Er sandte Schockwellen um die Welt, raubte Millionen die Heimat und war für Jahre das bestimmende Thema der Auslandsberichterstattung der deutschen Medien. Syrien rückte zwischen 2010 und 2020 ganz nah an die deutschen Grenzen. Die Gräueltaten von Diktator Bashar al Assad, der Vormarsch der Freien Syrischen Armee, der heldenhafte Kampf der Jesiden und die fürchterliche Treiben des Islamischen Staates, sie waren Standardware in jeder Nachrichtensendung. Mit dem letzten Stand zur Lage in Syrien endete jeder Tag. Und mit den neusten Entwicklungen begann der nächste.
Bis alles ganz plötzlich endete. Immer noch hatte niemand verstanden, wer da eigentlich gegen wen warum kämpfte, was Religion war, was Stammeskrieg. Wieso waren die Amerikaner mit den Feinden ihres Nato-Partners Türkei verbündet? Weshalb unterstützten die Europäer eine offiziell anerkannte Terrororganisation?
Doch mit Corona rückte der multiple Konflikt beinahe ganz hinten am Hindukusch in die dritte oder vierte Reihe der medialen Aufmerksamkeit. Selten nur war noch von Assad die Rede, noch seltener von den Menschen, die Deutschland "geschenkt" bekommen hatte.
Wohin ist Syrien verschwunden
Der Medienforscher und Regressionswissenschaftler Hans Achtelbuscher erforscht am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung seit Jahren, wie sich die Vereinheitlichung von Medienmeldungen auf die allgemeine Informationslage auswirkt. Als Experte für Phänomene wie das Themensterben in deutschen Medien hat der gelernte Mediator bereits vor Jahren eine "Einheit für einheitliche Empörung" (Emp) entwickelt, mit der die Haltbarkeit von Schwerpunktthemen gemessen werden kann.
Im PPQ-Gespräch erläutert Achtelbuscher, warum Syrien den Aufmerksamkeitskrieg gegen die Ukraine verlieren musste. Und wie es nun weitergeht.
PPQ: Herr Achtelbuscher, reden wir zuerst von einem zunehmend rätselhafter werdenden Phänomen: 1,2 Millionen Syrer nahmen allein die EU-Staaten seit 2014 auf, 350.000 Menschen starben. Zugleich liegt die Bevölkerungszahl des immer noch von Bashar Al Assad beherrschten Landes heute wieder dort, wo sie 2010 gelegen hatte, vor dem Bürger- und Glaubenskrieg und der großen Fluchtwelle, die nach Angaben der Uno 6,3 Millionen Menschen aus dem Land trieb. Was ist da passiert?
Achtelbuscher: Nichts Ungewöhnliches. Wir haben es hier mit einem ganz normalen Vorgang zu tun, der immer zu beobachten ist, wenn sich das öffentliche Interesse neu fokussiert. Was eben noch als höchst interessant galt, verschwimmt im Ungefähren, niemand schaut mehr hin, keiner weiß überhaupt noch, worum es anfangs ging. Beim Themensterben als unserem großem Forschungsgebiet haben wir es täglich mit diesem Vorgang zu tun: Journalistische Stichflammen zucken auf wie Blitze, sie blenden die Öffentlichkeit für eine Augenblicke, wir können heute sagen: Für höchstens sechs bis acht Wochen. Dann geht das Licht aus, das ist ein Automatismus.
PPQ: Der speist sich woraus? Ist es denn nicht so, dass noch viele Fragen offen sind? Dass Menschen nicht immer noch wissen wollen, wer da eigentlich gegen wen gekämpft hat, warum und mit welchem Ertgebnis?
Achtelbuscher: Das mag so sein, in Teilen der Bevölkerung ist es wohl sogar wirklich so. Nur adressiert Medienöffentlichkeit eben nie den Empfänger, sondern die Politik und andere Medien. Das Agendasetting, das noch vor zehn, zwanzig Jahren für einen Popanz gehalten wurde, weil man allgemein der Meinung war, dass es Regierungsstellen niemals gelingen wird, Wunschthemen nach Belieben an- und abzuschalten, das funktioniert heute wie geschmiert. Ob Nord-Stream-Zwo und die Explosion dort, die Rentner-Konterrevolutionäre oder die Silvesterunruhen in Berlin - alles ist Augenblick, nichts ist mehr von Dauer.
PPQ: Aber wir haben doch Sendungen wie die "Tagesschau", die nicht für den Moment senden, sondern als Grundversorger ein wahres Abbild der gesamten Lage in die Wohnzimmer bringen wollen. Wäre es denen nicht möglich...
Achtelbuscher: Möglich? Rein technisch sicherlich. Aber der Syrienkrieg ist ja auch ein bisschen ein Sonderfall. Viele hier im Lande sind damit nie warmgeworden, emotional. Man sah da zu viele krumme Frontlinien, zu viele unübersichtliche Allianzen. Wären nicht die Flüchtlinge gekommen, hätte das Thema meinen Schätzungen zufolge kein halbes Jahr getragen. Nehmen Sie mal den Krieg in Äthiopien, der hat mehr Opfer gefordert, mehr als der in Syrien und weit mehr als der in der Ukraine. Und? Wann haben Sie zum letzten Mal etwas über diesen blutigen Konflikt gelesen oder gehört?
PPQ: Das ist eine rhetorische Frage, denke ich? Bleiben wir bei Syrien, da haben viele Menschen zumindest noch eine gewisse Resterinnerung an Ursachen und anfänglichen Ablauf. Wieso war es mit der Berichterstattung plötzlich vorbei?
Achtelbuscher: Wir nennen das einen sich selbst verstärkenden Effekt. So wie alle auf den Zug aufspringen, steigen auch alle wieder aus. Die Medien, könnte man grob sagen, verlieren das Interesse, wenn die Sachverhalte zu kompliziert werden. Bedenken Sie, dass das ja alles in die Tagesschau passen muss. Wenn dann die großen Quellenlieferanten von DPA über das SPD-Nachrichtennetzwerk RND bis zu Funke-Medien und Ippen anderweitig beschäftigt sind, kommt da nichts mehr, woher denn auch. Dann ist Ruhe im Schiff von "Spiegel" über Taz, FAZ und SZ, denn das sind ja im Grunde alles Abspielstationen für Fertigtexte aus dem großen Topf der Agenturen, die dann mit mehr oder weniger Liebe oder Talent im Hausstil zurechtgeschludert werden.
PPQ: Sie stellen den deutschen Medien kein besonders schmeichelhaftes Zeugnis aus?
Achtelbuscher: Wie könnte ich anders. Ich bin so lange hauptberuflich Medienbeobachter, dass ich genau weiß, dass nirgendwo mehr Kapazitäten sind, um einen Zweifrontenkrieg berichterstattungsmäßig führen zu können. Wir haben das bei Donald Trump beobachten können, während dessen Amtszeit die deutsche USA-Bericherstattung einen sagenhaften Aufschwung genommen hat. In manchen Häusern gab es seinerzeit mehr Kolumnisten, die als Kritiker der US-Regierung eingestellt worden waren als Leute, die Angela Merkel auf die Finger schauten. Nun, ich gebe zu, das war nicht schwer (lacht). heute dagegen ist die USA gar kein großes Thema mehr. Die ist irgendwie da, offenbar gibt es da auch kaum noch Arme, Kranke und Vernachlässigte, keine Umweltprobleme und keine Ängste vor der Zukunft. Alle diese zuvor so schicksalhaften Probleme sind mit Joe Bidens Amtsantritt verschwunden.
PPQ: Und denselben Effekt sehen wir auch beim Syrienkrieg?
Achtelbuscher: Ja, das ist derselbe Effekt. Aus medialer Sicht war der Syrien-Krieg beendet, als mit der Corona-Pandemie ein neuer mächtiger Verbündeter im Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums auftauchte. Mit den ersten Nachrichten über Inzidenzen, Lockdowns und eine rundum weitsichtige und kluge Seuchenpolitik der - erst später in Ungnade gefallenen - Bundesregierung verschwand Syrien, verschwanden Assad, seine Verbrechen und seine unmenschlichen Pläne von der Bildfläche. Als dann Russland in die Ukraine einmarschierte, hatte Syrien, so nah im Osten es auch liegt, gar keine Chance mehr: Bis Damaskus sind es 2.800 Kilometer. Bis Donezk 2.000. In der Medienforschung und Entropiekunde kennen wir den Satz "Auch Deutsche unter den Opfern", der sagt Ihnen vielleicht auch was. Was ich sagen will: Nähe entscheidet über Interesse. Immer.
PPQ: Wir werden also vermutlich nie erfahren, wie es derzeit in Syrien steht? Ob und wie der Krieg ausgegangen ist?
Achtelbuscher: Nun, ich würde nicht gänzlich ausschließen, dass in irgendeinem obskuren Nischenmagazin eines Tages doch noch berichtet wird. Aber Fakt mit Stand von heute ist, dass Syrien als Land nahezu vollständig inexistent geworden ist. Übrigens ein Vorgang, der, wie ich auch aus Gesprächen im politischen und medialen Berlin weiß, weitgehend als nicht unangenehm empfunden wird. Sie müssen ja bedenken, dass die seinerzeit für "in den nächsten 14 Tagen" angekündigte gemeinsame EU-Flüchtlingslösung auch fünf Jahre später noch auf sich warten lässt. Da rührt niemand gern an den Schlaf der Welt, wenn er fürchten muss, dass daraus eine Diskussion über die Rückkehr von Geflüchteten und Flüchtigen werden könnte.
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