Es ist Monat 22 mitten in der "größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg", als Janosch Dahmen mitten im Ersten deutschen Fernsehen das Unerhörte ausspricht. Man müsse jetzt "die Gesundheitsämter fit machen", sagt der Grünen-Politiker, denn die schafften es einfach nicht, realistische, verlässliche Zahlen über die Situation an der Infektionsfront im Land dorthin zu melden, wo das Lagebild für die Entscheidungsträger bei Bundes- und Landesregierungen erstellt werde. Deren ganzes Agieren ist ein Marsch durch dichten Nebel, im zweiten Jahr bereits. Was die deutsche Politik wissen muss, holt sie sich in der Regel von der Internetseite der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität. Auch das Robert-Koch-Institut liefert Zahlensalat, ebenso das Bundesgesundheitsministerium.
Die Strategie der Schätzwerte
Doch immer handelt es sich um "Schätzwerte", wie der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bemerkt hat. Das stimmt alles auf jeden Fall überhaupt nicht, ist aber in jedem Fall das, was da ist. Das "reichste Land der Welt" (ZDF) torkelt durch die Pandemie, als werde der Staat von "Corona-Leugnern" (DPA) geführt oder als läge niemandem etwas daran, genau zu wissen, was Sache ist, weil sich mit Ungewissheit am besten Angst und mit Angst am besten Gehorsam erzeugen lässt.
Die Kraft reicht nicht, etwas zu ändern. Wie all die Jahre zwischen 2013, als im Bundestag eines "Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz" mit verheerenden Ergebnissen vorgestellt wurde und anschließend nichts passierte, geschah auch nach dem Beginn dessen, was in der Risikoanalyse noch „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ genannt worden war, kaum etwas. Die letzte Merkel-Regierung verwaltete die Ankunft des Erregers wie fünf Jahre zuvor die Ankunft einer Million Zuwanderer. Ein bisschen Streit, ein bisschen Verwaltungskram, ein paar Termine mit der EU und die eine oder andere Symbolhandlung. Erledigt.
Wegdämmern der Dringlichkeit
Im Wegdämmern der Kanzlerin dämmerte auch jede Dringlichkeit hinfort, irgendetwas zu tun, um wenigstens zu wissen, womit man es zu tun hat. Als die "vierte Welle" (Lauterbach) begann, wussten deutsche Ämter und Behörden, dass sie wohl von der Omikron-Variante bestimmt sein würde. Wie aber, wie schnell, wo und wen, das blieb mangels flächendeckender Sequenzierungen ein Ratespiel.
Die Neuen in den Ministerien lernten als Erstes, wie einfach und bequem es ist, kein Ziel zu erreichen, sondern schlicht zu behaupten, man habe es erreicht. Mit großem Aplomb hatte Neukanzler Olaf Scholz noch vor seinem Amtsantritt 30 Millionen Impfungen bis Weihnachten versprochen. Selbst die Verlängerung des Zeitraumes auf bis Jahresende langte dann aber nicht, dieses Ziel zu erreichen oder auch nur in seine Nähe zu kommen. So behalf man sich mit ein paar Rechentricks, etwas Rückwirkung und der Solidarität der Medien - und verkündete einfach nach nicht einmal 21 Millionen Impfungen, man habe jetzt 30 Millionen geimpft.
Kollision der Zahlen
Dass das mit der Gesamtzahl kollidiert, die nun bei 80 Millionen stehen müsste, offiziell aber bei knapp über 71 Millionen stagniert, macht nichts, denn das will gar keiner bemerken. Ist doch gut, wenn niemand etwas wirklich genau weiß. Wie viele Geimpft und warum nicht, wer auf den Intensivstationen liegt und wo deren Betten hinverschwunden sind - man bedient sich aus dem Zahlensalat, wo es passt. Wo es nicht passt, bleibt er unangerührt. Den Grundton aber liefert verlässlich die Klage, das alles müsse nun irgendwann viel digitaler, agiler und realistischer erfasst und verarbeitet werden. Und dazu müsse der Staat, wer denn sonst, endlich einmal auch personell mehr Ressourcen bekommen.
Den Anfang hat die Ampel-Koalition gemacht. Sie leistet sich 17 Ministerien, ein neuer Rekord für Bundesregierungen. In den einzelnen Ressorts arbeiten 37 Staatssekretäre, ein weiterer Rekord. Seit 2019, dem letzten Jahr gewöhnlichen Politikvollzuges im Land, stieg die Zahl der Staatsbediensteten insgesamt von 4,88 Millionen auf 4,97 Millionen. Ein neuer Rekord auch hier, zumindest für dieses Jahrtausend, in dem der damalige Kanzler Gerhard Schröder das Land am Ende mit fast einer halben Millionen weniger Staatsbediensteten geführt hatte. Seit dem er Helmut Kohl abgelöst hat, beschäftigte der Staat nicht mehr so viele Menschen wie heute. Und der Sprung auf den neuen Höchststand gelang innerhalb von nur zehn Jahren: Seit 2010 wurde den Daten des Statistischen Bundesamts zufolge zu jeweils fünf existierenden Stellen eine neue geschaffen.
Stärkung der politischen Verwaltung
Mit klarer Priorisierung: In der Kinderbetreuung kamen 11.000 Stellen hinzu, bei der Polizei etwa 7.000, in der Finanzverwaltung 2.500 und an den Schulen gut 6.000. Der Bereich politische Führung und die zentrale Verwaltung wurden derweil mit 20.000 Neueinstellungen deutlich gestärkt. Sicher auch, dass die Ampel hier weiter nachlegen wird. Der Kampf gegen rechts, die Netzwerküberwachung, schnellere Genehmigungen und flotte Digitalisierung, all das braucht zweifelsfrei größere Behörden mit mehr Mitarbeitern. Und genauso müssten die Pandemieverwaltungen gestärkt werden, das gehe ja so nicht weiter, mit den falschen Zahlen, Schätzwerten und Meldeverzögerungen.
Dass solche Zweifel an der Verlässlichkeit amtlicher Corona-Zahlen und an der Zuverlässigkeit der Arbeit der Gesundheitsämter momentan nicht als Teil einer perfiden rechtsfaschistischen Staatsleugnungsstrategie gilt, sondern als kluge Mahnung, weist den Weg: Ins Nichts.
"Und was lernen wir daraus?"
AntwortenLöschen"Keine Ahnung."
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Immerhin hat er der regierungsamtliche Zahlensalat auf den BILD-Titel geschafft. Dort gibt es vielleicht noch ein paar, die ge-metooed werden müssten.
AntwortenLöschenes ist ja nur gut, wenn man nichts genaues weiß, denn so kann man sich viel freier zwischen verschiedenen handlungsoptionen entscheiden
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