Freitag, 20. August 2021

Olafs Übermut: Komplize des Klassenfeindes

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kapitalismus.

N
irgendwo sonst als in Deutschland hat Friedrich Engels so tiefe Spuren hinterlassen mit seiner Verdammung der Kapitalmärkte. Seit der klassische Vordenker des späteren Kommunismus Kapitalanleger aller Art zu "Kuponschneidern" erklärt hatte, die auf Kosten anderer vom Nichtstun leben, ist das Ansehen von Investoren hierzulande grundsätzlich das von "Spekulanten", wie sie der frühere SPD-Chef Franz Müntefering stets nannte. Wer Geld  in anderer Leute Ideen steckt, der hat welches übrig, so versichert die ur-sozialdemokratische Logik, die denjenigen nicht ohne die peinliche Frage gehen lässt, wie das denn aber sein kann.  

Komplizen des Klassenfeindes

Aus Schuld wächst Schuld und wer anlegt, wird zum Komplizen des kapitalistischen Klassenfeindes. Engels' Kollege Karl Marx verstand Kapital als Wert, der sich verwertet, indem er wächst, wenn  er Lohnarbeiter ausbeutet. Für die deutsche Sozialdemokratie stand deshalb mehr als hundert Jahre lang im Mittelpunkt aller Bemühungen um soziale Gerechtigkeit im Alter, jede regulatorische oder organisatorische Maßnahme zu vermeiden, die ganz gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger in näheren Kontakt mit dem Kapitalmarkt hätte bringen können. Die Rente, sie war auch so sicher, zwar in unbekannter Höhe und mit unklarem Zeithorizont. Aber wenigstens, ohne dass der deutsche Wählende, der seinerzeit noch als "Wähler" bezeichnet wurde, vom Blut der globalistischen Heuschrecken trinkt.

War es nun Fahrlässigkeit? War es Übermut angesichts der vielversprechenden Umfrageergebnisse? War es ein gedankenloser Rückfall des KanzlerInnenkandidaten der SPD in seine Cum-Ex-Figur? Olaf Scholz jedenfalls, von seiner strikt linken Parteiführung als moderater Konsenskandidat installiert, um Stimmen in der Mitte eines Wählerpotenzials abzufischen, dem beim Gedanken an eine kompletten Verstaatlichung der Wirtschaft unwohl wird, hat es getan: In einem Interview mit „Business Insider“ riet der Sozialdemokrat Bürgerinnen und Bürgern dazu, Geld in den Kapitalmarkt zu stecken. Er jedenfalls rate "jedem und jeder, zusätzlich etwas für das Alter zu tun“, sagte der Kanzlerkandidat. Dazu gehöre es aus seiner Sicht, "in Aktien zu investieren - das sollte man machen."

Olafs offener Verrat

Aus Sicht der deutschen Arbeiterbewegung, der der Kapitalismus im derzeitigen Stadium als das parasitäre, faulende und sterbende Zeitalter des Imperialismus gilt, kommt Scholzens Aufruf einem offenen Verrat gleich. Das linke Glaubensbekenntnis ruht auf der Erkenntnis, dass "nur der Staat kann, was nur der Staat kann" (Franz Müntefering), so etwa, die Hälfte allen Erwerbseinkommens seiner Bürger*/-Innen für sich zu reklamieren - immerhin fünfmal mehr als die katholische Kirche mit ihrem Zehnten in ihrer Blütezeit abzuzapfen schaffte.

Eine beeindruckende Leistung, die angesichts der Vermögensverteilung in Europa, der selbst von den langjährigen Regierungsparteien unisono beklagten maroden Infrastruktur, der überall sichtbaren Rückstände bei der Adaption neuer Technologien und der Jahr für Jahr wachsenden Armut weiter Bevölkerungsteile allerdings Fragen aufwirft. Wo verschwindet das ganze Geld eigentlich? Und wenn es nicht weg ist, wer hat es dann? Wieso war es die norwegische Arbeiterpartei, die 2006 einen Staatsfond gründete, der für jede Norwegerin und jeden Norwegerin bis heute 217.000 Dollar in Aktien angespart hat? Und nicht die deutsche Sozialdemokratie? Die damit verantwortlich dafür ist, dass jeder einzelne Norweger im ersten Quartal des Jahres mehr Vermögenszuwachs aus seinen Fondsanteilen erzielte als seine deutschen Nachbarn mühsam mit ihrer Hände Arbeit zusammenstoppelten?

Die Brandmauer zum Aktienkapitalismus

Auf rund 2.500 Dollar im Monat belief sich das passive Einkommen jedes norwegischen Bürgers aus dem Wertzuwachs des  Oljefondet genannten staatlichen Pensionsfonds zuletzt - während der Spitzenkandidat der deutschen Sozialdemokratie seinen Wählerinnen und Wählern eine sofortige Erhöhung der Mindestlöhne um 2,40 Euro versprach. War das noch eine klare Klassenposition, zeigt Scholz' Spekulationsaufruf nun, dass der Ruf der SPD als Verräterpartei nicht unverdient ist. Hatten sich SPD-AnhängerInnen eben noch darauf verlassen können, dass ihre Partei im Schulterschluss mit der Linken nicht zögern wird, die Heuschrecken, Spekulanten und Manager schnellstmöglich zu enteignen, blinkt Olaf Scholz nun plötzlich rechts, indem er bei den Schutzbefohlenen Ängste schürt, die von der deutschen Arbeiterbewegung so hart erkämpfte staatliche Rente könnte wie schon zweimal in der Geschichte nicht mehr ausreichen, den gewohnten Lebensstandard beizubehalten.

Unverantwortlich für einen KanzlerInnenkandidaten, auch wenn er  derzeit auf einer Erfolgswelle schwimmt. Konnten sich die Menschen bisher darauf verlassen, dass es immer weiter heißen würde "länger arbeiten, mehr Beiträge zahlen, weniger rausbekommen" (MDR), weil die SPD den Staat als Rentengaranten für unersetzlich erklärt hatte, verwirrt Scholz' radikaler Meinungsumschwung nun Millionen. Wenn Scholz Vorschläge macht, wie sie bisher von Friedrich Merz kamen, wie falsch sind sie dann? Was ist aus dem sozialdemokratischen Versprechen geworden, dass der verlassen sei, der sich auf die Aktienmärkte verlasse? Und wer jetzt noch Aktien kaufen will, wie viele Jahre zu spät kommt der?

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