Die zehn Jahre seit Joachim Gaucks großer Mehrropa-rede sind rum, die fünf seit Emmanuel Macrons Entgegnung mit der Forderung nach Mehropa folgenlos vergangen. Es war nun an Bundeskanzler Olaf Scholz, die drängendste Frage dieser Tage zu stellen, eine Frage, die Millionen Europäer angesichts unbezahlbarer Preise, Atomkriegsangst und Fachkräftemangel gern beantwortet hätten: Wie weiter mit der EU? Was wird aus Green Deal, Klimarettung, neuen Umweltzöllen, Europa-Wiederaufbaufonds, gemeinsamer Gesundheitsunion und der geplanten Erweiterung der Gemeinschaft nach Osten? Und wenn es soweit ist, wie werden die neuen Posten aufgeteilt?
Eine Perspektive für 440 Millionen
Olaf Scholz hat eine Reise nach Prag genutzt, den 440 Millionen bangenden, wartenden und hoffenden EU-Bürger*innen eine Perspektive zu geben. Das Aufatmen bis hinunter nach Portugal war nicht zu überhören - "Scholz will die EU-Osterweiterung und schlägt einstimmig ein Ende der Beschlüsse vor" titelte "Publico", das einzige portugiesische Zeitungshaus, das Notiz von der wegweisenden Rede des Kanzler nahm, die Historiker in Bälde seine Prager Rede nennen werden.
Ihre Geschichte ist schnell erzählt. Erneut mit "klaren Regeln" für den Regierungsflieger gestartet - diesmal galt zur Abwechslung eine strenge Maskenpflicht für alle Insassen, die es in den Flugzeugen der Flugbereitschaft der Luftwaffe gar nicht gibt - war der Kanzler dorthin geeilt, wo eine wilde Allianz von Bürgerlichen, Kommunisten, Staatsfeinden und Studierenden in der Vergangenheit mehrfach versucht hatte, staatliche Organe und leitende Politiker zu delegitimieren. Mitten in Feindesland - Tschechien wird derzeit von einer kruden Koalition aus Konservativen, Liberalen und Christdemokraten regiert - ließ Scholz es sich nicht nehmen, die großen Linien zu ziehen, abseits des Tagesgeschäftes mit seinen Entlastungsversprechen, Gürtelengerparolen und Panzerbildern.
Radikale Reformen
Bis nach Spanien drang sein Ruf nach "radikalen Reformen" in der EU und nach einem "gemeinsamen Luftverteidigungssystem", bis nach Griechenland schallte der Vorschlag, alle Veto-Möglichkeiten bei bei EU-Beschlüssen aufzuheben und in den Niederlanden stieß sein Vorschlag auf Interesse, sich gegen den Neoimperialismus zu wehren. Nur in Schweden verweigerte die gesamte Medienlandschaft die Berichterstattung, auch Belgien schweigt. Und im Gastgeberland Tschechien ist die Skepsis unübersehbar: Dass mit der berühmten Prager Rede des deutschen Kanzlers nun einmal mehr eine "neue europäische politische Gemeinschaft" entstehen wird, gilt einheimischen Blättern an bloße Behauptung, nicht als feststehender Fakt.
Dabei war Olaf Scholz nicht mit leeren Händen an die älteste deutsche Universität gekommen. 1348 von Kaiser Karl IV. gegründet, erlebte die heute tschechische alma mater den akribischen Arbeiter aus Osnabrück in seiner Paraderolle. Mögen andere doch die ewige Gespaltenheit der EU beklagen, die bis heute zwei venezuelanische Präsidenten anerkennt, beim Klimaschutz nicht vorankommt, 54 verschiedene Umsatzssteuersätze hat und die Kernkraftwerke, die in Deutschland abgerissen werden, in Ungarn und Finnland wieder aufbauen lässt.
Weiterhin für jeden ein Posten
Scholz ist von solchen Details nicht zu irritieren. Er hat sich Gedanken gemacht, wie eine mit allen nur denkbaren Beitritten auf 30 bis 36 Mitgliedsstaaten explodierende Europäische Union das bisher konstituierende Prinzip weiterhin umsetzen könne, dass jedem auch noch so kleinen Mitgliedsland immer ein Kommissarsposten in Brüssel zustehe. Sind die Ukraine, Georgien, Mazedonien, Albanien und all die anderen Staaten erst dabei, so der Kanzler, stoße eine Kommission mit 30 oder 36 Kommissaren "an die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit". Deshalb wolle er die tradierte Regel ändern, dass jeweils so viele Fachressorts geschaffen würden wie gebraucht werden, um jedes Mitgliedsland mit einem EU-Kommissarenden abzufinden.
Scholz, der in Berlin mit nur 16 Ministernden regiert, schlug stattdessen eine radikale Änderung vor: Künftig solle "mehr als ein Kommissar für den gleichen Politikbereich zuständig sein können", eine Co-Ministerregel, die einzigartig und neu wäre in der Geschichte der Verwaltungsarbeit, sich aber wage anlehnt an deutsche Erfahrungen mit der parallelen Befehlsstruktur von OKH und OKW und aktuelle Ressortaufteilungen im Bundeskabinett, das mit Robert Habeck, Steffi Lemke und Cem Özdemir gleich drei verantwortliche Minister für Klima, Umwelt und Ökologie zählt.
Mehr Stimmen, mehr Meinungen
Für das gemeinsame Europa könnte eine 36er EU mit 36 Kommisariaten, die sich weiterhin nur um ganze 27 Fachbereiche kümmern, die Lösung aller Probleme sein. Die EU spräche mit einer Stimme, wäre aber dennoch in der Lage, verschiedene Dinge zu sagen. Sie könnte für und gegen zugleich sein, eine gelebte Vielfalt, bunt, divers und vielgestaltig wie die derzeitige Bundespolitik. Kombiniert mit der von Scholz in seiner Prager Rede angeregten Aufhebung der Notwendigkeit von einstimmig gefassten Beschlüssen wäre die EU endlich, was sie immer hatte sein wollen: Keine Staatengemeinschaft, die über ihre Gespaltenheit einfach nicht mehr spricht, sondern eine, der die Vielgestaltigkeit in den Genen steckt.
'...dort waren die Sicherheitsvorschriften lässig – praktisch jeder kam ohne Kontrolle rein' (TAZ)
AntwortenLöschenIn Böhmen hat man offensichtlich einen Mangel an Kritik und Kritikern und lässt Fossilienverheizer wie Scholz ohne Gebrüll, fliegende Steine oder Arschankleben einfach so in Universitäten spazieren. Da ist man noch weit von europäischen Standards entfernt, was an einem akuten Mangel an Diversität liegen dürfte.
...sagt Scholz und ruft eine Art europäisches Silicon Valley aus.
Na sowas, Silicon Valley müsste er doch in Berlin von seinem Fenster aus sehen:
https://www.deutschlandfunk.de/start-ups-in-berlin-ein-deutsches-silicon-valley-100.html
Scholz hat nur vergessen zu erwähnen, dass Deutschland darauf besteht, dass wir alle für die Erweiterung nötigen Kosten komplett alleine einzahlen werden. Wir sind schließlich ein reiches Land und können ruhig noch ein paar Dutzend Fördermilliarden mehr in den gemeinsamen Topf einzahlen.
AntwortenLöschenDen anderen beteiligten Völkchen mit ihren deutlich höheren Vermögenswerten und früheren Renteneintrittsaltern kann das doch nicht zumuten. Da könnten dort evtl. sogar Europakritiker an die Macht kommen. Bei uns kann das Dank unserer kritischen Medien Gott sei Dank nicht passieren, egal was wir zahlen müssen und die EU-Nomenklatura so treibt.
Vermutlich hat er das alles nicht erwähnt, da dies allen Beteiligten sowieso schon klar ist.
Und wieso eigentlich nur bis zum Westbalkan? Wenn ich mir die Entwicklungen in der EU so ansehe, passt auch der Hindukusch jedes Jahr ein bisschen besser zu uns.
Bernd freut sich auf lange leidende Soziwähler im Winter .
AntwortenLöschen"wo haben sie denn das Brennholz her " wollte eine besorgte Feinstaubmitbürgerin wissen .(grün , teilakademisiert , vorlaut ,strunzdumm und schlecht in die Dorfvolksgemeinschaft integriert )
"das haben meine Leibeigenen in Ostpreußen mit der stumpfen Axt im Schweiße ihres Angesichts ausm Wald rausgeholt und mit dem Handwagen nach MV gebracht"
Ich geb' dem Jodel mal ein "Like".
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