratie und Vielfalt", "Engagierte Stadt", "Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott", "Omas gegen rechts" oder "Demokratie leben. Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit", die für die, "die in dem Bereich unterwegs sind, ganz wichtig" seien wie Elke Ferner schon vor Jahren wusste.

Millionen zur Verführung

Es stehen Millionen zur Verführung und alles in allem ist alles ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Das staatliche Engagementwesen hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden, die behördliche Förderung der Zivilgesellschaft ist aus der Modellphase längst in eine dauerhafte Förderung überführt worden. Dabei gibt es um anfangs umstrittene Punkte wie die handlungsleitenden Prinzipien der Engagementförderung, das Erkennen der zentralen Merkmale bürgerschaftlichen Engagements und die Einhegung der Vielfalt und der unterschiedlichen Formen, in denen sie stattfinden soll, kaum noch Streit. 

Ausgangspunkt ist immer die Pluralität der Ansätze, aus denen dann ein passendes Portfolio für die diversen Bedarfe geschnitten werde, heißt es im politischen Berlin. Dass trisektorale Zusammenarbeit eine große Rolle spielen muss, hatte schon der heutige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner aktiven Zeit eingefordert: "Kein Akteur alleine, keine Stiftung, kein Ministerium ‐ weder im Bund noch im Land ‐, kein noch so großes Unternehmen ist alleine stark genug, die vielen zivilgesellschaftlich Engagierten im Land so zu fördern, dass daraus eine flächendeckende Bewegung hin zum Positiven in unserer Gesellschaft entsteht.", mahnte Gauck damals. 

Timurtrupps in jeder Stadt

Nein. Um eine breite Bewegung ins Rollen zu bringen, wie sie einst mit FDJ, Pionierorganisation, Timurtrupps und dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) zumindest in Teilen des Vaterlandes bestand, muss Wertschätzung flächendeckend ausgedrückt werden, das wusste Gauck, der selbst in der DDR gelebt hat. Der heutige Alt-Bundespräsident rannte damit offene Türen ein: Seitdem  betreibt das Engagementministerium seine Engagementpolitik als eine dialogorientierte, kooperativ‐qualitative, auf den Erhalt und den Ausbau von Vertrauen gerichtete Engagement-Programm‐ und Prozesspolitik.

Nur zehn Jahre nach der Hochschaltung der Engagementpolitik gilt die Trisektoralität als eine der wichtigsten Politikmaßnahmen, der Umbau des Deutschen Engagementpreises zu einem "Preis der Preise" macht große Fortschritte und die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Bündnis für Gemeinnützigkeit und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen bagfa e.V., dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), dem Netzwerk W.I.E., den bürgerschaftlichen Landesstiftungen Engagement, der Bundesworthülsenfabrik (BWHF), dem Bundesblogampelamt (BBAA) im mecklenburgischen Warin, den Bundesfreiwilligendienstleistendenkompanien, den Partnerschaften für Demokratie und der geplanten Deutschen Engagementstiftung läuft hervorragend.

8 Kommentare:

  1. In einem Artikel zusammengefasst, was alles in Deutschland komplett schief läuft, ohne eines der ungezählten realen Probleme auch nur beim Namen zu nennen. Wunderbar, ich ziehe meinen Hut.

    AntwortenLöschen
  2. Man muß die Bienenkärtchen (aka Fleißkärtchen in westdeutsch) wieder einführen, damit die Sache Schwung aufnimmt.

    "Bis in die 1970er Jahre waren Fleißkärtchen (wie auch andere entsprechende Belohnungsformen, Stempelkärtchen u. Ä.) unangefochten in Gebrauch."

    Bsp:

    "Eintrag in einem ostdeutschen Mitteilungsheft mit Bienchen als Auszeichnung „für vorbildliches Verhalten“ (1986)"

    In der Timurpedia ist das alles ausführlich erklärt.

    AntwortenLöschen
  3. leider fiel unter den tisch, dass deutschland der einzige engagementstaat ist. hätte reingehört, denn bald eifern ja viele andere länder dem vorbild nach

    AntwortenLöschen
  4. OT manchmal fuchtelt der gute Hadmut ziemlich mit den Armen lol

    Vulva vs Vagina
    Forelle vs Barsch

    Dass mit 'Forelle' gar kein Fisch, sondern (tongue in cheek) die Vulva gemeint bzw. konnotiert sein könnte, und daher der Fisch demonstrativ falsch bestimmt wurde, um das zu verdeutlichen, entging dem Theoretiker, wie auch ein paar andere Sachen ihm und ein paar anderen im Nuancendeuten weniger geübten entgingen. Gott segne ihn.

    P.S. Ozzy Man ist ein verdammtes Youtube-Genie des Wortes

    AntwortenLöschen
  5. die Vulva gemeint ... Erinnert mich an eine Stelle bei Kurt Vonnegut Jr.: Ein Biber ist ein Tier, das so aussah ... Die Biber, die hier gemeint waren, sahen so aus ...

    AntwortenLöschen
  6. Noch ein wenig Amerikanistik zum Thema Biber:
    https://en.wikipedia.org/wiki/Wynona%27s_Big_Brown_Beaver
    Geniale Musiker (außer der Sänger), aber lausige Songschreiber. Den haben sie wohl in der dritten Klasse geschrieben und sich seitdem nicht wieder eingekriegt.

    AntwortenLöschen
  7. gelungene Integration : die Sport und Freizeittruppe Wagner schickt Psychotiker an die Front - dazu meint Arbeitstherapiedirektor Dr.Bernd Lauert : "gute Sache" .

    AntwortenLöschen
  8. Bei Vonnegut waren die Biber aber nicht big+brown, sondern "weit offen" .....

    AntwortenLöschen

Richtlinien für Lesermeinungen: Werte Nutzer, bitte beachten Sie bei ihren Einträgen stets die Maasregeln und die hier geltende Anettekette. Alle anderen Einträge werden nach den Vorgaben der aktuellen Meinungsfreiheitsschutzgesetze entschädigungslos gelöscht. Danke.