Als erster Neun-Euro-Vagabund unterwegs zu sein, führt an Orte, an denen fast noch niemals jemand war. |
Am schwersten war es wirklich, die Wohnung so kurzfristig loszuwerden. Ich meine, es ist nicht einfach, vermietet zu vermieten, das weiß jeder, der ein schon mal versucht hat. In Berlin geht das gar nicht, da haben sie so viele Schutzvorschriften für Vermieter und Mieter und Bauherren und Internetkonzerne.
Sie können nicht einfach zu einem dieser Portale gehen und sagen, ich möchte meine Wohnung für drei Monate vermieten, drei Sommermonate wohlgemerkt, in denen die Touristen aus aller Welt in die Boomer-Hauptstadt strömen, um Berlin kennenzulernen, das Rote Rathaus, das neue alte Schloss, die Raubkunstausstellungen, das Kanzleramt mit den großzügigen Erweiterungsplänen. Das geht nicht, das ist verboten, das müssen Sie tricksen, damit das klappt.
Sächsischer Kontrollverlust
Aber bei uns hier haben Sie das Problem nicht. Hier Dresden können Sie mit ihrer Wohnung machen, was Sie wollen, selbst wenn sie nur gemietet ist wie meine. Verwandte aufnehmen? Kein Problem! Freunde! Her damit! Selbst bei Airbnb kann man reinstellen, was man zu bieten hat, die Verwaltungen schaffen es einfach nicht, wirklich flächendeckend zu kontrollieren, weil viele auch zu Kleinanzeigen ausweichen, das ist weniger sicher, aber unauffälliger. Und die Nachfrage ist da! Zwar kommen die Russen ja nun schon seit Jahren nicht mehr, aber dafür andere. Dänen, Schweden, Italiener, was weiß ich. Wir sogar schon Amerikaner da.
Als das mit dem Neun-Euro-Ticket angekündigt wurde, hatte ich natürlich schon längst bemerkt, dass alles teurer geworden war. Butter, Käse, Benzin, selbst die Öl-Radiatoren, die ich für den Gasboykott im nächsten Winter noch angeschafft habe, alles Mondpreise. Wenn so etwas angefangen hat, dann wissen Sie, wie es weitergeht: Stille Post, jeder gibt seine Belastung an den nächsten weiter, alles wird noch teurer und die Gewerkschaften zetern, dass nun aber mal mehr Geld rausgerückt werden müsste und wenn das passiert, gehen die Preise noch mal überall hoch. Und wenn nicht wohl auch, sagt man.
Fehlende Sparmöglichkeiten
Wenn Sie allein leben wie ich, haben Sie aber eben auch kaum Sparmöglichkeiten. Sie können nicht abends durch eine große Wohnung gehen und kontrollieren, dass überall die Heizungen runtergedreht sind, das Licht aus und die Standby-Schalter auf tot. Das ist alles so und es bleibt auch so, bis Sie das selber ändern. Auch mit Gürtelengerschnallen funktioniert es nicht in meinem Fall, ich bin immer schon bekennender Asket gewesen, ein wenig Müsli am Morgen, zu Mittag ein Stück trocken Brot mit Gurke oder Senf, abends dann den Rest vom Graupensüppchen vom Vortag, das reicht mir schon.
Als sparsamer Mensch sind Sie in diesen trüben Tagen gekniffen. Wer nicht auf großem Fuß lebt, findet in seinem Leben kaum Einsparpotenzial. Aber es muss ja, und ich bin schon immer einer gewesen, der gesagt hat, ja, wenn der Staat mich ruft, dann bin ich dabei, denn der Staat, das sind wir doch letztenendes alle, oder nicht? Nun also entlasten wir uns.
Das ist dringend nötig, das sehe ich ja selbst. Das Klima kippt, der Russe marschiert, es ist Unsicherheit überall zu spüren, wie lange wir noch unseren Lebensstandard halten können mit diesem aufwendigen ÖPNV, der in der Stadt oft drei Personen in drei riesigen Waggons umherfährt, mit Buslinien, die mit einem einzigen Passagier kilometerweit durch leere Landschaften gurken. Und so weiter.
Man muss nicht nach Sylt
Die Idee war dann, die Sache ernst zu nehmen. Ich habe mich auf dem Bahnhof bei einer Reisendenlenker:in, eine ganz freundliches Mensch, ausgiebig kundig gemacht. Dieses Neun-Euro-Ticket ist nicht nur für Fahrten nach Sylt und man muss auch gar nicht wirklich unbedingt nach Sylt fahren. Ich hätte daran gar kein Interesse gehabt, das war mir wichtig, dass ich das vorher kläre. Aber! Man kann unbegrenzt mit der Fahrkarte unterwegs sein, tagsüber, nachts, in alle Richtungen, in die irgendetwas fährt.
Da war es dann für mich entschieden. Ich habe meine Dinge geordnet, die Wohnung noch mal richtig durchgewischt, mein privaten Sachen in die beiden großen Schränke hinten in der kleinen Abstellkammer gepackt und mein Zuhause dann mit ein paar schönen Bildern im Netz angeboten. Stichwort Zwischenmiete Neun Euro / Traumquartier Elbflorenz. Nach zwei Stunden hatte ich meinen Mieter gefunden, eine Kanadier, der über den Sommer hier cultural studies betreiben wird, die Seele des Sachsen, schrieb er, die habe es ihm angetan.
Aufbruch ins Ungewisse
Gestern Abend haben wir schon Schlüsselübergabe gemacht, ich musste heute früh raus, habe deshalb eine Nacht in der Jugendherberge am Bahnhof übernachtet, auch, um zu testen, wie es mir geht, so ohne Basis, als temporär Wohnungsloser. Es sind nur drei Monate und noch dazu die schönsten, dessen bin ich mir bewusst. Aber ob die Idee wirklich aufgeht, die Miete wegen der Inflation ganz einzusparen, indem man die Wohnung aufgibt und das Neun-Euro-Ticket nutzt, wenigstens die nächsten zwölf Wochen in Nahverkehrszügen zu leben, muss ich erst sehen. Ich habe nur kleines Gepäck dabei, ein Nackenkissen, eine dünne Decke, ein Hüttenschlafsack, Zahnbürste, Wechsel-T-Shirt, Schlafmaske.
Heute Morgen ging es los Richtung Norden, zweimal umsteigen, dann war ich schon in Mecklenburg, relativ ausgeschlafen und neugierig auf den nächsten Anschluss. Ich bin vielleicht im Augenblick noch der erste Neun-Euro-Vagabund, aber ich bleibe bestimmt nicht der einzige. Rechnen Sie doch selbst nach, was Sie sparen, wenn Sie drei Monate nur 27 Euro für die Miete ausgeben!
Das klingelt richtig in der Kasse. Und bezahlen tun es die anderen, die Neun-Euro-Zweifler, die ÖPNV-Verweigerer, die SUV-Fahrer*innen und Dauerkartenboykottierer. Ich muss gestehen, zusätzlich zum Gefühl, das Richtige zu tun, für unser Gemeinwesen, für uns alle, für das Klima und gegen den Krieg, gibt mir der Gedanke Kraft, dass die Richtigen dafür zur Rechnung gebeten werden.
Sie fahren nicht häufig, fragte das Mirgegenüber einen älteren Herren.
AntwortenLöschenSehr wenig.
Sie hätten vorher recherchieren müssen, dann hätte sie der Monat nur 9 Euro gekostet.
Ja.
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So sind sie, die nordischen Indianer. Erst mal überlegen, ob der Streß einer Recherche den Aufwand lohnt.
Die UBB gen Swinemünde war knackrammelprall gefüllt, wie Lindners Geldsack.
9-Euro-Ticket lohnt sich. Als Bonus mußte ich mir die Kurtaxe abzocken lassen, die aber gleich Busfahrkarte ist. Bus kostet also auch nix.
Ich mache es mir erst mal am Meer gemütlich. Sehr lange.
du glücklicher! herbst am meer, das hat was
AntwortenLöschenEs ist Frühjahr.
LöschenAlle die mit dem 9-Euro-Ticket real in einen Zug einsteigen, haben doch die Intension dahinter nicht richtig verstanden. Alle sollen das Ticket kaufen, damit unsere Regierung voller Stolz verkünden kann, dass ihre Idee ein allumfassender Erfolg ist.
AntwortenLöschenDie Käufer sollen doch aber bitte nicht wirklich in einen Zug fahren. In den Sommerferien zum reinen Vergnügen schon zweimal nicht. Die Züge waren doch auf den Hauptstrecken schon vorher überfüllt und auf den Nebenstrecken will sowieso keiner mitfahren, egal was es kostet. Das
9-Euro-Ticket sollte daher auch ursprünglich 9-Euro-Bahnretterweltklimaspende heißen und ein äußerst günstiges Notopfer der ganzen Nation für die immerwährend unterfinanzierte Bahn sein. Leider war der alte Name zu sperrig für moderne Social Media Kampagnen. So wurde das ganze leider falsch kommuniziert und jetzt haben wir den Salat.
Toll, wenn man ausgerechnet jene, die ohnehin kaum ihre Rechnungen begleichen können, mit vermeintlichen Billigfahrscheinen in Urlaube lockt, die ihnen immense Zusatzkosten aufbürden. Der 9€-Segen wirkt nämlich nur von Bahnhof zu Bahnhof. Alles andere will extra bezahlt werden. Das sind vor Ort dann zuerst Kost und Logis. Dazu summieren sich weitere teure Verlockungen.
AntwortenLöschenDen Armen, die es sich eigentlich gar nicht leisten können, wird etwas suggeriert, was ihre Finanzkraft übersteigt. Was folgt? Weitere Schulden! Zum Glück hat man die Privatinsolvenz erfunden, um Leute zu verführen, weit über ihre Verhältnisse zu leben. Der Urgedanke mag schuldnerfreundlich gewesen sein, real verschlechtert er für wenige schöne Tage aber weitere Jahre monetär.
Wer also profitiert vom 9-Euro-Ticket? Die Bahn? Der ohne nicht besuchte Urlaubsort? Oder primär die Abzocker-Politik, die sich damit scheinzufriedene Weiter-so-Bürger kauft?
Wer auf solch ein Ticket angewiesen ist, der sollte kleinere Brötchen backen als auf den zweiten Blick kostspielige Deutschlandreisen. Für jugendliche Mittelstands-Backpacker vielleicht interessant, für Habenichtse und Minirentner statt Erlebnissegen aber wohl eher Kostenfallenfluch, denn abgerechnet wird erst am Schluss der Tour.
Reiselust ist nach langer Coronapause zu verstehen, aber wollen wir nicht auch unbedingt das Klima schützen? Wie aber passt mehr reisen zu weniger CO²-Ausstoß? Ob wir uns je zwischen rettender Vernunft und bedrohendem Gefühl entscheiden werden? Werden wir das zeitig schaffen, oder läuft der habgierige Massenmensch genusssüchtig in seinen Untergang durch extremer werdende Naturkatastrophen?
Meinetwegen können die Preise für Überfluss-Schnickschnack explodieren, die Verteuerungen der Elementarbedürfnisse halte ich jedoch für schwerkriminell. Warum aber sollte ein steuerlich davon profitierender Abzocker-Staat das vermeiden? Er raubt es doch nur dem einen, um es dem anderen zu schenken. Alle zahlen irgendwie drauf und scheinen dennoch damit zufrieden zu sein, wie die Wahlen und Umfragen immer wieder beweisen! Und so lange die Mehrheit das Weiter-so ankreuzt ist jede Kritik vergebens.,
frühjahr also
AntwortenLöschenwomöglich bald sommer
AntwortenLöschenInteressant, dass Frühjahr und womöglich bald Sommer ist. Da muss man erstmal drauf kommen.
AntwortenLöschenEs ist aber so. Das Wetter ist so eine Mischung aus wohfühliger Endfrühling mit Einsprengseln vom April, unter Zuhilfenahme des Frühherbstes, dem Anschein nach Sommer, so man den strahlend blauen Himmel und die vielenn kurzbehosten Menschen in die Gesamtwürdigung einbezieht. Wetter kommm ist nicht wirklich hilfreich.
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