Sonntag, 8. August 2021

Keiner macht Karriere: Die Stunde des Niemand

Eine Graswurzel-Kampagne ruft überall nach Keiner.

Acht Monate nur hat es gedauert, nicht einmal ganz, und schon ist auch den führenden deutschen Medien "klar, wen die Deutschen als Kanzler wollen" (Die Welt). Überall macht er plötzlich Karriere, der eine Kandidat, den das Bundestagswahlkampfbeobachtungsboard PPQ bereit im Januar zum kaum schlagbaren Favoriten ausgerufen hatte: Herr Keiner, ein Mann ohne Gesicht, der ebensogut eine Frau sein könnte oder irgendetwas Drittes, mitten im parlamentarischen Sommerloch ist er plötzlich überall. Von der Neuen Westfälischen bis zur Welt, vom RND im beschaulichen Hannover bis zur Focus in München, deprimiert vermerken die professionellen Diagnostiker der Stimmungslage der Nation, das wohl nicht Laschet und nicht Baerbock und auch nicht Scholz gewinnen wird. Sondern eben jener Keiner, den eigentlich keiner kennt.

Küche, Herd und Volkspartei

Könnte es noch schlimmer kommen? Drei noch amtierende, aufstrebende oder immerhin lange gewesene Volksparteien haben alles aufgeboten, was Küche und Herd hergeben. Und die Kundschaft schleicht uninteressiert vorüber wie die Publikum am Ende eines multibunten food festival, wenn die Bäuche vollgeschlagen und der Heißhunger vom Appetit auf einen üppigen Nachtisch in einen offensiven Überdruss umgeschlagen ist, der nie wieder, wirklich niemals wieder etwas essen wollen will. Scholz, Laschet und - als Frau immer zu erst zu nennen - Annalena Baerbock mögen alle ihre Stärken haben. 

Doch verglichen mit dem großen Unsichtbaren, der kein Programm vorlegt, keine Pläne zum gesellschaftlichen Umbau von Grund auf veröffentlicht hat und bislang auch nie erkennen ließ, dass er das hohe Amt überhaupt anzutreten gedenkt, verblasst die Geschmeidigkeit des Rheinländers ebenso wie besitzergreifende Griffigkeit der Frau aus Niedersachsen und das norddeutsche Mittendrin-aber-nie-dabei des bei der Wahl zum SPD-Vorsitz schon einmal durchgefallenen Sozialdemokraten.

Keiner hat nichts, aber kein Charisma haben die anderen auch, niemand traut ihm etwas zu, das aber wird er liefern und das ist mehr, als bei der Konkurrenz sicher ist. Bis heute kennt von Keiner nicht einmal jemand den Vornamen. Und doch ist Keiner der Kandidat, dem nicht nur die Frauen vertrauen, gerade jetzt. Anfang des Jahres, als Markus Söder die euphorischen Momente der unaufhaltsam nahenden Amtsübernahme auskostete wie eine blutjunge Honigbiene das Mana am Boden eines beinahe ausgeschleckten Blaubeer-Eisbechers, gelang ihm der Sprung ganz nach vorn, ohne ein Interview, ohne ein zusammengefaktes Buch, ohne Will und Illner, Tagesschau und Morgenmagazin, Spiegel, Bild und Internet. 

Bei dem Mann, der auch eine Frau sein kann, so schrieb PPQ schon im Januar, gibt es kein Vielversprechen, kein Wolkigreden, kein Allenalleszusagen - bei Keiner findet sich davon nicht einmal das Gegenteil. Es fehlt die beliebte Ankündigung harter Zeiten im Dienst des Klima, enger Gürtel für die Gerechtigkeit und einer Zukunft, die nur durch eine kollektive Kraftanstrengung, dann aber sicher gerettet werden kann. Eine große Zahl Menschen scheint diese schweigsame Ehrlichkeit zu mögen. Sie alle haben Keiner ebenso stillschweigend zum Konsenskandidaten der Republik gemacht.

Keiner wird gewinnen

Keine Frau, die auch ein Mann sein kann oder jemand ganz anderes, mit dem man rechnen muss.  Keiner ist der - acht Monate nach PPQ keineswegs mehr geheime - Favorit auf die nächste Kanzlerschaft, weil

die Deutschen "mit ihren Wahlmöglichkeiten hadern" (RND) und "zwei Kandidaten das Format für das Kanzleramt fehlt und dem anderen die Partei" (RND). Keiner hat gar keine, aber nicht Scholz, Laschet oder Baerbock zu sein, wobei die Frau immer zuerst genannt werden muss, nicht nur, weil sie mit ihrem Platz drei beinahe am beliebtesten ist, reicht völlig aus. "Viele Deutsche würden gern auf Armin Laschet, Annalena Baerbock und die SPD verzichten", schreibt die Wirtschaftswoche, aber "wohin mit dem Kreuz?"

Es ist die Stunde des Niemand, die des Kanzlers aus der Kiste, der nicht nur ohne Plakate, sondern ohne Gesicht ins den Wahlkampf zieht. Und die versammelte Konkurrenz lippenlos lächelnd aus dem Feld schlägt: 20 Prozent der letzten Umfrage zum Thema gaben an, Olaf Scholz als künftigen Kanzler zu präferieren, NRW-Ministerpräsident Laschet würden 15 Prozent wählen, 13 Prozent Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Auch zusammen hätten die drei namentlich bekannten Kandidaten keine eigene Mehrheit - ganz im Gegensatz zu Keiner, der nicht einmal mit einem der anderen koalieren müsste.

1 Kommentar:

  1. Das Weltrettervolk bekommt doch nur serviert, was charakterlich optimal zu ihm passt: Nullen.

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