Gemeinsam gelebte Bunkermentalität: Merkel und Löw prägten eine Ära. |
Als es endlich vorüber ist, vom Mann auf der Bank erlebt wie gelähmt, beginnen die Rituale. ARD-Moderatorin Jessy Wellmer steht am Spielfeldrand des Wembley-Stadions, das erfüllt ist von den Delta-Aerosolen der 43.000 begeisterten Engländern. Sie hält sicheren Abstand zu Bundestrainer Joachim Löw, der nach dem 0:2 verlorenen Achtelfinalspiel der Europameisterschaft im Männerfußball nun nur noch seine schwerste Mission zu erledigen hat: Wie erkläre ich einer enttäuschten Nation, dass trotzdem alles richtig war? Vieles? Oder immerhin genug?
Katastrophe als Betriebsunfall
Löw zieht Luft, wie nur er es kann. Er ordnet ein und schildert die sich seit Monaten, ja, Jahren anbahnende Katastrophe als Betriebsunfall. Hätte der Müller. Hätte der Werner. Wellmer, nach deutscher Fußball-Berichterstattungstradition begleitet von Bastian Schweinsteiger, einem früheren "Schützling" Löws, fragt fröhlich nach. "Also Ende gut, alles gut?" Joachim Löw ist für einem Moment nun doch konsterniert. Ende gut? Alles gut?
Dieses Finale des Finales der Ära Löw passt wie gemalt zur Laufbahn des Fußballlehrers, der seinerzeit auf den Disruptor und Revolutionär Jürgen Klinsmann folgte wie auf dem politischen Spielfeld die bräsige, behäbige Angela Merkel auf ihren reformverliebten Vorgänger Gerhard Schröder. Wie Merkel übernahm Löw ein bestelltes Feld, auf dem er Jahr um Jahr erntete. Noch acht Jahre später, als Löw mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien sein Lebenswerk krönte, standen drei Spieler aus der Klinsmann-Ära auf dem Platz.
Mit der Erfindung von "Die Mannschaft" hob Löw ab. |
Auf Gedeih und Verderb
Die besten Voraussetzungen, eine gesunde Bunkermentalität zu entwickeln. Wie Merkel 2011 mit dem über Nacht beschlossenen Atomausstieg ohne jeden Plan, wie die Energieversorgung des Landes dauerhaft, stabil, bezahlbar und klimagerecht sichergestellt werden soll, stolperte auch der gern "Jogi" genannte Bundestrainer in die zweite Hälfte seiner Amtszeit. Der Weltmeister-Titel hinterließ einen Kater, dem Fußballlehrer der Nation aber fiel nun nur ein Ausstieg aus der deutschen Art des Spieles ein. So lähmend langweilig wie Spanien wollte er künftig zaubern lassen. Immer den Ball haben, "zirkulieren" (Löw) sollte der, bis der Gegner aufgab.
Löw nahm sich einen Sprechlehrer. Er zog in Interviews kaum noch Nebenluft. Bei der Europameisterschaft in Frankreich ging es im Halbfinale nach Hause, aber Löw versicherte, so viel habe nicht gefehlt. Die inzwischen in "Die Mannschaft" umbenannte Truppe hatte den Systemfußball für sich entdeckt - und schneidig sah sie auch wieder aus, als sie nach Russland aufbrach, um ihren Weltmeistertitel zu verteidigen. Es wurde ein Desaster, das ebenso ohne jede Konsequenz blieb wie Angela Merkels Energieausstieg, ihr Flüchtlingssommer oder ihre Entscheidung, die EU im Sinne des Hades-Planes ganz ernsthaft zu einer Schuldenunion weiterzuentwickeln.
Im Bunker der Bequemlichkeit
Im Bunker der Bequemlichkeit eines Postens, der keine Regulativer mehr kennt, war der innerlich seit Jahrzehnten vermoderte DFB ebenso froh, Löw zu haben, wie die CDU sich glücklich schätzte, die Kanzlerinnenpartei zu sein. Wenn nichts im Laden ist, macht ein tolles Schaufenster umso mehr her. Niemand anderes als die Amtsinhaber bestimmten, dass sie weitermachen würden - Merkel wegen Trump, sie musste die Welt retten. Löw, weil er so nicht abtreten wollte, mit einem letzten lausigen Spiel in einer Vorrunde.
Quälend langsam schleppten sich die beiden Protagonisten der eingebildeten Weltmacht von da an über die letzte Strecke ihrer Karrieren. Löw verlor, er reformierte zaghaft, er verlor und zog die Reformen zurück. Merkel ging vom Regieren zum Verwalten über, wo die Säge klemmte, wurde mit Geld geschmiert. Als die Pandemie kam, wechselte die Kanzlerin auch sichtbar ins Home Office: Angela Merkel hielt sich nun dauerhaft fern vom Volk, ihr Lebensraum war der Kanzlerbunker, den sie nur verließ, um gelegentliche Gipfel zu absolvieren oder aber, in Stunden der höchsten Erklärungsnot, in einer Talkshow darzulegen, dass Taktik und Aufstellung sehr wohl hervorragend seien, es aber doch noch ein Stück Geduld brauche, bis die Ergebnisse auf der Anzeigetafel zu sehen sein würden.
Textbausteine aus dem Spruchbeutel
Textbausteine, wie sie Joachim Löw bei Bedarf identisch aus seinem Spruchbeutel zog. Wenn er dies tat, war das richtig. Tat er das Gegenteil, war es das auch. Dass er in Interviews wieder mehr Nebenluft zog, deuteten Löw-Aficionados als Zeichen dafür, dass der Bundestrainer die Phase der bemühten Künstlichkeit, der Sehnsucht nach dem spanischen Spiel und dem Betteln um Anerkennung hinter sich gelassen habe. Er sei jetzt wieder er selbst, ein in sich ruhender Pol wie Merkel, frei durch völlige Unabhängigkeit von der umgebenden Wirklichkeit.
Auf dem Platz sah es so aus. Vom Versuch, spanisch zu spielen, wechselte Joachim Löw zu einer Taktik, die für niemanden mehr erkennbar war. Systemfußball ohne System, später aber dann mit den Rückkehrern Thomas Müller und Mats Hummels, die beiden Spieler, die Löw symbolisch geopfert hatte, um ein Signal für den ausgerufenen Neuaufbau zu setzen. Löw war nun so lange im Dienst, dass er wirklich glaubte, die Fans liebten ihn und nicht die Männer auf dem Platz. So wie Merkel sich selbst davon überzeugt hatte, dass es ihre erratischen Ein- und Ausstiegsentscheidungen waren, die die Deutschen so lieben. Nicht der Wohlstand, der sich Schröders Reformen und der Entwicklung der Weltwirtschaft verdankt.
Marketingpaket Mannschaft
Schnurstracks marschierte das vom Sportdirektor Oliver Bierhoff stromlinienförmig zugeschnittene Marketingpaket "Mannschaft" beim Pandemieturnier zur Delta-Verbreitung ins nächste Desaster. Selbstbild und Fremdbild fielen auseinander wie zuletzt in der DDR, deren Führung noch in der Überzeugung starb, die Arbeiter- und Bauernrepublik sei das zehntgrößte Industrieland der Welt. Für Löw und das ihn umgebende Milieu aus Medienarbeitern, alle Duzfreunde, alle abhängig vom Erfolg des Bundestrainers, waren nach der Vorrundenniederlage gegen Frankreich Petitessen wichtig. Kimmich in die Mitte? Goretzka hinter die Spitzen? Der Sieg gegen Portugal schien die Weichen gestellt zu haben zu einer Rückkehr zu alten Stärken. Mit dem Remis gegen Ungarn rettete Löw seinen Kopf. Nur um im Achtelfinale sang- und klanglos an England zu scheitern.
Dabei hatten sie doch alles versucht. Regenbogenbinde, Regenbogenlicht. Knien für Floyd George. Keine Diskussion mehr ums Mitsingen der Hymne. Fußballnationalismus ohne Nation und Arroganz ohne innere Überzeugung. Wie katatonisch erlebt der Joachim Löw die letzten Momente seiner Amtszeit: Als seine Elf in Rückstand gerät, reagiert er gar nicht, es dauert und dauert, ehe er frische Leute bringt, um wenigstens so zu tun, als wolle er alles tun. Einer der Eingewechselten ist dann eine Defensivkraft, die vermutlich den Rückstand in Grenzen halten soll, die letzten paar Minuten. Eine andere kommt 90 Sekunden vor Abpfiff, das nimmt noch mal wertvolle Zeit von der Uhr.
Als Jessy Wellmer Löw Minuten später nicht etwa danach fragt, sondern nach seinen Gefühlen, "Ende gut, alles gut", schaut der Gescheiterte irritiert. Selbst Joachim Löw hatte angesichts der historischen Pleite wohl Prügel erwartet, ein Scherbengericht, irgendeine Art Abrechnung.