Ist immer anständig geblieben: Cem Özdemir. |
Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte den ersten, noch streichelzarten Versuch unternommen, als er gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends den "Aufstand der Anständigen" ausrief. Ziel des Sozialdemokraten war es, dem nach einem Anschlag Rechtsextremer auf eine Synagoge in Düsseldorf zu zeigen, dass Deutschland demokratisch bleibe, ein sicherer Standort für Investitionen und eine Fluchtburg für alle, denen daheim Unheil droht. Lichterketten, Aufmärsche engagierter Bürgerinnen und Bürger und die Aufstellung lokaler Aktionspläne halfen dabei, Deutschlands Anstand global ins rechte Licht zu rücken.
Immer da und größer denn je
Die rot-grüne Bundesregierung initiierte zudem ein Programm zur organisatorischen und finanziellen Unterstützung von Initiativen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, so dass wenige Monate später, als zwei Männer gefasst werden konnten, die ihre Tat als Vergeltung für einen von israelischen Soldaten erschossenen Jungen verstanden wissen wollten, fest stand, dass die rechte Gefahr trotzdem da war und größer denn je.
Der Aufstand der Anständigen blieb, eine ganz und gar deutsche Angelegenheit, die dort anknüpft, wo sich bereits Heinrich Himmler in seiner erschütternden Posener Rede am 4. Oktober 1943 auf diese ganz eigene deutsche Tugend berufen hatte. Anstand ist, im Gegensatz zu Moral, Sittlichkeit oder Ethik, ein Putz, eine Dekoration und ein äußerer Anstrich, der sichtbar ist und sein soll. Den Charakter, die innere Überzeugung und die Gesinnung einer Person aber nicht notwendigerweise widerspiegelt.
Die deutsche Tugend "Anstand"
Um anständig zu sein, muss niemand anständig sein. Es reicht vollkommen aus, nur ja recht anständig zu tun. Im Zug der Zeit belegen die Anständigen die vorderen Sitzreihen, nur der Bestimmungsort, zu dem ihr Waggon unterwegs ist, ändert sich, und die Anzugsordnung mit ihm. Himmler fand seiner mordenden Männer "anständig" - ein Umstand, der den Begriff des Anstandes für alle Zeiten hätte kontaminieren müssen. Gerhard Schröder, heute selbst als "unanständig" (Radek Sikorski) gebrandmarkt, gelang es dennoch, dem Wort ein Comeback im Sprachgebrauch der Eifrigen zu verschaffen.
Anstand ist seitdem der angesagte Code für die Tischsitten der Doppelmoral, ein Märchenbegriff aus der steifen Zeit um das Jahr 1800, der seinen eigenen schon absehbaren Tod überlebt hat. Was einstmals aus dem simplen Wort "anstehen" abgeleitet wurde und nichts anderes meinte, als dass dieses oder jenes, ein Kleid, ein Hut oder ein Gedanke jemandens Rang "anstand", erlebt seine Wiedergeburt in Lobeshymnen. Cem Özdemir, so heißt es in einem Laudatio zur Verleihung eines Preises an den grünen Landwirtschaftsminister, sei "anständig" geblieben, wenigstens in den Jahren nach der "Hunzinger-Affäre" (Der Spiegel), für deren Erwähnung kein Platz mehr übrig war. Vielleicht ja auch, weil die Laudatorin seinerzeit erst neun Jahre alt war.
Die Anrufung des Anstands
So stört sich die Anrufung des Anstands nicht an den Umständen. Es wird von Ende her gedacht, diesmal aber wirklich, der Anschein bestimmt das Bewusstsein, der Erfolg den Wert der Mühe. "Anstand" ist im Unterschied zu Moral biegsam und geschmeidig. "Der gute, ehrbare Anstand ist ein äußerer Schein, der andern Achtung einflößt", heißt es bei Immanuel Kant, der in "allem, was man Wohlanständigkeit nennt", "nichts als schönen Schein" sah.
Journalisten schreiben über den Anstand von Politikern. Da bleiben ja die wahren Fachleute unter sich.
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