Sonntag, 12. Februar 2023

Papierkrieg: Die Nabel der Welt

Moskau, 9. Mai 2023: Deutsche Petendenten übergeben die große Friedensforderung an Putin.

Durften Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht? War es klug, dass dann auch noch der Mann von der Spaßpartei unterschrieben hat? Und musste der AfD-Chef anschließend auch noch? Deutschland hat, nach Inflations- und Panzerpaktdebatte, Ende der Impfkriege, Entschuldigung des Medizinministers und Irritationen darüber, ob Karneval aus Pietät gegenüber der Erdbebenopfer in der Türkei ausfallen muss, oder ob eine Schweigeminute am Anfang der Festsitzungen ausreicht, ein neues Thema gefunden. Einmal mehr entscheidet sich das Schicksal der Welt hier, in der am schlimmsten betroffenen Region. Durch ein "Manifest für den Frieden".  

Einigkeit in der Uneinigkeit

Einmal mehr steht der Ausgang eines Krieges Spitze auf Knopf, je nachdem, ob das Lager der selbsternannten Friedensengel um Wagenknecht, Schwarzer und die anderen "wie Pech und Schwefel" (Taz) obsiegt. Oder ob sich die Gegenseite durchsetzt, die mit Feuer und Schwert kämpfen lassen will, bis Putin fällt und seine Neo-Sowjetunion krachend zusammenbricht.

So uneins sich die beiden Seiten darüber sind, wie zulässig es ist Panzer zu schicken oder nicht zu schicken, Flügel zu verleihen und den inneren Kriegszustand auszurufen, so einig sind sie darin, dass die Entscheidung per Petition beim change.org fällt. Dort, wo Woche für Woche Kerzenmacher dieser und jener Glaubensschule Eingaben für und gegen Katzen, für Tempolimits, Ministerrücktritte, höhere Renten und niedrigeren CO2-Ausstoß, für das Klima und gegen den Energieausstieg zur Abstimmung stellen, tobt die Endschlacht um den Sieg im Meinungskrieg: Schwarzer und Wagenknecht gelten ihrem Gefolge als Leuchttürme der Vernunft. Ihren Gegnern hingegen als Verräter*innen, die den gemeinsamen Anstrengungen des Westens in den Rücken fallen, Putin durch ukrainische Truppen in die Knie zwingen zu lassen, ehe er seine gierigen Griffel nach EU-Europa ausstreckt.

Die Nabel der Welt

Versammelt haben sich auf beiden Seiten die Nabel der Welt, ein Menschen, die fest davon überzeugt sind, mit einer virtuellen Unterschrift auf der Seite einer Internet-Wutmaschine lasse sich der Lauf der Geschichte ändern. Schwarzer und Wagenknecht verbreiten den Eindruck, dass eine große Zahl Unterzeichner Bundeskanzler Olaf Scholz bewegen könnte, sich gegen Nato.-Beschlüsse und die Linie der EU zu stellen, die Schutzmacht USA zu brüskieren und eine Art goldenen Mittelweg zwischen Moskau und Washington einzuschlagen. Die Verdammer der beiden Initiatorinnen schwören dasselbe: Werde das Unterzeichnen nicht geächtet, entstünde schwerer Schaden an der westlichen Wertegemeinschaft.

Der Glaube nährt den Glauben und beides nutzt dem Geschäftsmodell von change.org, einer Internetfirma aus San Francisco, die nach eigenen Angaben bis heute rund eine Million Petitionen in 196 Ländern abgewickelt hat. Eine unfassbare Leistung schon allein, weil es überhaupt nur 195 völkerrechtlich allgemein anerkannte Staaten gibt, eine Leistung aber, die noch weit höher einzuschätzen ist, weil noch nicht eine einzige Eingaben bei Hofe irgendetwas erreicht hat. Nicht nur hier. Auch beim Konkurrenten Avaaz und bei Openpetition wird viel gefordert. Den einzigen messbaren Effekt aber verzeichnete bisher jedoch die Petitionsseite des Deutschen Bundestages: Als eine Petition gegen den "Global Compact for Migration"  zu viel Zulauf hatte, wurde sie gestoppt.

Die deutsche Mitmachgesellschaft

Die deutsche Mitmachgesellschaft ist von solchen widrigen Bedingungen allerdings nicht zu beeindrucken. Sie fordert und barmt, sammelt Truppen und Unterschriften, wirbt um Mehrheiten in einer gesellschaftlichen Nische, in der immer dieselben Aufgeregten auf immer dieselben Empörungsbereiten treffen. Wie können die und wie können die nicht, teufeln sie aufeinander ein, sie beschimpfen sich gegenseitig als Pack und Kriegstreiber, als Unmenschen, unverantwortlich, als Putinbüttel und amerikahörig, man rechnet nach, wer mit wem und legt Listen an, wer noch dazu gehört. 

Wer nicht dafür ist, ist dagegen, wer nicht Bekenntnis ablegt, muss sich fragen lassen. Darf man Petitionen für Friedensverhandlungen einreichen? Wird, wer unterschreibt, zum Verräter? Oder ist der, der sich weigert, ein Kriegstreiber? Wer ist mehr Unmensch? Zynischer? Der, der den Eindruck erweckt, mit sinn- und zweckfreien Eingaben bei Hofe Einfluss auf das Kriegsgeschehen nehmen zu können, das doch in Wirklichkeit Ausdruck eines globalen Ringens um die Macht ist? Oder der, der so tut, als glaube er das auch, weshalb er all sein Sinnen und Trachten, seine mediale Macht und seine Hasswerkzeuge dafür einsetzen müsse, die follower der anderen Seite zu Handlangern des Teufels, zum personifizierten Bösen und zu entmenschten Verführern im Auftrag des Feindes  zu erklären.

Unterzeichner" jedenfalls ist nun ein weiteres neues Schimpfwort, obwohl ja auch die "Unterzeichner:innen nicht im Traum erwarten, dass ihr Appell auch nur den geringsten Einfluss auf Putin hat", wie Ruprecht Polenz, offizieller Vertreter der Bundesregierung im Dialog um den Völkermord an den Herero und Nama, herausgearbeitet hat. Zielrichtung, glaubt der frühere Chef des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, "ist allein die Regierung in Kiyv und die westliche Unterstützung der Ukraine". Die scheint ihm offenbar so mächtig wacklig, dass hundert- oder fünfhunderttausend Unterschriften reichen könnten, alles kippen zu lassen. 

Ende der westlichen Werte

Schuld an der Niederlage von Nato, EU und westlichen Werten wäre dann diese "Allianz zwischen Links-Solistin Wagenknecht und Alt-Aktivistin Schwarzer", wie sie die Taz respektvoll nennt: Vor dem inneren Auge ist die Szene schon zu erahnen, wie die beiden falschen Friedensfreundinnen vor dem Kanzleramt auftauchen, begleitet von einem Menschenmeer aus Prominenten und Elektrokarren voller Unterschriftenkisten hinter sich. Olaf Scholz tritt  heraus aus der Kanzlerwaschmaschine, er schaut betroffen, denn er weiß, die Zeit der verschenkten Geparden und Leoparden, sie ist vorbei. Nun kann Putin durchmarschieren bis Finisterre, dемь дней до реки Рейн, also sieben Tage bis zum Rhein, das war und ist die Normzeit.

3 Kommentare:

  1. >> dемь дней до реки Рейн

    Ein deutsches C für das russische s löst das Leseproblem, auch wen es in der Codetabelle eine andere Zahl ist.

    Schöner Text. Jetzt kann man noch Danischs gestrigen Tagesoutput als karnevalistischen Frohsinn mit ranpappen, dann ist die Chose vollumfänglich erklärt und rund.

    "Gott segne ihn", da schließe ich mich an.

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  2. Danisch hat es eigentlich direkt vor der Haustür. Nord- vs Südzypern und kein Krieg.

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  3. Diese Pfeifen gemahnen - wie schon im 2. Golfkrieg - an den Weihnachtsengel in der Böll-Verfilmung: "Frieden, Frieden, Frieden ..." ad nauseam.
    Ham doch alle irgendwie bisschen recht - sollen doch "miteinander reden" - Wat soll man da noch saren ...

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